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Der Palast der Republik, alias "Erichs Lampenladen"Jahrelang wurde über das architektonische Aushängeschild der DDR gestritten. Schließlich entschied der Bundestag 2003, den Palast abzureißen. Seitdem ist er Geschichte.

© picture alliance/ dpa

Wowereits Nachfolger und die Berliner Mentalität: Eingeschlossene Westinsel - oder Hauptstadt der DDR

In ihrer Kolumne appelliert Hatice Akyün an die drei potenziellen Nachfolger von Klaus Wowereit, Raed Saleh, Michael Müller und Jan Stöß, mutig zu sein und Berlin endlich als das wahrzunehmen, was es ist: ein gigantisches Völkerkundemuseum.

Lieber Michael Müller, lieber Jan Stöß, lieber Raed Saleh! Ich musste lachen. Nein, nicht über Sie. Ich wollte wissen, wofür das Wort „Berlin“ steht. Berlin ist slawischen Ursprungs, leitet sich von „Brlo“ oder Berlo“ ab und bedeutet je nach Endung entweder Sumpf oder die trockene Stelle in einem Feuchtgebiet. Wahnsinn, wie dieses Wort zu unserer Stadt passt. Entweder befindet man sich im Sumpf oder man sitzt auf dem Trockenen.

Man kann nur mit den Ochsen pflügen, die man hat, heißt es in einem afrikanischen Sprichwort. Es ist auch nicht ganz einfach für Sie, eine kraftvolle Alternative zu dem Bisherigen anzubieten, während man gleichzeitig ja an allem beteiligt war. Was mich als Bürgerin bei Ihnen überhaupt nicht abholt ist, dass Sie unaufhörlich werten. Sie beschreiben die Zustände in der Stadt, grenzen somit Ihr eigenes Spielfeld ab und setzen dann die Schwerpunkte Ihrer zukünftigen Arbeit. Macht man das, um über einen gemeinsamen Nenner einen Gleichklang zu erzeugen, damit niemand mehr widerspricht? Oder versuchen Sie, möglichst elegant Konfliktfelder zu umschiffen? Irgendwie kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie aus dem gleichen Fenster des Roten Rathauses auf die Stadt blicken. Immerhin blicken Sie auf die Stadt. Aber warum herunter und warum nur aus dem einen, engen Blickwinkel?

Lassen Sie mich versuchen, meinen eigenen und ebenfalls unvollständigen Blick auf die Stadt zu richten. Alle drei wollen Sie investieren. In Infrastruktur, in Bildung, in Wohnen. Es ist ja kein Zufall, dass gerade hier vieles im Argen liegt. Jeder würde das tun, wenn er denn könnte, irgendwie. Die Mittel dafür sind aber nicht da und daran werden Sie mit Proklamationen auch nichts ändern können. Deshalb ist das, was Sie anbieten, so wohlfeil wie unkonkret. Also eigentlich so wie immer, oder?

Berlin besteht nicht aus zwölf Bezirken, sondern aus zwölf Großstädten. Sie ist Metropole und Bundesland zugleich. Bei uns fehlt nur der ländliche Raum, das Sauerland, die Schwäbische Alb, das Havelland. In jedem Bundesland gibt es Großstädte mit einem Oberbürgermeister, der vom Volk gewählt wird und der mit Verwaltung und Bürgervertretung, die mal Gemeinderat, mal Magistrat heißt, die Verwaltungsspitze aus diesem Gremium heraus bildet. Die Aufgaben Berlins sollten auch wieder dahin kommen, wo diese am besten geregelt werden können, in die Bezirke. Warum kann der Charlottenburger, Kreuzberger oder Pankower seinen Oberbürgermeister nicht selbst bestimmen? Berlin tickt immer noch zentralistisch als eingeschlossene Westinsel oder als Hauptstadt der DDR. Was uns fehlt, ist ein Wettbewerb eigenständiger Kommunen unter dem Dach des Landes Berlin mit direkter Mitsprache der Bevölkerung, nämlich von dort, wo sie lebt. Aufgaben sollten klar dort verortet sein, wo sie hingehören und nicht verschwimmen zwischen anonymer Bezirksverwaltung und unnahbarem Senat. Wenn man den Weg zu mehr direkter Bürgerbeteiligung ginge, sähe man auch, welcher Bezirk sich abgehobenen Luxusproblemen widmet, während anderen Ortes die Grundinfrastruktur kaum aufrecht erhalten werden kann.

