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Wohnen: Berliner sind heimattreue Vagabunden

Jeder fünfte Haushalt wechselt jährlich den Wohnort in Berlin, die meisten aber innerhalb des Bezirks. Und auch 20 Jahre nach Mauerfall wagen nur wenige den Wechsel in den ehemals anderen Teil der Stadt.

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Die Berliner sind mobil, auch wenn manchmal etwas anderes behauptet wird. Und das war schon vor 90 Jahren so – und sogar zu Mauerzeiten im alten Westberlin. Doch wer einen Blick auf die Umzüge innerhalb der Stadt wirft, erkennt auch unsichtbare Mauern zwischen Ost und West, Nord und Süd und zwischen den Bezirken. Dabei spielen Vorurteile und die Verbundenheit mit der eigenen Stadtregion ebenso eine Rolle wie die Einkommen der Haushalte.

Heute zieht jährlich jeder fünfte Haushalt, vom Single bis zur Großfamilie, innerhalb der Stadt um. Zwar ließ die Völkerwanderung in den vergangenen Jahren nach: 1998 wurden 453 376 Wohnungen gewechselt, 2007 waren es nur noch 349 636, mit weiter sinkender Tendenz. Trotzdem ist die Fluktuation beachtlich, auch wenn die meisten Berliner heimattreu bleiben. 50 bis 70 Prozent der Haushalte ziehen innerhalb des eigenen Bezirks um. Und wer sich weiter hinaus wagt, bleibt überwiegend im Nachbarbezirk hängen.

Besonders kiezverbunden sind die Bewohner der Außenbezirke. Allen voran Spandau und Marzahn-Hellersdorf, dicht gefolgt von Treptow-Köpenick und Reinickendorf. Dagegen rollt der Umzugswagen in den zentral gelegenen Bezirken Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Charlottenburg-Wilmersdorf und Tempelhof-Schöneberg häufiger über die Bezirksgrenze hinaus. Aber nur selten weiter. Wer in Spandau oder Reinickendorf wohnt, das belegt die Wanderungsstatistik, zieht nur in allergrößter Not nach Marzahn-Hellersdorf oder Treptow-Köpenick. Umgekehrt ist es ähnlich. Und wer aus Lichtenberg oder Pankow umzieht, sucht sich nur äußerst selten eine neue Wohnung in Steglitz-Zehlendorf.

Es ist also nicht nur so, dass Berliner beim Umzug am liebsten in der vertrauten Stadtregion bleiben. Zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall funktioniert auch noch die Ost-West-Barriere. Nur etwa zehn Prozent der Umzügler aus Spandau und Steglitz-Zehlendorf suchten sich 2007 eine Wohnung im Osten Berlins oder in den Ost-West-gemischten Bezirken Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. Aus Charlottenburg-Wilmersdorf, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln brachen nur etwa 20 Prozent gen Osten auf. Die unsichtbare Grenze funktionierte aber auch von Ost nach West. Aus Marzahn-Hellersdorf wagte sich 2007 nur jeder zehnte Umzügler in den wilden Westen Berlins. Die Pankower und Marzahn-Hellersdorfer waren etwas risikofreudiger, und aus den City-Bezirken Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg wanderte immerhin ein Viertel der Wohnungssuchenden westwärts.

Drei Bezirke sind für Menschen, die nach Berlin ziehen oder innerhalb der Stadt den Bezirk wechseln, besonders attraktiv: Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Pankow. Im September 2008 (aktuellere Zahlen sind nicht verfügbar) fanden dort über 10 000 von rund 27 000 Zuzüglern eine neue Bleibe. Im Osten der Stadt war übrigens Lichtenberg Spitzenreiter und im Westen Berlins Charlottenburg- Wilmersdorf.

Und wie mobil waren die Berliner vor 25 Jahren? Etwas weniger als die Hälfte der 230 000 „West-Berliner“, die 1985 innerhalb der Teilstadt ihren Wohnort wechselten – Umzugsstatistiken für den Ostteil der Stadt gibt es nicht – zog innerhalb des jeweiligen Bezirks um – die anderen über die Grenzen des Kiezes hinaus. So wie heute waren auch damals schon die Wege der Umzugswagen oft sehr kurz: Mehr als drei Viertel der aus Tiergarten Fortgezogenen fanden in den Nachbarbezirken Wedding, Charlottenburg oder Schöneberg eine neue Bleibe. Die meisten zogen von Wedding ins angrenzende, grüne Reinickendorf oder in den zentraler gelegenen Bezirk Tiergarten.

Ausnahmen bestätigen die Regel: Beispielsweise zog es ebenso viele Weddinger nach Tiergarten wie nach Neukölln – obwohl beide Bezirke recht weit voneinander entfernt liegen. Dies lässt darauf schließen, dass viele Haushalte auch damals den neuen Wohnort nach ihrem Einkommen auswählen mussten.

Was heute für viele Ost und West sind, waren im Jahr 1985 der Norden und der Süden der Stadt: Von Zehlendorf nach Reinickendorf oder nach Spandau zogen nur ganz wenige – und umgekehrt. Wer im bürgerlichen Süden wohnte, suchte sich allenfalls in den Nachbarbezirken und näher am Kurfürstendamm eine neue Wohnung: Zehlendorf und Steglitz waren gemessen an den Umzugsbewegungen schon damals ein gemeinsamer Bezirk. Und von beiden Bezirken rollten die Umzugswagen überdurchschnittlich oft nach Charlottenburg und Wilmersdorf – zusammen bildeten sie so etwas wie die bevorzugten Lagen Berlins.

Wer noch weiter in der Berliner Umzugsgeschichte zurückgeht, findet Überraschendes: Über 600 000 Umzüge innerhalb Berlins zählten die Statistiker im Jahr 1922, viel mehr als heute. Leider vergaßen sie zu fragen, wohin die Berliner zogen, wenn sie sich innerhalb der Stadt veränderten. Sie hielten aber fest, dass sich die Summe aller Umzüge innerhalb des jeweiligen Bezirks in etwa die Waage hielt mit den Wechseln über die jeweiligen Stadtteilgrenzen hinaus. Die Mobilität war damals also weit größer als heute, die Kieztreue etwas geringer, aber trotzdem hoch.

Ein Beispiel aus Spandau: Fast drei mal mehr Bewohner des Bezirks packten ihre sieben Sachen ein, um sie ein paar Straßen weiter wieder auszupacken (11 885), als Spandauer in andere Berliner Stadtbezirke umzogen (4001). Einen ähnlichen Überschuss von Umzügen innerhalb des jeweiligen Bezirks gegenüber einem Wechsel jenseits der Bezirksgrenzen gab es im Wedding und in Charlottenburg, in Neukölln und in Friedrichshain. Ralf Schönball

Ulrich Zawatka-Gerlach

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