zum Hauptinhalt

Berlin: „Wir wollen Industriemetropole sein“ Arbeitgeber und Gewerkschaften fordern von Senator Wolf mehr Engagement für die Industrie

Selten waren sich Gewerkschaften und Arbeitgeber so einig: Innerhalb weniger Tage übten sie unabhängig voneinander scharfe Kritik an der Industriepolitik des Senats. Zunächst meldeten sich DGB und IG Metall zu Wort: Die Politik habe die Industrie in der Stadt „abgeschrieben“ und setze viel zu sehr auf Dienstleistungen.

Selten waren sich Gewerkschaften und Arbeitgeber so einig: Innerhalb weniger Tage übten sie unabhängig voneinander scharfe Kritik an der Industriepolitik des Senats. Zunächst meldeten sich DGB und IG Metall zu Wort: Die Politik habe die Industrie in der Stadt „abgeschrieben“ und setze viel zu sehr auf Dienstleistungen. Wenig später äußerten sich die Unternehmerverbände: Die Einstellung führender Politiker zur Industrie sei „Besorgnis erregend“ – dabei sei dieser Sektor „die wichtigste Stütze der Wirtschaft“. Der Tagesspiegel bat die drei Seiten zum Gespräch: für die Politik Wirtschaftssenator Harald Wolf (PDS), für die Arbeitgeber den Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Unternehmensverbände UVB, Hartmann Kleiner, und für die Gewerkschaften DGBChef Dieter Scholz.

Herr Scholz, was gefällt Ihnen nicht an einer Dienstleistungsmetropole Berlin?

SCHOLZ: Das Leitbild ist falsch. Wir haben über Jahrzehnte gesagt, die Gesellschaft der Zukunft ist eine Dienstleistungsgesellschaft. Das war falsch. Wenn man eine Dienstleistungsstruktur will, dann muss es entsprechende industrielle Voraussetzungen geben. Das setzt aber voraus, dass die Politik das Ziel erkennt. Leider hat sie es in Berlin in vielen Bereichen aus dem Auge verloren.

KLEINER: Wir haben ebenfalls den Eindruck, dass die Politik in den letzten Jahren die Akzente bewusst anders gesetzt hat. Nicht, weil man resigniert hat, sondern weil man sich auf anderen Feldern schnellere und publikumswirksamere Erfolge versprochen hat. Oft wird mehr geredet als getan.

WOLF: Ich teile die Kritik, was die 90er Jahre betrifft, als man in Berlin glaubte, neue Jobs in der Dienstleistungsbranche würden den Verlust von Arbeitsplätzen in der Industrie kompensieren. Dienstleistungen können in der Tat nur da florieren, wo es einen industriellen Kern gibt. Wir haben zurzeit rund 100000 Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe, gleichzeitig gibt es aber 200000 Arbeitsplätze in unternehmensnahen Dienstleistungen, die davon abhängen. Wenn wir also Dienstleistungen haben wollen, müssen wir den industriellen Kern stärken. Ich kann aber die Kritik nicht teilen, dass die Politik nur noch redet und nichts mehr tut.

Was tut der Senat denn konkret für die Industrie in der Stadt?

WOLF: Wir haben die Wirtschaftsförderung neu ausgerichtet und die Investitionsbank als Wirtschaftsförderbank neu aufgestellt. Im Ostteil der Stadt sind 90 Prozent aller industriellen Arbeitsplätze nach 1991 entstanden. Gerade in der Medizintechnik haben wir sehr innovative Unternehmen und gleichzeitig große Nachfrager nach diesen Produkten. Diese Nachfrager und Anbieter in der Region zusammenzubringen, ist ein Beispiel für konkrete Industriepolitik. Und was das Leitbild angeht: Ich will keine Dienstleistungsmetropole ohne Industrie. Mein Leitbild ist, dass wir Wachstum generieren müssen über Innovationen, und das sind vor allem Innovationen im verarbeitenden Gewerbe.

Sind in der Vergangenheit Chancen verpasst worden?

KLEINER: Ich will nicht sagen, dass der Senat bewusst aufs falsche Pferd gesetzt hat. Aber er muss sich wieder verstärkt um die Industrie kümmern. Herr Wolf hat einen wichtigen Hinweis gegeben: Viele Aufgaben, die früher Industriebeschäftigte erledigt haben, werden heute von externen Dienstleistern erfüllt – von Reinigungs- oder Logistikfirmen. Ohne den industriellen Kern können die Dienstleistungen also gar nicht wachsen.

