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Betreuer. Benjamin Sandhop vom Kinder- und Familienzentrum in der Amendestraße.

© Sophie Krause

Winteranfang: Die einzige Winterstraße Berlins

Im hohen Norden geht's aber so kalt gar nicht zu. Ein Blick auf einen bunten und vielfältigen Kiez.

Wenigstens dem Namen nach herrscht in einer kleinen Reinickendorfer Straße das ganze Jahr über Winter, und zwar mindestens seit 1887. Denn „vor 1887“ datiert das Straßenverzeichnis Kauperts die Benennung der Winterstraße. Dort heißt es: „Sie ist nach dem Winter, einer der vier Jahreszeiten, benannt.“ Und einmal im Jahr ist der Name Programm: am 21. Dezember, dem kalendarischen Winteranfang.

An einem werktäglichen Vormittag herrscht in der Winterstraße vor allem Winterschlaf - verdächtige Stille, lediglich unterbrochen von spielenden Kinder auf dem Hof der Hausotter-Grundschule und vom regelmäßigen Donnern der Flugzeuge von und nach Tegel über den Dächern. Auf einem Balkon befestigt ein Nachbar einen LED-Lichtschlauch, ein kleiner Weihnachtsmann schaut bereits von der Brüstung hinab. Viele Nachbarn haben weihnachtliche Außenbeleuchtung und Dekoration angebracht. Besonders bemüht haben sich die Bewohner eines ockerfarbenen Mehrfamilienhauses: Fast jedes Fenster ist akkurat mit Schwibbogen, Sternen oder Fensterbildern vor weißen Gardinen verziert.

Winterstraßen gibt es etliche in Deutschland, von Norderney bis München, aber laut Kauperts nur eine in Berlin. In ihrer Nachbarschaft führt die Sommerstraße zur Herbststraße, unweit liegt hinter dem S-Bahnhof Schönholz die Frühlingstraße, sie gehört zu Pankow. Entlang der Bahntrasse teilte die Mauer hier früher Ost- und West-Berlin. In Müggelheim hat die Winterstraße einen Namensvetter: den Winterweg.

Menschen aus verschiedenen Kulturen leben auf engstem Raum zusammen

Am Hausotterplatz, der die Winterstraße in zwei Hälften teilt, ist das Gartentor der kleinen, blassgelben Kirche geöffnet. Drinnen geht Bettina Perkiewicz an leeren Stuhlreihen vorbei, neben dem Altar steht ein großer Adventskranz. Die Diakonin arbeitet seit 18 Jahren in der Evangeliumsgemeinde. „Es hat sich viel verändert“, sagt sie. Die Nachfrage nach Angeboten wie dem Kirchenchor und der Tanzgruppe nehme zu, inzwischen habe man sogar ein Raumproblem. „Aber ich find’s toll“, sagt Perkiewicz und lacht. „Lieber eng zusammenrücken.“ Die Nachbarschaft sei „gutbürgerlich“.

Das Besondere an der Winterstraße und der Gegend seien die „Menschen aus verschiedenen Kulturen, die auf engstem Raum zusammenleben“, sagt Hauswart Jürgen Helwig im Vorraum des Kirchsaals. „Friedlich zusammenleben“, schiebt er nach. Als Beispiele nennt er das Lettefest auf dem Letteplatz, den Sankt-Martins-Umzug und das Begegnungsfest zum gemeinsamen Fastenbrechen mit der Koca-Sinan-Moschee. „Man kennt sich hier“, resümiert er. Manchmal treffe sich eine Gruppe direkt vor der Kirche, erzählt Perkiewicz. Direkt vor dem Eingang befinde sich eine Pokémon-Arena für Online-Spieler.

Zwei Straßen entfernt steht Benjamin Sandhop mit einer Kollegin am hinteren Eingang der KreativFabrik. Gleich ist Schulschluss. Das Kinder- und Familienzentrum liegt direkt gegenüber der Grundschule, auf deren Seite sich normalerweise auch der Eingang befindet. Doch da wird gerade gebaut, sagt Sandhop, nun müssten alle Schüler außen herumgehen. Er bittet ins Haus. 30 bis 40 Kinder kämen normalerweise über den Nachmittag verteilt, schätzt er. Montag bis Freitag veranstalten Sandhop und seine Kollegen Nachmittagsangebote. Sie töpfern, machen Musik oder kochen gemeinsam mit den Kindern. Das Angebot ist offen und kostenlos.

Sorge vor Schließung des Flughafens

„Die Gegend ist zum Teil sozial etwas problematisch“, sagt Sandhop betont vorsichtig über den Kiez. Viele Erwachsene und Kinder seien auf staatliche Hilfe angewiesen, Armut sei ein Problem. Bei manchen Kindern herrsche ein rauer Umgangston, es komme zu Beleidigungen und körperlichen Auseinandersetzungen. „Aber nicht bei allen“, sagt er. „Wir sind hier nicht in Neukölln oder im tiefsten Wedding.“ Als das Kinder- und Familienangebot hier 2011 öffnete, sei der Kiez wohl etwas bürgerlicher gewesen, meint Sandhop. Aber auch er beobachtet ein interkulturelles Miteinander aus deutschen, türkischen, arabischen, ost- und südosteuropäischen Nachbarn, das „im Großen und Ganzen sehr bereichernd ist“. Dennoch sorgten sich viele Nachbarn, wie sich der Kiez entwickle, wenn der Flughafen Tegel geschlossen werde.

Viele Reinickendorfer fürchten Mieterhöhungen, wenn der Fluglärm verstummt. Gerade hat die Bezirksverordnetenversammlung für das Gebiet um den Letteplatz, der wenige Gehminuten von der Winterstraße entfernt liegt, den Milieuschutz beschlossen. Die Gegend um den Hausotterplatz werde weiterhin beobachtet, so ein Sprecher des Bezirksamtes. Hier erwarten die Planer mit der Tegel-Schließung einen „besonderen Aufwertungsdruck“.

Die ersten Schüler kommen herein. Ein Mädchen geht schnurstracks auf Sandhop zu und erzählt stolz, ihre Tante habe am vergangenen Abend Zwillinge bekommen, zwei Mädchen. Sandhop freut sich mit ihr. Zwei Jungen bauen ein Spiel auf dem Boden auf. „Beste Kiez, den es gibt“, beschreibt einer der beiden die Gegend. Weil die Leute hier cool seien. „Kiez“ bedeute bei den Kindern so viel wie „Haus“, erklärt Sandhop. Warum das so sei, wisse er auch nicht. Nach und nach drängen sich die Kinder mit ihren dicken Jacken und Schulranzen in die Räume. Für Sandhop geht es jetzt wieder an die Arbeit.

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