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Zensus 2011 in Berlin: Wenn der Volkszähler wieder klingelt

Im Mai startet der Zensus 2011 mit der Befragung von 170 000 Berliner Haushalten. Widerstand gibt es dagegen kaum. Vor knapp einem Vierteljahrhundert war das anders: Es kam zur Machtprobe zwischen Bürger und Staat.

Auf hunderten von Metern klebte eine Tapete aus Volkszählungsbögen an der Berliner Mauer – und die Boykotteure feixten, weil die wenige Meter entfernt aufgefahrene West-Berliner Polizei nicht eingreifen durfte. Der Grenzwall nämlich gehörte schon zum DDR-Gebiet. Wolfgang Wieland, damals junger Anwalt und Abgeordneter der Alternativen Liste, erinnert sich, wie er mit vollgekleisterten Händen dabei war. Die Berliner Vorläuferpartei der Grünen war im Frühjahr 1987 ein besonderes Zielobjekt der Behörden. Die Staatsanwaltschaft ließ die gesamte Post der Parteizentrale beschlagnahmen, nachdem die AL die Berliner aufgefordert hatte, ihr zuvor unbrauchbar gemachte Fragebögen zuzuschicken. Gleiches geschah in der SPD-Bundeszentrale. „Aufforderung zur Sachbeschädigung“, urteilte die Justiz. Und der Präsident des Abgeordnetenhauses ließ die Telefonleitungen kappen, damit die Alternativen nicht zum Boykott aufrufen konnten.

Was Berlin und das damalige West-Deutschland im Frühling 1987 erlebte, war eine Machtprobe. Hier zehntausende Menschen, die Datenmissbrauch und einen „gläsernen Menschen“ befürchteten. Auf der anderen Seite Behörden, die den zivilen Ungehorsam brechen wollten, um nicht erneut als Verlierer dazustehen. Denn schon 1983 hatte es massive Proteste gegeben, bis das Bundesverfassungsgericht die Zählung wegen einer Vielzahl von datenschutzrechtlichen Verstößen stoppte. Kritiker hatten neben der unzureichenden Anonymisierung der Daten bemängelt, dass es für jeden aufgespürten illegalen Ausländer eine Prämie von fünf Mark geben sollte.

„Da haben sich beide Seiten hineingesteigert“, resümiert Wolfgang Wieland 24 Jahre später. Der 63-jährige frühere Justizsenator der rot-grünen Koalition von 2001 sitzt für Bündnis90/Die Grünen im Bundestag. Die kommende Volkszählung sieht er viel gelassener. „Das ist heute keine Volkszählung wie damals, als jeder Bundesbürger Auskunft geben musste“, urteilt Wieland: „Es ist ein legitimes Anliegen zu wissen, wie viele Menschen in Deutschland leben – wenn es datenschutzfreundlich gemacht wird.“

Kaum noch nachvollziehbar ist der Furor, mit dem gegen die „Vermessung der Republik“ gestritten wurde; vor allem im eingemauerten West-Berlin, der Hauptstadt der Alternativ-Bewegung. Aus heutiger Sicht waren die Fragen harmlos. Aber die konfrontative Atmosphäre in Deutschland fachte den Protest an – hier eine konservative Bundesregierung mit ihrer „geistig-moralischen Wende“, dort das Aufbegehren gegen Nato-Nachrüstung und den Ausbau der Atomenergie. Bundeskanzler Helmut Kohl verglich die Boykotteure mit „Faschisten“. Zusätzliches Misstrauen vor einem „Überwachungsstaat“ schürten die Fantasien eines Horst Herold, Chef des Bundeskriminalamtes und Erfinder der Rasterfahndung, der sämtliche Datennetze zusammenführen wollte.

Längst vergessen. Heute fürchtet Wieland keine unmäßige Ausforschung mehr, weil nur noch ein kleiner Teil der Bevölkerung direkt befragt werden soll. „Volkszählung light“ könnte man es nennen. „Sie sind vorsichtiger geworden und gehen mit spitzen Fingern an die Sache heran, weil sie nicht wieder eine Volksbewegung haben wollen“, urteilt der Jurist. Eine Protestwelle erwartet er deshalb nicht, auch wenn die Grünen im Bundestag gegen das Vorhaben waren. Wieland etwa findet die Frage nach der Religionszugehörigkeit problematisch – die wurde aber auf Wunsch der Kirchen aufgenommen. Ihn verwundert, dass die Angst vor Datenmissbrauch heute weit geringer ist als damals, obwohl die technischen Möglichkeiten weit größer sind. Heute offenbarten Menschen freiwillig ihr Innerstes – in sozialen Netzwerken oder bei Payback-Karten. „Der Selbst-Datenschutz muss verstärkt werden“, betont Wieland deshalb.

