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Berlin: Zaster ist Laster

Raphael Fellmer und seine junge Familie leben in Dahlem – und das ohne Geld. Dabei wollte der 28-Jährige früher eigentlich mal Millionär werden.

Der Redner hat seine Schuhe ausgezogen. Er steht barfuß auf dem Linoleumboden, in abgeschnittenen Hosen, mit zurückgebundenen Haaren. Rund 50 Besucher unterschiedlichster Herkunft lauschen ihm. Das Thema fesselt alle gleichermaßen: Es geht um Geld.

Der Redner ist Raphael Fellmer. Der 28-jährige Berliner lebt seit mehr als zwei Jahren ohne Geld. Sein Publikum sind Deutsch-Schüler an der Volkshochschule in Kreuzberg, einige haben schon von ihm gehört. Schließlich wird er mittlerweile sogar ins Ausland eingeladen, um konsumkritische Vorträge zu halten.

Am wenigsten überrascht reagiert Fellmer selbst auf das Interesse an seinem Geldstreik. Er ist überzeugt: Die Gesellschaft befindet sich auf dem Weg in ein Leben ohne Geld. In Zeiten der Eurorettung, der Jugendarbeitslosigkeit, der Occupy-Bewegung, haben inzwischen mehr als 2000 Facebook-Nutzer seine Statusmeldungen abonniert. Fellmer hat seinen Geldstreik professionalisiert. Seit April muss er nicht mehr in den Mülleimern der Supermärkte nach Essen fischen. Er bekommt ganz offiziell die Wegwerfware der Zehlendorfer Filiale einer Bio-Supermarkt-Kette und ist zu deren Nachhaltigkeits-Berater geworden. Was Fellmer zu geben hat, durch sein Leben ohne Geld, das ist Zeit. Allerdings ist sie momentan auch etwas knapp, weil alle etwas davon haben wollen.

Ein Kamerateam baut am hinteren Saalende sein Equipment auf. Es begleitet Fellmer seit mehreren Tagen für einen ZDF-Film. Unterdessen schreibt er die Adresse seiner Webseite an die Tafel, plus Herzchen, Smiley und Peacezeichen. Während des Vortrags reiht er darunter einen Haufen Zahlen: Die Tierindustrie ist für mehr als 50 Prozent der Treibhausgase verantwortlich. Wird ein Auto hergestellt, verbraucht das so viel Energie, wie ein Haushalt mit vier Personen in 15 bis 20 Jahren. „Vier Millionen Menschen weltweit bieten sich gegenseitig einen kostenlosen Schlafplatz an“, sagt Fellmer und notiert: 4 Mio. Das Couchsurfing sei ein gutes Beispiel für die allgemeine Neigung zum Geldstreik.

Sara aus dem Publikum fühlt sich inspiriert. „In der Krise müssen wir uns Alternativen überlegen.“ Die 24-Jährige ist für ihr Philosophiestudium von Madrid nach Berlin gezogen. Nach dem Arbeitsmarkt in der Heimat gefragt, schüttelt sie den Kopf. „Es ist nicht gut.“

Raphael Fellmer wollte eigentlich Millionär werden – um anderen zu helfen. Dann dachte er, das könne er am besten als EU-Präsident, und studierte European Studies in Holland. Doch in ihm reifte der Gedanke: „Es ist das Geld, das uns voneinander trennt.“ Zunächst probierte er das Leben ohne Kohle auf einer Reise nach Mexiko aus. Er trampte bei anderen Reisenden mit, stieg auf Lastwagen, enterte Segelschiffe. Nach elf Monaten kam er in Mexiko an, rechtzeitig zur Klimakonferenz in Cancún. Als er sah, wie die Teilnehmer in klimatisierten Räumen diskutierten, in Gebäuden, die auf einem Gebiet von Mangrovenbäumen standen, reichte es ihm mit der Politik.

„Jeder sollte den Wandel leben, den er in der Welt sehen möchte“, sagt Fellmer. Inzwischen wohnt er mit seiner Freundin und der fast ein Jahr alten Tochter im Haus einer evangelischen Kirchengemeinde in Dahlem. Statt Miete zu zahlen, arbeitet die Familie im Garten und erledigt Büroarbeiten. Nebenher beteiligt sich Fellmer derzeit an der Entwicklung einer Online-Plattform. Wer Essen abzugeben hat, soll es durch „foodsharing“ digital anbieten können. Ein Kamerateam, das auch diese Idee dokumentiert, hat sich schon angekündigt. Die vielen Anfragen bringen Fellmer nicht aus der Fassung. „Das ist keine Arbeit, sondern eine Berufung“, sagt er. Für Familie und Freunde bleibe ihm nach wie vor mehr Zeit als den meisten anderen Menschen.

Raphael Fellmer spricht am heutigen Sonnabend, 9. Juni, 14 Uhr bei der „Occupy Berlin Biennale“ im „KW Institute for Contemporary Art“, Auguststraße 69, Mitte. Infos unter www.forwardtherevolution.net oder www.startnext.de/foodsharing

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