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Dieser Weg wird kein leichter sein. Steven Jahn beim Lauftraining im Wald.

© Kitty Kleist-Heinrich

Wovon Berliner Sportler träumen: Das unwahrscheinliche Profi-Comeback des Fußballers Steven Jahn

Mit zwölf zog Steven Jahn ins Internat des 1. FC Union, spielte kurze Zeit als Profi, verlor den Anschluss, erkrankte, nahm 30 Kilo zu. Dann verließ ihn die Frau seines Lebens – und jetzt, mit 27, träumt er von einem Comeback.

Steven Jahn ist angespannt. Er steuert seinen weißen Audi A3 durch den Berliner Nachmittagsverkehr Richtung Alexanderplatz, von wo er Tickets für einen Bekannten abholen will. Ein Freundschaftsdienst und jetzt genau das Richtige, um Zeit zu überbrücken. Steven wartet auf einen Anruf aus Österreich, von dort operiert sein Berater, der versprochen hat, sich heute zu melden. Aber er meldet sich nicht. Kein Klingelton, keine Textnachricht. Nichts, was in diesem Moment einen gewaltigen Adrenalinschub verursachen würde. Das iPhone des 27 Jahre jungen Mannes liegt zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und bleibt stumm. Scheiße.

„Fühlt sich ein bisschen an wie damals“, sagt er und stellt das Radio leiser. Bis 2010 war Steven Jahn Fußball-Profi und spielte für den 1. FC Union Berlin. Seine Bilanz: Sechs Einsätze in der dritten Liga. Nach dem Aufstieg gehörte er noch ein halbes Jahr zum Kader der Zweitliga-Mannschaft, durfte aber nicht spielen. Der Trainer war mit seiner Entwicklung nicht zufrieden. Steven verschlug es eine Saison lang zur TSG Neustrelitz und eine weitere zum Brandenburger SC Süd, beides fünfte Liga, bis er 2012 schwer erkrankte und seine Karriere beenden musste.

Danach arbeitete er für eine Boulevard-Zeitung als Sportreporter, wurde fett, wie er heute selbst sagt, 100 Kilo bei 1,74 Meter Körpergröße. Mit dem aktiven Sport glaubte er durch zu sein. „Am Anfang fühlte ich mich erleichtert. Kein Leistungsdruck, keine Erwartungen – großartig. Nur habe ich bald festgestellt, dass es im normalen Berufsleben ähnlich ist. Druck gibt es überall. Er äußert sich nur anders. Subtiler. Beim Fußball wird dir offen gesagt, wenn du etwas nicht richtig machst. Diese Ehrlichkeit hat mir später gefehlt.“

Steven Jahn, grüne Augen, runde, kindliche Gesichtszüge, braune, kurze Haare, oben länger, an den Seiten kurz, hat beschlossen, die Zeit zurückzudrehen. Er will wieder ein professioneller Fußballer sein. Am liebsten in den USA, dem Land, das ihn seit seiner frühesten Kindheit fasziniert, das er aus seinen Lieblings-Fernsehserien zu kennen glaubt, aber das er noch nie besucht hat. Gut, dass das Niveau der Profi-Ligen dort niedriger ist. Seine Chancen, es in Amerika noch einmal zu packen, sind in jedem Fall größer als in Deutschland.

Er weint und weint und kann nicht aufhören

Die Geschichte seines Comebackversuchs beginnt am Ostersonntag 2016 früh um neun. Fünf Wochen zuvor ist er mit seiner Freundin Sabrina in eine größere Wohnung gezogen. Ein Altbau im Stadtteil Köpenick. Vierter Stock, Dachgeschoss. Zwei Zimmer, kleiner Balkon. Ihre erste gemeinsame Wohnung haben sie komplett neu eingerichtet. Besonders stolz ist Steven auf den gigantischen Fernseher an der Wand, der per Kopfdruck das Wohnzimmer in einen Kinosaal verwandelt. Und auf die graue Eckcouch mit den schwarzen Kopfteilen. Drei Meter breit, 1,40 Meter tief.

