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Berlin: Zeitbomben

Hunderte Blindgänger unter Oranienburg. Sie können jederzeit explodieren

Oranienburg/Berlin - Oranienburg sitzt auf etwa 320 lautlosen Zeitbomben. So hoch ist nach nach einem Gutachten des Sprengstoffexperten Wolfgang Spyra der Anteil der Blindgänger aus dem zweiten Weltkrieg mit sogenannten Langzeitzündern, die noch nicht geborgen wurden. Nach seinen Angaben war die Fliegerbombe, die am Dienstagabend drei Mitarbeiter eines Räumkommandos in Göttingen tötete, von gleicher Bauart. Stadt und Landkreis sind alarmiert, doch für die Räumung der Altlasten fehlt Geld.

Oberhavels Landrat Karl-Heinz Schröter (SPD) befürchtet, dass ihn so eine Schreckensnachricht auch aus Oranienburg erreichen könnte. 1945 waren dort mehr als 4000 Bomben mit Langzeitzünder abgeworfen worden. Bei diesen Sprengkörpern zersetzt Aceton einen Zelluloidring, der den Schlagbolzen der Bombe zurückhält, und verzögert so die Explosion um etwa zwei Tage. Bleibt ein Blindgänger jedoch mit der Spitze nach oben stecken, haben die Chemikalien keinen direkten Kontakt. So können Sprengsätze auch Jahrzehnte später explodieren.

In Oranienburg muss laut Spyra, der dem Potsdamer Innenministerium bereits vor zwei Jahren ein Gutachten vorgelegt hat, deshalb „jederzeit mit der Detonation eines Bombenblindgängers gerechnet werden“. 420 Millionen Euro würde die Bombenräumung allein in der Innenstadt kosten. 25 Millionen Euro hatte der damalige Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) versprochen. Sein Nachfolger Rainer Speer (SPD) bewilligte angesichts der Haushaltslage neun Millionen.

Landrat Schröter fühlt sich von Potsdam nicht ernst genommen. „Wenn der Tod der drei Menschen in Göttingen irgendeinen Sinn gehabt haben kann, dann den eines Weckrufes für die Landesregierung“, sagt er. Im Innenministerium will man sich vor Abschluss der Untersuchungen in Göttingen nicht äußern, verweist auf die Zuständigkeit der lokalen Behörden. Und der Bund kommt laut Gesetz nur für die Beseitigung ehemals „reichseigener“ Munition auf, die aber auf deutschem Gebiet eher selten ist.

Für Oranienburgs Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke ist das völlig unverständlich. „Als märkische Kleinstadt sind wir damit überfordert.“ Man dürfe sich nicht hinter Gesetzen verstecken, wenn es um Menschenleben gehe. „Nach Göttingen muss doch jeder erkennen, wie gefährlich die Situation ist.“

Auch der Geschäftsführer der Güteschutzgemeinschaft Kampfmittelräumung, Hans Joachim Rosewald, mahnt, die Gefahr werde unterschätzt, die Suche nach Bomben aus finanziellen Gründen vernachlässigt. In Berlin ist die flächendeckende Suche deshalb bereits seit Jahren eingestellt. Auf Antrag von Bauherren wird die Stadtentwicklungsverwaltung noch tätig. Sie geht von etwa 3000 Blindgängern im Berliner Untergrund aus. „Langzeitzünder wie in Oranienburg haben wir aber nur sehr selten“, sagte Sprecherin Petra Rohland. Bei Entschärfungen gab es in Berlin seit Jahrzehnten kein tödliches Unglück, aber 1994 starben drei Menschen, als in der Pettenkoferstraße in Friedrichshain bei Bauarbeiten eine Bombe detonierte. Sidney Gennies

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