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Das Canisius-Kolleg in Berlin.

© Doris Spiekermann-Klaas

Zehn Jahre Canisius-Missbrauchsskandal: „Die Kultur an der Schule hat sich geändert“

Vor zehn Jahren wurde der sexuelle Missbrauch von Kindern am Canisius-Kolleg publik. Die Schule arbeitete es auf. Was hat sich getan?

Der Sportlehrer öffnete die Tür, aber die falsche. Er stand plötzlich in der Umkleidekabine von Schülerinnen. Was war das jetzt? Böse Absicht? Ein bloßes Versehen?

Auf jeden Fall landete der Vorfall vor einiger Zeit beim Beschwerdemanagement des Canisius-Kollegs. Für Gabriele Hüdepohl, die Schulleiterin, die sich auch mit dem Fall befasste, war es letztlich „eine Form von Gedankenlosigkeit des Lehrers“.

Kein Grund zu großer Aufregung also. Aber die Schülerinnen haben sich gemeldet, das ist für Gabriele Hüdepohl entscheidend. „Ich finde es gut, dass Schüler und Schülerinnen den Mut haben, darüber zu reden“, sagt sie.

Klaus Mertes sagt: „Die Kultur an der Schule hat sich geändert.“

Mehrere Schüler erzählten von sexuellen Missbrauch in den 70er Jahren

Der Jesuit Mertes hat entscheidend dazu beigetragen. Am 28. Januar 2010, vor zehn Jahren, ist sein Brief an 600 ehemalige Abiturienten des Canisius-Kollegs öffentlich geworden.

Mertes hatte geschrieben, was ihm am 14. Januar 2010 drei ehemalige Schüler des Kollegs mitgeteilt hatten. Zwei Jesuitenpatres, die an der Schule unterrichteten, hätten sie in den 1970er Jahren sexuell missbraucht.

Der geschockte Mertes musste aufgrund der Schilderungen davon ausgehen, dass es noch viel mehr Opfer gab. Sein Brief schockte die Öffentlichkeit. Sexueller Missbrauch von Kindern wurde zum gesellschaftlichen Thema.

Zehn Jahre nach Aufdeckung der Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg in Berlin will der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, am heutigen Dienstag Bilanz ziehen. Nach dem Bekanntwerden der Vorgänge an dem Kolleg waren in ganz Deutschland viele weitere Missbrauchsfälle durch katholische Laien, Priester und Ordensleute ans Licht gekommen.

Die Bundesregierung hatte mit der Einsetzung eines Missbrauchsbeauftragten und der Einrichtung einer unabhängigen Kommission reagiert, die Betroffene anonym anhört und versucht Strukturen aufzudecken, die Kindesmissbrauch begünstigen.

Was hat die Schule aus der Geschichte gelernt?

Gabriele Hüdepohl sitzt in ihrem Büro an einem Konferenztisch, durchs Fenster sieht man den Sportplatz des Canisius-Kollegs. In der ersten Woche nach den Weihnachtsferien ist in allen Klassen noch mal der  Missbrauch von damals thematisiert worden, aus Anlass des zehnten Jahrestags natürlich. „Für die Schüler und Schülerinnen“, sagt Hüdepohl, „geht es um die Fragen: Wie ist unsere Schule heute? Was hat sie aus der Geschichte gelernt? Fühlen wir uns hier sicher?“

Dann zählt sie auf, was sich geändert hat, warum sich die Schüler jetzt hier sicher fühlen sollen. „Wir haben zusammen mit Facheinrichtungen ein professionelles Schutz- und Präventionskonzept entwickelt. Wir haben Schülerrechte formuliert und einen Verhaltenskodex für Lehrer.“

Eine Beschwerdemanagement wurde entwickelt

Das Beschwerdemanagement wurde entwickelt. Und jeder Schüler geht in seiner Schullaufbahn zweimal in Facheinrichtungen, die sich mit sexueller Gewalt und sexuellem Missbrauch befassen. Die fünften Klassen informieren sich bei „Kind im Zentrum“, die achten Klassen bei „Wildwasser“ oder „Tauwetter“. Die Kinder und Jugendlichen, sagt Hüdepohl, sollten wissen, wo die Anlaufstellen liegen, zu denen sie gehen können, wenn sie Probleme nicht in der Schule ansprechen wollen.

Schwerwiegende Verdachtsfälle mit Bezug auf die Schule, Hinweise auf sexuelle Gewalt, sagt Gabriele Hüdepohl, habe es seit 2010 nicht mehr gegeben. Beim Beschwerdemanagement landen Nachrichten, dass jemand verletzende Bemerkungen gemacht habe oder dass eine Schülerin den Eindruck hatte, sie sei unangemessen angeschaut worden. Meldungen, denen nachgegangen wird, die aber nicht die Dimension früherer Fälle haben.