Die beiden sind seit fünf Jahren ein Paar, und Steven ist kurz vor dem Umzug immer noch verliebt wie am ersten Tag. Sabrina nicht. Steven ahnt das. Seit Wochen reden sie nicht mehr wirklich miteinander. Der Umzugsstress, denkt Steven. Nach der Arbeit in der Redaktion fährt er täglich in die neue Wohnung. Sägt, schraubt, hämmert, putzt bis tief in die Nacht hinein.

Als die Wohnung fertig ist, ist er sicher, dass alles wieder gut wird. Dann kommt der Ostersonntag. Beide sitzen auf der großen Eckcouch, beide schauen zu Boden. Sabrina sagt: „Ich will das alles nicht mehr.“ Dann steht sie auf, zieht die Tür hinter sich zu und verschwindet. Für immer. Steven bekommt das alles, wie er später erzählt, nur noch vage mit. Ihre Worte haben ihn betäubt. Seine Arme und Beine kribbeln. Dann bahnen sich Tränen den Weg über sein Gesicht. Er weint und weint und kann nicht mehr aufhören.

Eine halbe Stunde vergeht, vielleicht auch eine ganze, ehe er sich wieder fängt. Diese Stille. Entsetzlich. Sein Blick schweift rastlos durch den verlassenen Raum, ehe er bei einem Bild im Wandschrank hängen bleibt. Auf dem kleinen Foto, gerade 10 mal 20 Zentimeter groß, ist Steven im Trikot des 1. FC Union zu sehen. Damals noch mit raspelkurzen Haaren. Es ist eines dieser Porträtfotos, wie sie jeder Profi vor der Saison bekommt und im Laufe eines Jahres unzählige Male für Autogrammjäger unterschreiben muss. Steven blickt an sich hinunter, sieht seinen Bauch und die Oberschenkel. Was ist nur aus mir geworden, denkt er. Und steht auf. Läuft zu dem Bild hinüber, nimmt es aus der Halterung und streicht mit den Fingern über die Oberfläche.

Er spürt den feinen Staub, und auf einmal sind sie wieder da, die Szenen aus seinem früheren Leben, die so lange keine Rolle mehr gespielt haben und doch immer da waren im Unterbewusstsein. Vor seinem inneren Auge sieht er all die Jungen und Mädchen, wie sie am Trainingsplatz stehen, nur um Unterschriften von den Union-Spielern zu ergattern. Wie sie auch seinen Namen – „Stevi, Stevi“ – rufen, und er erinnert sich, wie geliebt, wie begehrt er sich in diesen Momenten gefühlt hat. Das möchte er wieder haben, wieder spüren, am besten für immer. Plötzlich ist es, als würden zwei Drähte in seinem Kopf einen Kurzschluss auslösen. Er geht ins Schlafzimmer, zieht sich Sportsachen über, die er eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr getragen hat, läuft das Treppenhaus hinunter, trabt los, die Straße entlang Richtung Wuhlheide. Bis dorthin sei er aber gar nicht gekommen, erzählt er ein paar Wochen später.

Die Gelenke schmerzen, die Muskeln brennen

20 Minuten, ein paar Straßen – mehr schafft er nicht an diesem ersten Tag. Die Gelenke schmerzen und die Muskeln brennen von der ungewohnten Belastung. Der Weg zurück in die Wohnung wird zur Qual. Treppe um Treppe hangelt sich Steven die vier Stockwerke hoch. Unter der Dusche fühlt er sich erschöpft, aber glücklich. So glücklich, wie man sein kann, wenn einen die Liebe seines Lebens gerade verlassen hat. Während das warme Wasser über seinen Kopf rinnt, beschließt Steven, auf ein Comeback hinzuarbeiten. Was hat er jetzt noch zu verlieren, wo die Frau, die er heiraten wollte, gerade auf Nimmerwiedersehen zur Tür hinaus verschwunden ist?