Dem könnte auch Klaus Voy zustimmen. Er ist heute als Projektleiter „Zensus“ beim Statistischen Landesamt für die Volkszählung in Berlin und Brandenburg zuständig. An die aufgeheizte Stimmung von damals kann sich auch Voy gut erinnern. Er war wie Wieland dabei – auf der anderen Seite. Rund 18 000 Mitarbeiter schickte der Berliner Senat mit den Erhebungsbögen zu den Mietern, um die Daten zu sammeln. Weil sich zu wenig Zähler freiwillig meldeten, wurden Mitarbeiter der Verwaltungen auch „zwangsrekrutiert“. Diesmal ist das nicht nötig: Alle notwendigen 1800 Zähler sind schon gefunden. Auch anderes sei nicht vergleichbar mit damals, sagt der 63-Jährige. Etwa, dass in der Hauptstadt nicht mehr jeder, sondern nur jeder 25. Berliner persönlich befragt werden müsse.

Im Sommer 1987 war Voy selbst als Zähler unterwegs. „Wir haben es durchgezogen“, sagt Voy und setzt hinzu: „Wir haben es jedenfalls versucht“. Vor allem in Norddeutschland, so erinnert sich Voy, wurde in einigen Städten die Datenerhebung heimlich abgebrochen, weil der Widerstand der Bürger zu groß war – Berlin aber blieb hart, trotz aller Probleme. Die zwangsrekrutierten Zähler verweigerten bei der ersten Gelegenheit die Arbeit, dann waren zusätzliche Noteinsätze nötig. Klaus Voy musste am Heinrichplatz in Kreuzberg, damals das Zentrum der Hausbesetzer und Linksautonomen, an den Türen klingeln. „Bei den türkischen Familien wurde man freundlich hineingebeten und bekam Tee angeboten“, erinnert er sich. Über Begegnungen an anderen Wohnungstüren schweigt er lieber. Und die besetzten Häuser habe man damals lieber ignoriert. Voy nennt die Einsätze rückblickend eine „Alibi-Aktion“. Im aufrührerischen Kreuzberg gingen Zähler etwa in der Mittagszeit von Tür zu Tür und hofften insgeheim, dass niemand zu Hause war; man darf sich denken, wie aussagekräftig die erhobenen Daten waren. „Das war eine Radikalisierung von beiden Seiten“, sagt Klaus Voy.

Mehr als die Hälfte der Berliner äußerten Zweifel an der Befragung und die Stadt war überschwemmt mit Protest-Klebern: „Lass dich nicht erfassen“. Klaus Staeck, heute Präsident der Berliner Akademie der Künste, hatte sie entworfen. Über Monate gab es Demonstrationen; 15 000 Menschen zogen über den Kurfürstendamm unter dem Motto „Zählt nicht uns – zählt eure Tage“. Etliche Aufzüge endeten mit Steinewürfen, kaputten Scheiben und Festnahmen. Ein Störsender überlagerte minutenlang die Tagesschau mit Parolen gegen die Volkszählung. Die Behörden schlugen zurück: Über 42 000 Bescheide mit Zwangsgeldern bis zu 500 Mark wurden in Berlin verschickt; jahrelang zogen sich die Prozesse hin. Insbesondere Innensenator Wilhelm Kewenig (CDU) verteidigte ein hartes Vorgehen gegen Verweigerer. Die Boykott-Initiativen, „die mit allen Mitteln versucht haben, dem Staat eine Schlappe beizubringen, sind klar gescheitert“, erklärte Kewenig im Dezember 1987. Mit der Einschätzung stand der Senator ziemlich allein; Statistiker beklagten die hohe Fehlerquote in den Bögen.

Kewenig trug seinen Teil zur Tradition der Kreuzberger Mai-Randale bei. Ausgerechnet am 1. Mai 1987 ließ er die Berliner Polizei den alternativen Mehringhof in Kreuzberg stürmen und das zentrale Büro der Volkszählungsboykotteure durchsuchen. „Wegen Gefahr im Verzuge“ wurden tausende Bögen beschlagnahmt. In dieser Nacht brannte Kreuzberg zum ersten Mal.

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