„Damals gab es viele Jesuiten, die auch Lehrer waren“

Aber, sagt die Schulleiterin, „wir erfuhren hier von Verdachtsfällen, die nicht im Schulbereich lagen. Die Schule ist zu einem Ort geworden, an dem man über solche Fälle reden kann.“ Die weitere Aufklärung müssten dann Jugendamt und Polizei übernehmen. „Es ist ganz wichtig“, sagt die Schulleiterin, „dass Erwachsene erkennen, dass sie dafür verantwortlich sind, Strukturen zu schaffen, in denen Kinder sicher sind und gehört werden.“

Es gab schon vor 2010 Hinweise auf sexuellen Missbrauch am Kolleg, doch wurden sie nicht ernst genommen oder bewusst ignoriert.

Das Image der Kirche, das Image der hochangesehenen Schule war damals wichtiger. Träger des katholischen Gymnasiums ist der Jesuitenorden, vor 40 Jahren waren Jesuiten und Schule noch viel stärker verzahnt als heute.

„Damals gab es viele Jesuiten, die auch Lehrer waren“, sagt Gabriele Hüdepohl, „jetzt unterrichtet nur noch ein Jesuit.“ Der Rektor und Geschäftsführer der Schule, Marco Mohr, ist allerdings Jesuit.

„Ich war erschrocken“

Gabriele Hüdepohl leitet seit 13 Jahren die Schule, Pater Klaus Mertes hatte sie sofort über die Vorwürfe der drei Schüler informiert, er hatte mit ihr auch den Inhalt des Briefs abgesprochen. „Ich war erschrocken“, sagt sie. Nie habe sie entsprechende Hinweise erhalten. „Ich gehe auch nicht davon aus, dass die Lehrer wussten, was da war.“

Was hätte man anders machen müssen?

Was, Frau Hüdepohl, hätten Sie, im Rückblick betrachtet, anders machen können? Oder müssen?

Die Schulleiterin lässt die Frage auf sich wirken. Nach einer Pause sagt sie: „Schwierig. Ich weiß nicht, was ich vor 13 Jahren hätte anders machen müssen. Ich hätte eventuell durch die Gegend gehen müssen.“

Konkret falle ihr nichts ein. Natürlich habe auch sie sich verändert. „Ich bin sehr viel sensibler geworden für das Thema Vertrauensmissbrauch. Es ist immer wichtig, dass es in der Schule eine Kultur der Offenheit gibt.“

„Sie war für mich damals die größte Stütze“

Gabriele Hüdepohl hat diese Entwicklung vorangetrieben. Das jedenfalls erklärt Klaus Mertes. „Sie war für mich damals die größte Stütze“, sagt er am Telefon. „Frau Hüdepohl hat das große Verdienst, dass sie sich voll in die Verantwortung gestellt hat. Dadurch hat sie verhindert, dass die meisten nichtjesuitischen Kollegen gesagt haben: Das ist doch alles ein Problem der Jesuiten.“

Mertes verließ 2011 das Canisius-Kolleg, jetzt ist er Direktor der Jesuitenkollegs St. Blasien.

Die Strukturen der Jesuiten hab sich radikal geändert

Auch die Jesuiten haben radikal ihre Strukturen geändert nach 2010. „Jesuiten müssen jetzt ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen, bevor sie seelsorgerische Tätigkeiten ausüben dürfen“, sagt Mertes. „Es gibt Schulungen, die Ausbildung ist auf das Thema des sexuellen Missbrauchs ausgeweitet worden.“

Für ihn gibt es „zwei Schlüsselthemen“. Das erste ist „eine Professionalisierung auf der Ebene von Distanz und Nähe in der seelsorgerlichen Beziehung“, das zweite „eine Übernahme der Verantwortung gegenüber den Opfern“.

Der Jesuitenorden bezahlte Therapiekosten, hat Ausbildungsgänge nachfinanziert sowie Rentennachzahlungen geleistet. Bisher zahlt generell die katholische Kirche Opfern in der Regel als Anerkennung des Leids 5000 Euro. Die Summe kann in Einzelfällen auch höher liegen.

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Den Opfern ist das allerdings viel zu wenig. Matthias Katsch ist Sprecher der Opfer-Initiative „Eckiger Tisch“, er ist einer der drei Schüler, die damals zu Mertes gegangen sind. Die 5000 Euro empfindet er als „symbolische Anerkennung“. Schon als solche sei sie ein „Affront. Aber wenn man sie als Entschädigung betrachten soll, ist sie absolut lächerlich.“

Gabriele Hüdepohl, die Schulleiterin.
Gabriele Hüdepohl, die Schulleiterin.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Die beiden Jesuiten, die ihn und andere sexuell missbrauchten, standen nie vor Gericht. Ihre Taten sind verjährt. Einer der Täter lebt seit vielen Jahren in Chile, den anderen hat das Kirchengericht des Erzbistums Berlin im November 2013 zu einer Geldstrafe von 4000 Euro verurteilt. Außerdem darf er das Priesteramt nicht mehr ausüben, bleibt aber Priester.

Mertes steht immer noch in engem Kontakt mit Katsch. Am 14. Januar 2020 sagte er in einem Telefonat: „Danke, dass Sie mich vor zehn Jahren besucht haben.“

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