Steven beginnt zu trainieren, jeden Tag ein bisschen mehr. Er rennt Treppen hinauf und Berge, stemmt Gewichte, schwimmt, macht Liegestütze, Bauchmuskelübungen, springt, klettert – tut alles, was seinen Körper in Form bringt. Von jeder Einheit postet er eine Zusammenfassung auf seiner Facebook-Seite. Nach vier Wochen meldet sich ein alter Freund, der inzwischen Trainer draußen in Brandenburg ist. Steven nimmt das Angebot des Turn- und Sportvereins Sachsenhausen an. Sechste Liga, Amateurfußball nach Feierabend.

Allein dass Steven in dieser Spielklasse beginnt, zeigt: Was er vorhat, ist so unglaublich, so unrealistisch wie ein Meistertitel für Darmstadt 98. Aus den unzähligen Nachwuchsakademien werden junge, besser ausgebildete Talente in Serie auf den Markt gespuckt, wie Burger samt Fritten aus einem Drive-in-Schalter. Bei den Jugendmannschaften von Bayern München und Borussia Dortmund steht nicht mal jedem Jahrgangsbesten eine Profikarriere bevor. Dazu kommen noch all die arbeitslosen Spieler, die gestern noch regelmäßig Zweite und Dritte Liga gespielt haben und heute vergeblich auf eine Anstellung hoffen. Man muss sich nur das jährliche Sommercamp für vertragslose Fußballer anschauen, veranstaltet durch den Verband Deutscher Vertragsfußballer. Rund 50 Spieler, alles gestandene Profis, kamen 2016 in Duisburg zusammen. Wer soll da einen nehmen, der eine Ewigkeit nicht mehr gespielt hat? Angesprochen auf Steven Jahn meint ein szenekundiger Talentspäher: „Was der vorhat, ist pure Fantasie.“

"Ich weiß ja selber, dass ich eigentlich keine Chance habe"

Dieser Weg wird steinig und schwer. Steven Jahn beim Spiel gegen den FC Stahl Brandenburg.
Dieser Weg wird steinig und schwer. Steven Jahn beim Spiel gegen den FC Stahl Brandenburg.

© Robert Roeske

Fantasie hat Steven tatsächlich. Oft hat er sich vorgestellt, wie das wohl ist da drüben in den USA. Kaum eine amerikanische Sitcom, die er nicht gesehen hat. Prince von Bel Air, King of Queens, Two and a Half Men, Big Bang Theory. Manchmal hat er sich vor dem Schlafen mit seiner Audi-Limousine in „Amerika“-Ausstattung auf einen der endlos langen Highways geträumt. Hat versucht, die Freiheit zu spüren und die Weite, die diesem Land nachgesagt werden. Der Romantiker Steven hat Bilder im Kopf, die mächtiger sind als das bisschen Realität, das ihn noch aufhält. „Ich weiß ja selber, dass ich eigentlich keine Chance habe“, sagt er und klingt wie einer, der denkt: Macht aber nichts. Ich probier’s trotzdem.

Sieben Monate später ist Sabrina immer noch nicht ganz aus seinem Leben verschwunden. Ihr Name steht weiter auf dem Klingelschild, Steven hat es noch nicht ausgetauscht, weil sowieso manchmal an sie adressierte Post in seinem Briefkasten landet. Ob sie ihn heute wiedererkennen würde? Fast 30 Kilo hat er seit Ostern abgenommen. Er wiegt jetzt 72 Kilo, so wie zu seinen besten Zeiten. Zwei Mal täglich trainiert er, sechs Tage die Woche. Das ist möglich, weil er sich seine neue Arbeit als Website-Programmierer zeitlich einteilen kann. Meistens sitzt er von zehn Uhr abends bis um zwei in der Nacht vor dem Computer. Danach versucht er regelmäßig acht Stunden zu schlafen. Mindestens. Als Steven an diesem grauen Novembermorgen um zehn die Tür öffnet, hat er schon gefrühstückt. Ist nicht so spät geworden letzte Nacht. Ein halbes Brötchen mit Käse, mehr gab’s nicht zu essen. „Ich will noch ein bis zwei Kilo verlieren“, sagt er. Entsprechend sieht sein Speiseplan aus: Morgens ein Brötchen, oft gibt es aber auch nur Joghurt mit Früchten. Mittags und abends Salat. Mal mit Puten-, mal mit Hühnerfleisch. Chips und Schokolade, treue Begleiter jeder Fernsehsendung während seiner unsportlichen Zeit, sind tabu. Im Kühlschrank hat sich ganz hinten eine Packung Margarine versteckt. Sie teilt sich den leeren Raum mit zwei fast leeren Cola-Flaschen. Dabei meidet Steven Zucker genau wie Alkohol. Die Cola ist für Freunde. Irgendwer kommt ja immer mal vorbei, seine Kumpels haben ihn nicht hängen lassen.

