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Berlin: Wolf Kahle (Geb. 1928)

Die Technik interessierte ihn, nicht die Politik.

Da stand er nach der Arbeit vor der Tür seines Sohnes. Seine Haare waren nass, sein Mantel war nass, alles war nass. Schon seit Stunden hatte es geregnet.

„Vater, was ist los?“, fragte der Sohn. „Kannst du mich nach Hause fahren?“, fragte der Vater. – „Warum hast du denn nicht die Straßenbahn genommen?“ – „Weil ich kein Geld für die Fahrkarte hatte.“ – „Warum hast du nicht einfach eine gezogen? Warum läufst du stattdessen stundenlang durch den Regen?“ – „Weil man einfach nicht schwarzfährt“, sagte der Vater.

In den DDR-Straßenbahnen zog man das Ticket nach dem Prinzip der „Kasse des Vertrauens“: Die Münzen, 20 Pfennige, steckte man in eine Box, den Fahrschein konnte man sich so nehmen. Wenn man kein Geld dabei hatte, war es kein Problem, eigentlich. Für Wolf Kahle aber doch. „Ehrlich bis zum Letzten“, sagt sein Sohn.

Er hatte zu Hitlers letztem Aufgebot gehört. Notabitur, Flakhelfer, Kriegsgefangenschaft. Der Hunger, diese nagende Leere, Tag und Nacht, machte ihn verrückt, ließ ihn Brennnesseln essen. „Bei uns, später, wurde alles aufgehoben. Alles gegessen“, sagt sein Sohn. „Immer sprach er über diesen Hunger und gönnte sich deswegen nichts.“ Die große Narbe auf seinem Rücken? Eine Granate. Mehr sagte er nicht dazu.

Wolf wurde Rundfunkmechaniker, fuhr mit seinem Fahrrad und den Taschen voller Werkzeug über die Dörfer rund um Weimar. Er reparierte Radios und Stromleitungen, legte das Licht in die Ställe. Manchmal stieg er auch in zerbombte Häuser, suchte nach kaputten Radios, machte sie wieder flott, tauschte sie auf dem Schwarzmarkt. Es war anstrengend, von früh bis spät auf der Piste, aber es machte ihm Spaß. Sein Geld gab er bei seiner Familie ab. „Überhaupt fühlte er sich immer verantwortlich“, sagt sein Sohn.

„Er saß bei den wöchentlichen Betriebsversammlungen hinter mir“, erinnert sich Christa. Sie hört nicht mehr so gut, bringt manches durcheinander, doch auf diesen Moment angesprochen, ist sie voll da. „Erst ist er mir gar nicht so aufgefallen. Doch am nächsten Tag klingelte das Telefon auf meinem Schreibtisch. Dran war dieser Wolf. Er fragte mich was völlig Abstruses. Was er seiner Tante zu Weihnachten schenken solle. Ich sprach von Pralinen und einem Kleid. Und am Ende des Gesprächs hatten wir eine Verabredung fürs Kino. Am ersten Weihnachtsfeiertag. Dafür ließ er sogar den Geburtstag seiner Schwester sausen. Pünktlich war er. Daran erinnere ich mich, wie pünktlich er immer war. Und schon fuhren wir in den Urlaub zusammen. Nach Hiddensee. Damals war die Insel noch so romantisch.“

1954 heirateten sie, ein Jahr später kam der Sohn auf die Welt. Da lebten sie schon in Berlin. „Damals waren wir richtig glücklich“, sagt Christa. Erst zogen sie in einen ehemaligen Laden, nur ein Zimmer, heruntergekommen und mit Schimmel überzogen. Wolf richtete alles wieder her. Und er machte seinen Meister und ein Fernstudium an der Fachhochschule. Viel später noch den Doktor. „Bildung ist das Wichtigste“, sagte er und half dem Sohn bei den Matheaufgaben.

Ein einziges Mal spielte er Lotto – und gewann. Er kaufte sich einen Trabant 500, 18 PS, „nicht synchronisiertes Getriebe“, erinnert sich der Sohn. „Sonnenbeige“, erinnert sich die Frau.

Wolf war jetzt Ü-Wagen-Techniker. Fuhr für die Live-Übertragungen der Skirennen nach Oberhof, nach Rumänien zu den Weltfestspielen, sogar nach Wien, wohin man ihn auch schickte. Abends und am Wochenende bauten er und Christa in Köpenick ihr Familienglück. Hoben die Erde aus, schoben Schubkarre um Schubkarre, errichteten die Mauern, legten Leitungen. 1960 kam ihr zweites Kind zur Welt. Eine Tochter. Sie hat nie gesessen, ist nie gelaufen, hat nie gesprochen. Körperlich entwickelte sie sich normal. Wurde größer und größer, musste aber betreut werden wie ein Baby. Windeln, tragen, füttern. Sie gaben sie nicht in ein Heim. Christa hörte auf zu arbeiten, und Wolf arbeitete umso mehr. Selten kam er vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause.

Etwas in der Familie verschob sich. Das meiste drehte sich nur noch um die Tochter, die kaum etwas davon mitzubekommen schien, was überhaupt passierte. „Ich glaube, dass er es zu Hause als sehr schwer empfunden hat. Aber er hat sich immer bemüht, ein guter Familienvater zu sein. War nie jähzornig, immer ruhig und geduldig“, sagt sein Sohn.

Wolf war inzwischen beim Postministerium gelandet, wo er für die Technik der Rundfunk- und Fernsehstudios zuständig war. Er war mit der Einführung des Farbfernsehens in der DDR betraut, der Mann hinter den Kulissen. Empfahl, welche Technik anzuschaffen war, welche Standards gelten sollten, verhandelte mit anderen Ländern. Als die ersten Farbfernseher in den Wohnzimmern standen, hefteten sie ihm das „Banner der Arbeit“ an die Brust.

Mit dem Postminister reiste er nach Indien und China, nach Mallorca, um die komplexen technischen Details des Fernverbindungswesens zu besprechen. Die Technik interessierte ihn, nicht die Politik.

1981 starb die Tochter. Ein Leben endete und mit ihm 21 Jahre Ausnahmezustand.

Dass es mit der DDR zu Ende gehen würde, sah Wolf an allen Ecken und Enden. Selbst 1989 stellten sie noch Ersatzteile für Drehwähler her, die aus dem Jahr 1928 stammten. Christa und Wolf gingen auf die Demonstrationen, sie freuten sich, als die Mauer fiel, und sie reisten endlich gemeinsam in die Welt.

Er hätte in Rente gehen können. Doch sie brauchten ihn bei der Arbeit, und er brauchte die Arbeit. Erst trug er seinen winzigen Teil zum Einigungsvertrag bei, der Unterabsatz, in dem es um die Zusammenlegung von Post und Telekom ging. Dann baute er die Telekom Ost mit auf. Aus zwei mach eins. 60 Milliarden D-Mark Investitionen.

Die Überprüfung auf Stasi-Tätigkeit, der Schwur aufs Grundgesetz, Befragungen. Alles ohne Beanstandung.

„Die Arbeit hat ihm Spaß gemacht, warum sollte ich ihm das verderben?“, sagt seine Frau. Als Rentner machte er sich selbstständig, schrieb Artikel und Buchbeiträge, hatte immer die aktuellsten Handyverträge, erledigte die Bankgeschäfte online, ging ins Fitnessstudio und fuhr Rad.

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