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© Uwe Steinert

Winter: Herrn Winklers feines Gespür für Eis

In Berlin gibt es viele Hauswarte, die dem Dauerfrost zu Leibe rücken. Gerhard Winkler ist einer von ihnen. Mit einem soliden Spaten, eisernem Willen und viel Geduld kämpft er gegen das Glättechaos.

Eigentlich wollte er nur den Hydranten vom Eis befreien. Doch einmal bei der Arbeit, kann Gerhard Winkler nicht gleich wieder aufhören. Erst eine Furt durch den vergletscherten Bürgersteig gebrochen, danach noch zwei Kanäle zum Schmelzwasserablauf. Der neu erstandene Spaten (kurzer Stiel, breiter Quergriff, Edelstahl) hielt der Wucht seiner Pickelschläge eisern stand.

Jetzt, drei Tage später, muss Gerhard Winkler, Hauswart, Pensionär und Held im Eiskampf, allerdings eine Erkältung auskurieren. Seine prägnante General-de-Gaulle-Nase schnieft in kurzen Abständen.

Die Stadt ist zur gefährlichen Eisbahn erstarrt, aber nicht überall lauert der Beinbruch. In Westend, beiderseits der Reichsstraße, gibt es erstaunlich viele bis aufs Pflaster geputzte Gehwegabschnitte. Und das ist selbstlosen Tatmenschen wie Gerhard Winkler zu verdanken oder dem türkischen Hausmeister, Herrn Ö. aus der Kastanienallee, auf den ein Leser des Tagesspiegels aufmerksam machte. Leider hat Herr Ö. am Dienstagnachmittag für ein Interview keine Zeit – aufräumen, putzen, kochen, „meine Frau muss arbeiten“, und wenn sie nach Hause kommt, soll natürlich alles blitzen, so wie draußen auf dem Bürgersteig vorm Haus.

Gerhard Winkler ist schlaksig, aber zäh und gut in Form für seine 69 Jahre. Das kommt vom vielen Radfahren im Sommer, wenn er sich wieder einen der Fernwege zwischen Berlin und Ostsee vornimmt. Im Winter kümmert er sich ums große Haus mit den vielen Wohnungen und Büros an der Reichsstraße. Seine Hauswartsstelle hat er seit acht Jahren. Er muss die Treppen putzen, den Hausflur sauber halten, Kleinreparaturen erledigen und den Innenhof vom Schnee räumen. Vor dem Haus ist eigentlich die Winterdienstfirma zuständig, aber „die versteckt sich eher“, sagt Winkler. Bevor die Kehrmaschine anrückt, hat er frühmorgens schon mit der Hand geräumt. Sein Motto: „Mit Arbeit kann mich keiner vergraulen.“ Winkler ist Urpreuße aus Oranienburg. Dort schippten die Leute früher wie selbstverständlich vor ihren Häusern, erzählt er. Da gab es so was wie Winterdienst gar nicht.

Das Pickeln mit dem Spaten sei aber schon eine ziemliche Kraftanstrengung, räumt Winkler ein. „Da sollte man sich ablösen.“ Ihn löste niemand ab, also pickelte er am vergangenen Freitag immer weiter, „mehr als drei Stunden“, dann war er durchgeschwitzt, zehn Meter lagen hinter ihm, aber die Hausfront zieht sich noch weiter die Straße entlang und rechts um die Ecke. Das alles muss bis zum nächsten Tauwetter warten.

Das Haus, in dem Winkler weit mehr schuftet, als sein Vertrag ihn verpflichtet, ist rund 100 Jahre alt. Der Flur gleicht einem Theaterfoyer, mit Holzvertäfelung, Stuckfries, Dekorkamin und einem kleinen Innenfenster, hinter dem früher eine Concierge saß und über die Hausbewohner wachte. In der zugehörigen Wohnung mit niedriger Eingangstür lebt jetzt Gerhard Winkler. Das kleine Fenster zum Foyer hat er zugehängt, so direkt möchte er den Mietern dann doch nicht unter die Augen treten.

Wichtiger ist schließlich der Kontrollblick aus dem Wohnstubenfenster aufs Trottoir. Dort kann man beobachten, wie sich die Menschen mit gebeugtem Haupt unsicher vortasten, noch zwei Meter, noch 50 Zentimeter, dann erreichen sie die Grenze zum eisfreien Pflaster, ihre Körper strecken sich, die Beine fliegen weit voraus, die Augen schauen dankbar in die Ferne. „Endlich tut mal einer was“, haben sie Winkler gesagt, als er den Spaten auf den Frostpanzer hieb. Einmal hielt er einem Lobredner den Spaten hin, aber nee, selber aufs Eis einhauen, so weit reichte die Anerkennung dann doch nicht. Thomas Loy

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