Auf dem Balkon hat er kunstrasenähnlichen Teppich ausgelegt und ein kleines Tor aufgestellt, aus der Wohnung dahinter ist Stevens privates Leistungszentrum geworden. Der Geruch frisch gewaschener Kleidung liegt in der Luft, so als würde der Zeugwart gerade den Koffer mit den Trikots öffnen. Im Wohnzimmer und in der Küche stehen zwei Wäscheständer, voll mit Sportsachen. Kurze Hosen, T-Shirts, Jacken, Stutzen. Bei so viel Training kommt einiges zusammen. Im Badezimmer stehen vier verschiedene Paar Fußballschuhe. Lange Stollen, kurze Stollen, große Nocken, kleine Nocken – für alle Witterungsbedingungen und alle Untergründe, für Rasen und Kunstrasen.

Abwehrarbeit ist seine Sache nicht

Steven trägt Größe 41. Wenn er den Ball führt, sieht es aus, als würden seine kleinen Füße ihn streicheln. Tätscheln, nicht schießen. Passend zu Stevens Stil. Sein Spiel hat stets etwas Kindliches. Auf dem Platz wirkte er früher wie ein großer Junge, der nicht immer den größten Drang verspürte, erwachsen zu werden. Steven dribbelt und passt gern, er bewegt sich gern frei in der gegnerischen Hälfte. Als Spielmacher, als Zehner, wie es in der Fußballsprache heißt. Mal hier, mal dort. So wie Wesley Sneijder, der Holländer. Abwehrarbeit ist seine Sache nicht. „Manchmal dachtest du im Training: Wow, wie hat er das jetzt wieder gemacht? Und dann gab es Momente, wo du ihm zurufen wolltest: Wach auf, das hier ist Männerfußball“, erzählt ein ehemaliger Mitspieler.

An diesem Vormittag zieht Steven Lauf- statt Fußballschuhe an. Er will drei, vier Runden in dem Waldstück drehen, das hinter dem Stadion an der Alten Försterei liegt. Am Abend zuvor hat er mit Sachsenhausen trainiert. Dienstags ist dort immer „Belastungstag“, so nennen Fußballer Einheiten, bei denen hauptsächlich Kraft und Ausdauer trainiert werden. Laufen, rennen, sprinten – alles bei hoher Pulsfrequenz. Entsprechend schwer fühlen sich Stevens Beine an. Drei Runden im Wald sind rund zehn Kilometer lang. Die will er aber nicht einfach so laufen, alle zwei Minuten erhöht er für 30 Sekunden das Tempo. Intervalllauf frei nach Steven Jahn.

Steven hat keinen persönlichen Trainer, der ihn professionell anleitet oder betreut, niemanden, der seine Ernährung oder Gesundheit überwacht. Alle Übungen denkt er sich selbst aus. „Ich versuche immer, auf meinen Körper zu hören und nur so viel zu machen, dass ich mich nicht überfordere“, sagt er. Gerade schmerzen die Sehnen, sie dauerhaft zu überreizen, wäre fatal. Eine Pause würde ihn in seinem Zeitplan zurücksetzen. Eine Woche ohne Fitnessübungen bedeutet zwei Wochen Training, um das frühere Leistungsniveau wieder zurückzuerlangen. Steven hat keine Zeit, nicht mit 27. Nicht mit seiner Vergangenheit.