SCHOLZ: Das sehe ich genauso. Es muss ein klares Signal geben: Wir wollen auch Industriemetropole sein. Und das vermisse ich. Das gilt einerseits für den Senat, aber auch für die gesamte Gesellschaft. Industrie gilt immer als alt und unmodern. Wenn sich die Gewerkschaften und die Arbeitgeber für Industrie stark machen, wird uns unterstellt, wir wollten ein Stahlwerk auf dem Ku’damm. Das ist Unfug. Was wir brauchen, ist ein städtisches Industriemanagement. Dazu muss zunächst geschaut werden, welche Wertschöpfungsketten wir in der Stadt haben – und das ist nicht nur Biotechnologie. Und dann muss man schauen, wie man diese Potenziale erschließt und wie man für Ansiedlungen sorgt. Und schließlich müssen wir die Wissenschaftspotenziale der Stadt für die Wertschöpfung nutzen. Dieses Thema diskutieren wir seit 20 Jahren, und seit 20 Jahren kommt es nicht richtig in die Gänge.

Herr Wolf, das sind konkrete Wünsche an Sie .

WOLF: Das ist ja auch alles in Arbeit. Das Wichtigste ist, dass die unterschiedlichen Akteure aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zusammenkommen und eine gemeinsame Strategie formulieren mit klaren Zielen, deren Erreichen dann auch überprüft werden kann. Das Ganze läuft unter dem Namen Projekt Quadriga; die Ergebnisse sollen bis zum Sommer dieses Jahres vorliegen. Das Zweite ist das Thema Industriedialog. Wir müssen analysieren, wo wir in den jeweiligen Branchen stehen, wo die Strukturprobleme liegen, wo es Lücken in der Wertschöpfungskette gibt und wer die Zulieferer sind. Ich stelle zum Beispiel immer wieder fest, dass Berliner Unternehmen nicht wissen, dass zwei Straßenecken weiter ein potenzieller Zulieferer sitzt, und stattdessen in Bayern bestellen.

Heißt das, dass es nicht mehr um Großansiedlungen geht, sondern nur noch darum, dass bestehende Unternehmen weiter expandieren ?

WOLF: Es ist gut, dass Berlin weg gekommen ist von der Hoffnung, der Big Bang komme von außen. Ansiedlungen von außen können immer nur Ergänzungen sein, das Wachstum muss von innen kommen. Die Potenziale dafür haben wir.

KLEINER: Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben: In den nächsten Jahren wird uns die zunehmende Wertschöpfung in den Staaten östlich der Oder weitere Arbeitsplätze kosten. Das lässt sich auch mit der intelligentesten Politik nicht vermeiden. Produkte sind nicht nur eine Frage von Innovationen, sondern auch von Serienfertigung, und die ist nun einmal in Ballungsgebieten bedroht.

Müsste die Industriepolitik angesichts dieser Probleme nicht Chefsache werden ?

KLEINER: In der Tat ist in den letzten Jahren ein Faden abgerissen zwischen dem Senat und den prägenden Industriebetrieben. Mich beeindruckt sehr, wie das in Brandenburg gemacht wird. Ministerpräsident Platzeck hat eine regelmäßige Runde mit den Chemieunternehmen des Landes, auch in der Metall- und Elektroindustrie wird es solche Treffen demnächst geben. Auf Berlin übertragen ist das eine Angelegenheit, die Herr Wolf nicht mehr alleine schaffen kann. Hier braucht man den gesamten Senat.

SCHOLZ: Ich sag es mal so: Ich weiß nicht, ob es in der Staatskanzlei eine Abteilung gibt, die den Regierenden Bürgermeister regelmäßig über die Entwicklung in der Industrie auf dem Laufenden hält. Das wäre dringend nötig.

Das richtet sich an Klaus Wowereit .

WOLF: Es gibt eine Arbeitsteilung zwischen mir und dem Regierenden Bürgermeister, und wenn Klaus Wowereit in seiner Funktion als Regierender aktiv werden muss, dann funktioniert das auch.

Das Gespräch moderierten Stefan Jacobs und Anselm Waldermann

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false