Warum leisten wir uns ein Abgeordnetenhaus von Freizeitpolitikern, die von ihrer Arbeit für das Volk nicht leben können, nebenher Entscheidungen treffen, da sie hauptberuflich Geld verdienen müssen? Ich will gute Politiker, die ich zur Verantwortung ziehen kann und dafür muss ich sie auch bestmöglich arbeitsfähig machen. Dass sich da keiner ran traut, zeigt mir nur, wie tief das Bewusstsein der Politikverdrossenheit schon ist. Die Mutlosigkeit, aber vor allem die Verantwortungslosigkeit der Politiker in dieser Stadt lässt mich schier verzweifeln.

"Ich gestehe, meine Tochter geht auf eine Privatschule."

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. Im Tagesspiegel schreibt sie einmal pro Woche über ihre Heimat.
Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. Im Tagesspiegel schreibt sie einmal pro Woche über ihre Heimat.

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Wenn wir ehrlich sind, bekommen wir den Mangel in allen möglichen Nuancen unter immer neuen Überschriften vorgesetzt. Und genau genommen, erfährt man wenig oder gar nichts über die realen Hintergründe der Entscheidungsfindung. Stehen Sie doch mal zu den limitierten Möglichkeiten, die im krassen Gegensatz zu den Notwendigkeiten stehen. Benennen Sie doch mal den jährlichen Werteverlust unseres Volksvermögens, weil die Investitionsmöglichkeiten für die Erhaltung fehlen. Sagen Sie doch mal, was zu tun wäre, um Dinge zu verbessern und woran genau das scheitert. Nein, kein Wunschkonzert, sondern Anspruch und Wirklichkeit einfach offenlegen. Hinter der Milchglasscheibe des Amtszimmers, nimmt der Bürger nur noch austauschbare Schatten wahr. Wo ist der Schweiß, wo die Tränen, wo die Lust, wo die Leidenschaft?

Ich gestehe, meine Tochter geht auf eine Privatschule. Das ist kein Ausdruck einer blühenden Bildungsvielfalt, sondern die vom Munde abgesparte Notwehrreaktion einer Mutter, die den Glauben an die sich in Zeitlupe anpassende Schulsituation verloren hat. Wer Parallelgesellschaften nicht will, muss hier anfangen, weil der Bedarf real und nicht abstrakt aus einer Statistik entsprungen ist. Seit ich in Berlin lebe, dreht sich das Chancenkarussell der Bildungsmisere im Kreis und trotz aller Bekundungen, entscheidet nach wie vor der Geldbeutel, wer auf das weiße Pferd darf und wer auf dem Esel hinterherreiten darf. Wir verteidigen die Werte unserer Gesellschaft nicht in der Welt, sondern in jedem einzelnen Klassenzimmer.

In Berlin tummeln sich unzählige Lebensentwürfe, kongruente und sich ausschließende Lebensweisen. Unsere Parteiendemokratie speist sich überwiegend aus Menschen, die in geordneten Lebensbahnen ehrenamtlich ihre Freizeit investieren. Meistens, weil sie es sich leisten können. Das bildet aber nur einen kleinen Teil der Gesellschaft ab. Andere leben zwischen Geldarmut und Zeitarmut, im schlimmsten Falle mit beidem. Denen ist der Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe verbaut. Wiederum andere leben derart auf der Überholspur, dass sie sich nur in ihrem kleinkarierten Weltkosmos unter ihresgleichen bewegen.

Berlin ist ein gigantisches Völkerkundemuseum, ein ethnologisches Überlaufbecken, eine soziologische Lernwerkstatt. Klaus Wowereit wusste, dass er mehr Zoodirektor als Stadtdirektor war. Sein Nachfolger wird mehr Augenmerk auf die Vielfalt in dieser Stadt legen müssen, sonst bekommt der neue Regierende auf der Liste der bedrohten Tierarten gleich einen prominenten Platz.

Man kann, und in Ihrem Fall, muss man an seinen Aufgaben wachsen. Von Mustafa Kemal Atatürk gibt es ein Zitat: „Frieden im Land, Frieden in der Welt“. Ich fand diesen Spruch immer ziemlich platt. Mittlerweile habe ich begriffen, wie weise er ist. Es beschreibt nämlich nicht, wie es sein soll, sondern steht für das, was alles zu tun ist, damit man sich verträgt und jeder seinen Frieden findet. Oder wie mein Vater sagen würde: „Dünya bol olmus neye yarar, pabuc dar olduktan sonra.“ Was nützt es dir, wenn die Welt groß, dein Pantoffel aber zu klein ist?

Hier finden Sie weitere Texte unserer Kolumnistin Hatice Akyün.

Und wie wollen die drei Kandidaten die Stadt umbauen? Sie schildern es nacheinander in Gastbeiträgen für den Tagesspiegel. Den Anfang machte Raed Saleh, seinen Text finden Sie hier.

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