Wie einer, dem die biologische Uhr im Nacken sitzt, hetzt er dann durch den Wald. Für die zehn Kilometer wird er am Ende gerade mal 43 Minuten brauchen. Wer hinter Steven herhechelt, dem fallen seine muskulösen Waden auf. Eiergleich gehen sie vom Knochen ab. Fünf Grad sind es an diesem Novembermorgen, manchmal nieselt es. Steven trägt trotzdem kurze Hose.

Auf den ersten Metern kommt ihm ein Rentnerehepaar mit einem weißen Labrador entgegen. Man nickt sich zu, man kennt sich. „Die sehe ich fast jeden Tag“, sagt Steven. Einmal, er war gerade an ihnen vorbeigehastet, sagte die Frau zu ihrem Mann: „Sieh mal, da ist er wieder, der Läufer von Köpenick.“ Steven hat sich darüber gefreut. „Fand ich cool, man fühlt sich da gleich nicht mehr so x-beliebig“, sagt er. Dafür, wieder wer zu sein, lohnt die Schinderei. Der Läufer ist der Renner.

Als Steven den Fußball aufgab und ein normaler Angestellter wurde, machte ihm die Anonymität zu schaffen, niemand hatte ihn je auf ein Leben ohne Fußball vorbereitet, ohne den großen Leistungsdruck und ohne die große Bewunderung. Als Zwölfjähriger zog er aus seiner Geburtsstadt Luckenwalde nach Berlin ins Internat des 1. FC Union. Zu Hause trennten sich nach einigen Jahren die Eltern. Heute bezeichnet er Köpenick als seine Heimat. In dem Stadtteil wohnen viele ehemalige und aktuelle Profifußballer. Neulich erst begegnete Steven beim Waldlauf der Mannschaft seines Ex-Vereins. Damir Kreilach, einer der Besten bei Union, hielt kurz an und sprach ein paar aufmunternde Worte. „Fand ich nett, das hat mich gleich noch mehr motiviert“, sagt Steven.

Vier Jahre lang war er Sportreporter

Er kennt immer noch alle Unioner. Als Reporter hat er vier Jahre für eine Boulevardzeitung über seinen ehemaligen Klub berichtet. Ausgerechnet. Damals, als er, der den Redaktionsleiter durch ein eigenes Blog auf sich aufmerksam gemacht hatte, das Angebot erhielt, fand er die Nähe zum Fußball zunächst ganz cool. Der Kontakt zu einer Mannschaft, der Geruch von frisch geschnittenem Gras – beinahe alles so wie vor seinem Karriereende. Aber die Distanz zu den Aktiven wurde mit jedem Tag spürbarer. Irgendwann, nach einem kritischen Artikel, raunzt ihn sein alter Trainer an: „Du bist ja inzwischen schon genauso bescheuert wie die.“ Gemeint waren die Journalisten. Nun war er endgültig einer von denen.

Dass nicht alle so dachten, zeigte Damir Kreilach. Der schenkte Steven zum Abschluss von dessen Reporterkarriere im Frühjahr des vergangenen Jahres sein Trikot. Es hängt heute auf einem Bügel an Stevens Schlafzimmerschrank. „Jeden Morgen erinnert es mich gleich beim Aufstehen an mein Ziel“, sagt Steven. Das rote Oberteil des 1. FC Union verbindet er mit der glücklichsten Zeit seines Lebens. Das meiste, was danach kam, wurde nur schlechter. Zuerst der sportliche Abstieg in die fünfte Liga, dann die Krankheit, unter der er insgesamt 16 Monate litt.

Ende 2011 bekam Steven erstmals das Gefühl, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte. Zuerst plagten ihn Hodenschmerzen, dann Nierenschmerzen, dann Lungenschmerzen. Von Januar bis April 2012 rannte er von Arzt zu Arzt, irgendwas war ständig, gefunden wurde nie etwas. Dann kam der Morgen, an dem Steven sein linkes Bein nicht mehr spüren konnte – und sich trotzdem ins Auto schleppte und von seiner Köpenicker Wohnung einmal quer durch die Stadt ins Benjamin-Franklin-Krankenhaus nach Steglitz fuhr, das Krankenhaus seines Vertrauens.

