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Berlin: Wolfgang Saschowa (Geb. 1930)

Dem eigenen Anspruch folgen - eine unlösbare Aufgabe

Seine großen, durch und durch trainierten Händen glitten mühe- ja fast schon bewegungslos über die Klaviertasten: die weitgriffigsten Passagen, die kompliziertesten Läufe und Rhythmen. Wolfgang Saschowa glaubte nicht an Gott, er glaubte an die Musik. Ihr zu dienen, ihr Medium zu werden, verlangte größte Hingabe. Alles andere als das Streben nach Perfektion war ihm sinnentleerte Stümperei. Der Pianist Carlo Grante sagte ihm den Anspruch nach, sich so lange auf ein Stück zu konzentrieren, bis die eigene Persönlichkeit und Kultur vollkommen darin eingearbeitet waren. Grante erlebte schließlich Wolfgangs Hang zur Perfektion auch jenseits der Musik: Gemeinsam suchten sie zehn Minuten nach dem besten Platz in einem Restaurant, in dem alle Tische frei waren.

Im Konzertsaal sah man Wolfgang aufmerksam die Partitur mitlesen oder per Feldstecher „Fingersatzspionage“ betreiben. Selbstverständlich konnte er jedem Werk aus dem Gedächtnis die exakte Opuszahl mitsamt musikgeschichtlichem Kontext zuordnen, und natürlich konnte er erklären, welcher Pianist welchen Fingersatz eingesetzt hatte, und ob das ein guter oder ein schlechter Fingersatz war.

Er entstammte einer Musikerfamilie: die Mutter Opernsängerin, Mezzosopran, der Vater Oboist. Schon als Kind lernte Wolfgang: Das Beste ist gerade gut genug. Bei musikalischen Abenden hockte er am liebsten unterm Flügel und lauschte. Mit vier nahm er Klavierunterricht.

Als er gegen Kriegsende von einer Klavierstunde nach Hause lief, sah er, wie am Straßenrand Menschen aufgehängt wurden: „Verräter“. Aufgewühlt berichtete er seinem Vater, der sofort mit ihm hinauslief, um nachzusehen. Eine Bombe fiel und tötete den Vater mitten auf der Straße. Wolfgang überbrachte die Nachricht seiner Mutter. Während Wolfgangs ältere Schwester in den Nachkriegsjahren als Bibliothekarin etwas beisteuerte, verdiente die Mutter mühsam Geld durch Blutplasmaspenden und das Sammeln von Aluminium. Sie starb nach wenigen Jahren an einem Schlaganfall.

Wolfgang hatte sich längst entschieden, sein Leben dem Klavierspiel zu widmen. Während seines Studiums an der Hochschule der Künste entdeckte er den Komponisten, dessen Musik ihm zur Heimat wurde: Alexander Skrjabin. Dessen Hingabe an unerfüllbare Perfektion, diese Inspiration bei gleichzeitiger Virtuosität als Pianist, die waghalsige Größe und sehnsüchtige Spiritualität seiner Idee eines multimedialen „Mysteriums“ – Wolfgang entbrannte für diesen Musiker.

Ohnehin war Wolfgang ein Mensch, der oft lichterloh brannte und seine Interessen über die Musik hinaus auch auf vieles andere richtete: kosmologische Fragen, Hölderlin, Automobile. Stets erfüllt von einer Energie, die für viele Leben gereicht hätte. Seine Schüler wie die Pianisten Babette Hierholzer und Reimar Ullrich schildern Wolfgangs großen Respekt vor fremden Interpretationen, seine Fähigkeit, sich in die Schüler einzufühlen, ihren Weg zu erahnen. Eine Nahbarkeit, die Wolfgangs enorme Ansprüche und Talente erträglich machten.

Wolfgang war in den Vierzigern und hatte gerade für eine Einspielung der Etüden Skrjabins den deutschen Schallplattenpreis erhalten, als er in seiner Schülerin Barbara Lerch die Liebe seines Lebens fand. Es folgten Höhen und Tiefen, in denen Wolfgang die finanziellen Umstände am wenigsten interessierten. Geld war ihm bloß „dusselige Materie“.

Wolfgang ließ sich die Interessen nicht von Konzertdirektionen oder Agenten diktieren. Er entzog sich jeglicher Kommerzialisierung. Seinem Anspruch zu folgen, das war die entscheidende Aufgabe. Und sie war unlösbar, denn die Grenzen verschoben sich mit dem Können. Jede neue Erkenntnis führte zu neuem Staunen und manchmal auch in die Mutlosigkeit.

Dramatisch gestaltete sich das Verfassen der Begleittexte für fertig eingespielte Aufnahmen. Wieder und wieder musste Barbara ihren Mann ermutigen, das Grübeln über den perfekten Text aufzugeben und einfach zu schreiben. Es existieren Manuskripte, in die zunächst in den Ursprungstext Einfügungen gemacht wurden, danach wegen Platzmangels kleine Sternchen als Fußnoten, danach größere Kringel mit weiteren Fußnoten zu den ersten, dann Kreuze mit den dritten Fußnoten zu den zweiten. Insgeheim glaubte Wolfgang, der sein Alter gerne geheim hielt, nicht an die Begrenzung seiner Zeit.

Nach einem Sturz erlitt Wolfgang eine Gehirnblutung und erholte sich nicht mehr. Es blieb die zarte Hülle eines einst kräftigen Mannes. Seine 1983 geborene Tochter Regina, mit der er sich früher über Playmobil-Figuren und neue Alben der Pet Shop Boys gefreut hatte, sagte ihm, dass Barbara und sie ihn sehr lieb hätten, ob er das wüsste. Wolfgang nickte und tauchte wieder in seine Welt. Sein letzter Wunsch, noch einmal Skrjabins Klavierkonzert öffentlich zu spielen, erfüllte sich nicht. Anselm Neft

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