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Berlin: „Wir fühlen uns als vergessene Opfer“

Häftlinge des Gulags Workuta erinnern sich in der Gedenkstätte Hohenschönhausen

Es war ein warmer Tag, der 1. August 1953. Was man nördlich des Polarkreises so als warm bezeichnet. Im Lager 29 von Workuta haben sich die Häftlinge versammelt. Sie weigern sich, die Arbeit im Kohlebergwerk wiederaufzunehmen. Die Drohung der Soldaten, das Feuer zu eröffnen, ignorieren sie. Ein Ukrainer reißt sich das Hemd auf und spricht einen sowjetischen Geheimdienst- Offizier an: „Dann schieß doch.“

Wenig später liegen 64 Häftlinge tot am Boden. Etliche sind im Straflager von Workuta an den nördlichen Ausläufern des Ural, der „Heimat des Teufels“, wie die Russen sagen, ist niedergeschlagen.

50 Jahre sind seitdem vergangen – Anlass für Horst Schüler und seine Kameraden von der „Lagergemeinschaft Workuta/Gulag/Sowjetunion“, an die tragischen Ereignisse zu erinnern. Bisher sei das vernachlässigt worden. „Wir fühlen uns als die vergessenen Opfer.“ Morgen wird in der Gedenkstätte Hohenschönhausen an der Genslerstraße beim nicht öffentlichen Jahrestreffen der rund 100 „Workutaner“ ein erst kürzlich in Russland entdeckter Film zu den Lagern in Workuta gezeigt. Außerdem diskutieren Wissenschaftler und Zeitzeugen neue Erkenntnisse zur „ersten größeren Gefangenenerhebung im sowjetischen Machtbereich“.

In die Lager bei Workuta wurden nach dem Krieg hunderttausende Menschen aus der gesamten Sowjetunion und Osteuropa verschleppt – darunter zwischen 20 000 und 25 000 Deutsche. Die Häftlinge mussten unter Tage Kohle abbauen oder – bei eisigen Temperaturen von teilweise minus 50 Grad – Baracken und Eisenbahnlinien bauen. Nach dem Tod Stalins im Frühjahr 1953 hofften die Gefangenen auf bessere Lebensbedingungen. Als sich nichts änderte, brach ein Streik aus, der im Lageraufstand gipfelte.

Horst Schüler verbrachte vier Jahre im Lager 29. Er hatte in Potsdam Artikel für „West-Zeitungen“ geschrieben und galt als Spion. Dass er die harte Arbeit überlebte, wundert ihn noch heute. Täglich zehn Stunden im Bergwerk, dann das Vegetieren in engen Baracken, das Hungern. „Zu essen gab es nur einen Kanten Brot, Wassersuppe und eine Art Maisbrei.“ Zu den schlimmsten Sanktionen gehörte das Briefverbot. Schülers Frau wusste bis 1954 nicht, was aus ihm geworden war.

Die politischen Häftlinge aus Deutschland waren über die verschiedenen Lager verteilt, stellten also überall nur eine kleine Minderheit, erzählt Schüler. „Wir wurden gar nicht ernst genommen.“ Vom Volksaufstand in der DDR wussten sie allerdings als erste.

Kurz nach dem 17. Juni waren neue Häftlinge aus Deutschland angekommen. Um auf ihre Lage aufmerksam zu machen, breiteten die Streikenden große Transparente im Lager aus. „Wir dachten, amerikanische Flugzeuge würden über dem sowjetischen Luftraum kreisen und uns sehen.“ Doch auf amerikanische Hilfe warteten sie vergebens.

Nach dem Aufstand besserten sich die Bedingungen im Lager überraschend. Die Fenstergitter an den Baracken wurden entfernt. Die Häftlinge durften endlich Briefe schreiben und Pakete erhalten.

Horst Schüler und viele seiner Kameraden kamen 1955 frei – nach dem Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau.

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