Eine Woche blieb er dort, ihm wurde Nervenwasser gezogen und Blut abgenommen, es wurden verschiedene CT-Aufnahmen von seinem Kopf gemacht. Nichts. Erst, als er Ende April an drei Abenden in Folge in der Rettungsstelle des Krankenhauses Köpenick vorstellig wurde, weil sein kompletter Körper mit rotem Ausschlag übersät war, wurde er dort schließlich stationär aufgenommen. Gleich am Freitag kam eine Ärztin zu ihm und sagte: „Wir sind uns noch nicht sicher, was es ist, aber wir haben den Verdacht auf Leukämie oder HIV.“ Dann ging sie und ließ sich bis Montag nicht mehr blicken. Das ganze Wochenende lag Steven, so erzählt er es heute, in seinem Bett, sicher, dass er bald sterben würde. HIV oder Leukämie. Pest oder Cholera. Dass HIV nahezu ausgeschlossen war, dass er immer geschützten Verkehr mit seiner festen Freundin hatte, verdrängte er in diesen gefühlt längsten Tagen seines Lebens. Montag in der Früh stand die Ärztin wieder an seinem Bett, und Steven war sich sicher, dass er beides hatte, HIV und Leukämie. Sie sagte nur: „Wir brauchen noch einen Tag länger.“

Am Dienstag sagte die Ärztin: „Unsere Untersuchungen haben ergeben, dass sie am Epstein-Barr-Virus erkrankt sind.“ Kaum hatte sie es ausgesprochen, begann Steven zu weinen. Vor Glück. Er wusste, was das bedeutet: Pfeiffersches Drüsenfieber. Eine Viruserkrankung, die in seltenen Fällen sehr hohes Fieber hervorrufen kann, aber heilbar ist. Er wusste auch, dass er gesund werden, dass sein Körper es von allein schaffen würde, anders als bei HIV oder Leukämie.

Plan A: Amerika. Plan B: sonstiges Ausland. Plan C: fünfte Liga.

Zwei Wochen verbrachte Steven im Krankenhaus. An den Abenden bekam er Kortisonbeutel gegen das Fieber. 40, 41 Grad waren es manchmal. Als er nach Hause kam, konnte er nicht mal fünf Stufen hinauf, ohne sich erschöpft zu fühlen. Langsam nur wurde es besser, und jedes Mal, wenn er mit dem Lauftraining beginnen wollte, fühlte er sich nach wenigen Metern völlig fertig. Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit machten ihm zu schaffen. Steven, der sein ganzes Leben lang gewohnt war, dass sein Körper funktionierte, konnte mit der neuen Situation nicht umgehen. Erst streikte sein Organismus, dann sein Kopf. Von seinem damaligen Berater hatte er zu diesem Zeitpunkt seit Monaten nichts mehr gehört, einen Verein hatte er auch gerade nicht. Da kam das Angebot der Boulevardzeitung gerade recht.

Stevens Lebenslauf ist im Netz nachlesbar, seit Sommer 2016 wird seine Wikipedia-Seite wieder regelmäßig aktualisiert. Er hat nie gefragt, wer dahintersteckt, aber er kann es sich denken. Neue Einträge tauchten etwa zur gleichen Zeit auf, als sich ein Mann aus Österreich am Telefon meldete. Das war im Sommer. Berater sei er, sagte der Mann. Er verfolge Stevens Trainingsfortschritte per Facebook und sei von so viel Ehrgeiz beeindruckt. Dann sprach der Mann Worte, die Steven ein Gefühl gaben fast wie eine Vertragsunterschrift: „Ich weiß, dass es schwer wird, aber unmöglich ist es nicht.“ Seitdem hat Steven wieder einen Berater. Vertragslaufzeit: zwei Jahre. So lange, bis Sommer 2018, will er versuchen, wieder Profi zu werden. Die Agentur nennt sich Rising Stars. Steven ist dort einer von insgesamt vier Spielern. Die anderen sind zwei 18-jährige Österreicher und ein 20 Jahre alter Deutscher namens Christoph Schulz. Er spielt bei Wacker Burghausen in der vierten Liga. Ob Stevens Stern tatsächlich noch einmal aufgehen wird?

