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Berlin: Wolfgang Schindler (Geb. 1931)

An die Straßen im Westteil erinnerte er sich nur vage.

Berlin hat 5376 Straßen. Zum Beispiel die Waldsassener Straße. Die Waldsassener Straße liegt in Marienfelde, im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, die Postleitzahl lautet 12279, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin zu gelangen, könnte man am S-Bahnhof Marienfelde aussteigen und mit dem Bus M 77 weiterfahren. So hätte es Wolfgang Schindler sagen können, ohne lange nachzudenken, flüssig und fehlerfrei. Auf dieselbe Weise hätte er auch die anderen 5375 Berliner Straßen charakterisieren können. Was er am 15. September 1990 in Saarbrücken vor Millionen von Menschen unter Beweis stellte: Thomas Gottschalk rief: „Top, die Wette gilt“, Katharina Witt, die Wettpatin, lächelte, und zwei Berliner Taxifahrer nannten Wolfgang Schindler Straßennamen, die er flüssig und fehlerfrei lokalisierte. Er wurde der Wettkönig des Abends.

Angefangen hat Wolfgang Schindler mit Ost-Berlin, obwohl er in Steglitz, West-Berlin geboren war. Seine Eltern verließen die Stadt, sein Vater folgte einem Berufsangebot nach Magdeburg, die Familie bewohnte eine Sechs-Zimmer-Wohnung, aus der sie vor den Bomben flüchtete. Sie kamen in Salzwedel unter und in Halle. 1967 kehrte Wolfgang Schindler nach Berlin zurück, nun natürlich in den Ostteil. An die Straßen im Westteil erinnerte er sich nur vage.

Wolfgang Schindler machte sich auf den Weg, lief und lief, prägte sich Straßennamen, Plätze, S- und U-Bahnstationen, Bus- und Straßenbahnhaltestellen ein. Legte Bücher an, in die er alles eintrug. Hängte Stadtpläne an die Wände seiner Wohnung. Ließ sich von seinen Arbeitskollegen abfragen. Und nachdem die Mauer die Stadt nicht mehr trennte, machte er sich wieder auf den Weg, lief und lief, diesmal durch West-Berlin.

Er kaufte Bücher, historische und neue, über die wiedervereinte Stadt, Bildbände, Postkarten, alte und neue Stadtpläne. Aber nicht allein über Berlin. Seine zweite Leidenschaft galt der Geschichte Magdeburgs, seine dritte den Straßenbahnen Magdeburgs. In A4-Kladden schrieb er Abhandlungen über die Stadtentwicklung, über die verschiedenen Typen von Tramtriebwagen, klebte Bilder dazu, legte Inhalts- und Abbildungsverzeichnisse an. Manchmal stieg er früh um fünf in den Regionalzug, fuhr nach Magdeburg, bisweilen auch weiter, nach Halle und Leipzig, alles an einem Tag. Kleidung, Einrichtungsschnickschnack interessierten ihn kaum, seine knappe Rente vergeudete er nicht für solche Belanglosigkeiten. Die kleine Wohnung in der Anton-Saefkow-Straße in Prenzlauer Berg hatte er mittlerweile aufgeben und war in eine Seniorenwohngemeinschaft, nicht weit entfernt, in der Lychener Straße gezogen.

Wenn Wolfgang Schindler nicht reiste oder las oder schrieb, dann organisierte er Exkursionen für eine Wandergruppe, der er sich vor 19 Jahren angeschlossen hatte. Jeden Freitag trafen sie sich, die meisten weit über 70, spazierten eineinhalb Stunden durch den Grunewald, durch die Parkanlagen Potsdams oder um den Müggelsee und kehrten in einen Gasthof zu Kaffee und Kuchen ein. Über Persönliches wurde kaum gesprochen. Schriftsetzer hat er gelernt, erinnert sich Marianne, eine Dame aus der Gruppe, später hat er wohl bei der Reichsbahn gearbeitet, eine Verlobung, vor Jahrzehnten, deutete er einmal flüchtig an.

An einem Freitag im Herbst 2009 erschien Wolfgang Schindler nicht zum Freitagstreffen, ohne Vorankündigung. Ein Tumor im Gehirn. Die Schwestern in der Wohngemeinschaft pflegten ihn liebevoll, sahen in seinem Gesicht die Schmerzen, von denen er behauptete, sie seien nicht da. Marianne, die am anderen Ende der Stadt lebt, kam oft zu ihm. Am 11. Juli 2010 schlief Wolfgang Schindler ein. Marianne hat seine Aufzeichnungen jetzt bei sich. Sie wird sie alle lesen, sagt sie.

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