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An der Krummen Lanke, Endstation der U-Bahnlinie 3, ist auch kein Fußball-Fan in Sicht, der für Argentinien sein könnte. Vielleicht Hertha 03 Zehlendorf? Die spielen auch in weiß-blau.

© Thilo Rückeis

WM 2014: Fans in Berlin: Wer jubelt eigentlich für Argentinien?

Vor dem WM-Finale scheint die ganze Stadt auf Deutschland zu hoffen. Doch gibt es auch Fans der gegnerischen Mannschaft? Vielleicht an der Argentinischen Allee in Berlin-Zehlendorf? Unser Autor hat sich dort mal umgeschaut - ziemlich erfolglos.

Ingrid Lipinski muss es wissen. Kurze Frage. „Hält hier irgendjemand am Sonntag für Argentinien die Daumen?“ Vielleicht weil der Straßenname verpflichtet, hier in der Argentinischen Allee. Die 72-Jährige schaut im U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim durch die Luke ihres Zeitungskiosks, den sie seit gut 40 Jahren besitzt, und schüttelt energisch den Kopf. Bei ihr an der Ecke Clayallee/Argentinische Allee reden jetzt viele Kunden übers Finale. Aber alle, „wirklich alle“, sagt sie, „hoffen für Deutschland“.

Public Viewing? Gibt's hier nicht.

Das zweitgrößte Land des südamerikanischen Kontinents kommt im Berliner Straßenverzeichnis nur einmal vor: genau hier an der Argentinischen Allee. Im weiten Bogen zieht die sich durch Zehlendorf zwischen Mexikoplatz und U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim. Dazwischen die Stationen der U3 „Krumme Lanke“ und „Onkel Toms Hütte“. Die Allee passt bestens in die grüne, gutbürgerliche Gegend nahe am Grunewald. Zwei Spuren in jeder Richtung, kleine Birken am Mittelstreifen. Auf dem Schmuckstück im Süden, dem Mexikoplatz, rauscht eine Fontäne, drumherum Asternbeete, stattliche Gründerzeithäuser mit Erkern und Türmchen. Public Viewing? „Gibt’s hier nicht“, sagt ein junger Mann, der zur S-Bahn eilt.

An der Straße Richtung U-Bahnhof Krumme Lanke rauscht der Verkehr, gediegene Einfamilienhäuser, vornehm zurückgesetzt mit blühenden Gärten. Kaum Fußgänger. Die schwarz-rot-goldene Beflaggung sehr dezent. An der Nummer 9 flattert eine serviettengroße deutsche Fahne am Fenster im Wind. Und in der „Schule für Eurythmische Kunst“ nebenan eine kaum größere an der Dachluke. Die argentinische Nationalflagge mit dem Blau des Himmels und dem strahlendem Weiß für die schneebedeckten Gipfel der Anden hängt nirgendwo. Gibt es hier überhaupt eine argentinische Adresse? Postzusteller Alexander Dobrawa kennt keine, auch kein argentinisches Steakhouse. Seit zehn Jahren ist er in der Allee mit seinem gelben Rad unterwegs. Doch obwohl dienstlich mit der Straße verbunden, setzt auch er am Sonntag „absolut“ auf die deutsche Nationalelf.

Ingrid Lipinski in ihrem Kiosk im U-Bhf. Oskar-Helene-Heim in Berlin-Zehlendorf.
Ingrid Lipinski in ihrem Kiosk im U-Bhf. Oskar-Helene-Heim in Berlin-Zehlendorf.

© Thilo Rückeis

Andreas Fischer schleppt seine Wochenendeinkäufe in die Wohnung kurz vorm U-Bahnhof Krumme Lanke. Jedes Spiel der Nationalelf hat er verfolgt, hat den Jungs drei Mal auf der Fanmeile zugejubelt, am Sonntag aber guckt der Jurastudent zu Hause. Fischer wohnt zwar schon seit sieben Jahren an der Argentinischen Allee, über deren Name und ihre Geschichte hat er sich aber noch kaum Gedanken gemacht. Was verbindet sie überhaupt mit dem Andenstaaat?

Die Nationalsozialisten gaben der Straße ihren heutigen Namen

Angelegt wurde die Allee 1885 erst zwischen Mexikoplatz und Fischerhüttenstraße. Bis 1932 verlängerte man sie dann buchstäblich Zug um Zug parallel zur U-Bahn bis zum Bahnhof Oskar-Helene-Heim. Damals hieß die Straße noch Grunewaldallee. Erst die Nationalsozialisten benannten sie im Januar 1934 in Argentinische Allee um. Wieso? Schriftlich dokumentiert wurden die Gründe offenbar nicht. Selbst der Geschichtsverein Zehlendorf hat keine Unterlagen.

Dessen Vorsitzender Klaus-Peter Laschinsky hat aber eine plausible Erklärung. „Den Nazis waren die diktatorischen Regime Südamerikas sympathisch“, sagt er. Nicht umsonst hätten sich etliche Nationalsozialisten nach Kriegsende dorthin abgesetzt. Auch in Argentinien kam 1932 ein nationalistisches Rechtsbündnis an die Macht. Die Wahlen wurden unter dem damaligen Staatschef Agustín Pedro Justo systematisch gefälscht.

Den Geistesverwandten auf der Südhalbkugel widmeten die Nazis in Zehlendorf noch weitere Straßennamen. 1935 wurde Gotthold Ephraim Lessing vom Straßenschild gleich um die Ecke am Mexikoplatz gestrichen. Der passte den Faschisten nicht, zum Beispiel wegen seines humanistischen Stückes „Nathan der Weise“. Seither steht auf den Schildern Limastraße. Die heutige Bogotástraße, gleichfalls am Mexikoplatz, war bis 1938 nach dem bedeutenden Philosophen der Aufklärung Johann Gottfried von Herder benannt. Und ein Jahr später folgte die Spanische Allee, benannt nach der berüchtigten „Legion Condor“, Görings Elitetruppe, die im Spanischen Bürgerkrieg Guernica aus der Luft in Schutt und Asche zerbombte.

Berkan Özgül in der „Döneria“ am U-Bahnhof Onkel Toms Hütte hat von alledem noch nichts gehört. Die Sonne scheint, die Kunden stehen Schlange. Setzt wenigstens er vielleicht auf Argentiniens Elf? „Nö“, sagt Berkan, „die Deutschen gewinnen, das ist doch klar.“

Der Autor ist Redakteur in der Berlin-Redaktion des Tagesspiegels. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin aus dem Südwesten.

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