Vollkommen verlassen auf fremde Hilfe will er sich dabei nicht. Eines Dezemberabends sitzt Steven wieder auf seiner Couch, vor ihm der Laptop. Gedimmtes Licht verhindert gerade so völlige Dunkelheit. Schlafzimmeratmosphäre um acht Uhr am Abend, aber Steven wird in den nächsten sechs Stunden nicht ins Bett gehen. Er schreibt „Bewerbungen“, wie er es nennt. Per Mail meldet er sich bei Vereinen und bittet um eine Chance:

Sehr geehrte Damen und Herren,

mein Name ist Steven Jahn und ich wende mich mit einer großen Bitte an Sie: Ich möchte bei Ihnen zur Probe mittrainieren. Ich weiß, dass das jetzt echt verrückt klingt, aber es ist für mich wohl meine letzte Chance, mir meinen ganz großen Traum noch einmal zu erfüllen, beziehungsweise ihn noch einmal leben zu können. Ich möchte zurück in den Profi-Fußball!

Minnesota hat nicht geantwortet, Atlanta schon abgesagt

Nur einmal sich zeigen dürfen, mehr will er nicht. In Amerika, dem Land der Träume, schrieb Steven zunächst die beiden neuen Teams der Major League Soccer (MLS) ab der Saison 2017 an: Atlanta und Minnesota. Minnesota hat nicht geantwortet, Atlanta schon abgesagt, genau wie Chicago Fire.

Ein Grund aufzugeben? Nicht für Steven. Den hat nun die totale Abenteuerlust gepackt. Schottland, Irland, Nordirland, Estland, Malta, Neuseeland, Südafrika – überall auf der Welt haben zuletzt Vereine elektronische Post aus Berlin-Köpenick erhalten. Darunter Namen, die nicht mal den fachkundigsten Fachleuten etwas sagen dürften: Nõmme Kalju Football Club. Ayr United FC. Queen of the South.

„Kaum jemand weiß, dass einer der erfolgreichsten Vereine der Welt aus Nordirland kommt“, sagt Steven, als er kurz mal vom Laptop hochschaut. „Linfield FC, fast 200 nationale Titel“, schießt es aus seinem Mund, als wäre er Gast in einer Quizshow. Natürlich geht auch eine Mail nach Linfield raus. Zum Schluss schreibt Steven noch an Lutz Pfannenstiel. Der hat als Torwart das Kunststück fertiggebracht, auf jedem Kontinent bei mindestens einem Profiklub gespielt zu haben. Wenn einer weiß, wie groß die Welt des Fußballs sein kann, dann Pfannenstiel. Steven bittet um Rat, will wissen, ob es Dinge gibt, die er bei Bewerbungen in Afrika, Asien oder sonstwo beachten muss. Um kurz vor zwei klappt er dann seinen Laptop zu und geht ins Bett.

Am nächsten Abend steht Steven in kurzer Hose und Fußballschuhen auf dem Trainingsplatz in Sachsenhausen. Eine Stunde braucht er mit dem Auto von seiner Köpenicker Wohnung in den Ort im nördlichen Berliner Speckgürtel. Nebel schleicht sich vom nahegelegenen Wald heran und kriecht langsam über den Rasen, schmiegt sich um die Beine der Spieler. Steven passt sich den Ball mit zwei Mitspielern zu, danach folgt leichtes Dehnen. Steven hat am Wochenende rund eine Stunde gespielt, über die vollen 90 Minuten wird er selten eingesetzt. „Ihm ist der Rost noch anzumerken“, sagt sein Trainer während einer kleinen Pause zwischen den Übungen. Oliver Richter, dünn, kurze Haare, ernstes Gesicht, Typ Realist, hat die Arme vor der Brust verschränkt, als er sagt: „Jeder weiß, wie schwer es ist, nach so langer Zeit zurückzukommen.“ Den Plan seines Spielers nennt er „sehr ehrgeizig“. Es gibt Leute, alte Wegbegleiter, die aufmerksam verfolgen, wie lange und wie oft Steven bei seinem Verein in der sechsten Liga eingesetzt wird. Die dann Sätze sagen wie: „Der spielt ja nicht mal regelmäßig bei den Amateuren und will Profi werden.“

