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Berlin: Wurst an Ort und Stele

Am Holocaust-Mahnmal öffnet eine Imbissbude. Wie viel Grillgut verträgt das Gedenken?

Der 9. August 2005 wird in die Annalen des Holocaust-Mahnmals eingehen. An diesem Tag, heute, eröffnet sich eine vollkommen neue Perspektive für alle, die in die Hauptstadt kommen, um das steinerne Monument zu durchstreifen. Niemand muss jetzt, unter den neuen Umständen, seine Stullenpakete aus dem Rucksack holen, um sich auf den von der Sommersonne gewärmten Steinen zum Picknick niederzulassen. Jedermanns Bedürfnisse nach einer kraftvoll braun gebratenen, knackigen, wahlweise mit Senf oder Ketchup bestrichenen Berliner Spezialität können nunmehr an Ort und Stele befriedigt werden. Schräg gegenüber dem „Ort der Information“ gibt es in einer kleinen, mit deutschem Fachwerk verzierten Bude vom heutigen Dienstag an Bratwürste, wahrscheinlich auch Nacken- und ähnliche Steaks, von zarter Hand gebrutzelt, gedreht und gewendet.

Wir kennen unsere Stadt, ja, wir lieben sie, und deshalb wundert man sich hier über gar nichts mehr. Wo immer eine größere Ansammlung von Mägen ins Knurren kommt, beweisen sich Einfallsreichtum, Initiative und Unternehmergeist. Das ist bei Placido Domingo in der Waldbühne ebenso wie bei Hertha und Union, wir erleben es gerade bei Goya – jede Menschenschlange lockt den Schokoladeneisverkäufer, den Brezelmann und die Bratwurstbraterie herbei, dazu den Zeitungs- und den „Stütze“-Mann. Meist fallen die kulinarischen Heilsbringer unter die Kategorie „Fliegende Händler“, nur in hartnäckigen Fällen touristischer Dauerbesetzung müssen feste Unterkünfte her, Kioske, die Wind und Wetter trotzen. Aber grundsätzlich geht die Bratwurst zum Kunden, man macht ihr gewissermaßen Beine, und manchmal geht das auch schief. Am Brandenburger Tor zum Beispiel nutzten selbst die Autogramme von ein paar Bundestagsabgeordneten nichts, unser Heiligtum sollte keinesfalls von den Schwaden der in kilometerlange Därme gestopften Thüringer Köstlichkeit zugedunstet werden. Deshalb musste der Stand umziehen. Die Mahnmals-Bratwurst hat größere Chancen. Sie steht nicht direkt im Zentrum des Stelenfelds, sondern mehr am Rande. Sie befriedigt die Bedürfnisse der von weither angereisten Touristen, denen freilich so etwas wie Demut verbieten sollte, mit der Wurst in der Faust zum Ort des Gedenkens zu schreiten. Oder fände das der Architekt vielleicht sogar super, weil es der dieser Stadt innewohnenden Toleranz einen sichtbaren Ausdruck gibt? Hat er je beim Entwerfen des Mahnmals an fritiertes Fingerfood gedacht? Nun fehlen eigentlich nur noch ein paar Stühle und bunte Sonnenschirme, und ’ne Cola wird’s ja wohl auch noch geben, zum Runterspülen. Nur in Englisch müssen sie es noch ranschreiben. Wir sind ja total international. Here is the best Bratwurst from Berlin. So in etwa.

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