Wenn Steven so etwas hört, ärgert er sich. „Was wissen die schon“, sagt er, zuckt mit den Schultern und schüttelt den Kopf. Trotzig kann er auch. Natürlich sind seine Zahlen nicht berauschend, das weiß er selbst. 17 Spiele im Jahr 2016 saisonübergreifend, ein Tor, zwei Vorlagen. „Ich habe eine Weile gebraucht, um mich an die robuste Spielweise in der Liga zu gewöhnen“, sagt er. Was tatsächlich kaum jemand weiß: Seine Einsatzzeiten sind genau mit Trainer Richter abgesprochen. Dabei geht es vor allem darum, die Belastung richtig zu dosieren, damit sein Körper gesund bleibt. Wenn Steven mal nur eine Halbzeit spielt, dann nicht, weil er so schlecht war, sondern weil er unter der Woche so hart trainiert hat. Dass so eine eigenwillige Behandlung möglich ist, „dafür bin ich Sachsenhausen dankbar“, sagt Steven.

Der Briefträger schüttelt den Kopf

Zum 31. Dezember hat er sich trotzdem abgemeldet. Im Januar und Februar laufen in den USA die Trainingscamps, und noch hat Steven die Hoffnung, irgendwo eingeladen zu werden. Sollte das nicht klappen und er im Frühjahr weiter in Deutschland sein, möchte er wenigstens in der fünften Liga spielen, vermutlich bei Germania Schöneiche. Aber das ist nur Plan C, nach Plan A: USA und Plan B: sonstiges Ausland.

Nach den Feiertagen, als Steven total ausgepowert vom Training am Müggelturm nach Hause trabt, ist der Briefträger gerade am Postkasten zugange. „Loofen? Hab ick früher ooch jemacht, nur schneller“, sagt er. War lustig gemeint, nur kann Steven darüber nicht lachen. „Kein Brief für mich dabei?“, fragt er. Der Briefträger schüttelt den Kopf. Als er Stevens traurige Augen sieht, klopft er ihm im Davongehen auf die Schulter. „Kopf hoch, Junge, wird schon werden.“

Steven weiß: Jeden Monat, jede Woche, jeden Tag, den er verliert, an dem keine Zusage kommt, sinken seine Chancen weiter. Notfalls will er mit dem Rucksack losziehen, irgendwohin, Amerika, Afrika, Asien, ganz egal und einfach vor den Trainingsplätzen warten, bis ihn jemand mitmachen lässt. Dann wird er die Chance nutzen, da ist sich Steven sicher. So sicher, dass er kurz nach Neujahr wieder vor seinem Laptop sitzt. Pfannenstiel hat nicht geantwortet. Linfield auch nicht. So geht das nun seit Wochen. Mit seinem Berater telefoniert Steven regelmäßig, der bemüht sich, kommt aber auch nicht voran. Noch immer gibt es keine Zusagen, keine Einladungen, nichts.

Steven Jahn reicht’s. Auch Träumer verlässt irgendwann die Geduld. Dieses Mal schickt er keine Bewerbungen raus, dieses Mal bucht er einen Flug. One way, Berlin-Belfast, Abflug am 12. Januar. Sein Rucksack mit den Fußballschuhen drin ist da schon gepackt.

Dieser Text erschien zunächst am 7. Januar 2017 in der gedruckten Tagesspiegel-Beilage Mehr Berlin. Nach der Veröffentlichung meldete sich der Viertligist FSV Luckenwalde bei Steven Jahn. Dort spielt er nun - wieder einen Schritt näher am Profifußball. Außerdem hatte er im Januar ein Probetraining beim Linfield FC. Er darf sich im Sommer noch mal vorstellen. Aktuell fehlte dem Verein das Geld, ihn zu bezahlen.

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