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Berlin: Ziegenhof statt Kernkraftwerk

Am Sonntag hat sie den historischen Sieg der Grünen gefeiert. Jetzt hat der Alltag Renate Künast wieder. Sie ging auf Bildungstour durch die Bezirke

Renate Künast hebt die Arme ganz langsam über den Kopf, die Handflächen berühren sich, dann gehen die Hände nach oben in die Luft und wieder auseinander. Die Grünen-Spitzenkandidatin ist nicht beim Joga. Sie ist gerade eine Zwiebel, und vor ihr sitzen 20 Schulkinder und sind auch Zwiebeln, und alle machen die Bewegungen der Lehrerin nach. Sie blühen auf. Künast fragt: „Und was macht die Zwiebel im Winter?“ Aber so weit sind die Kinder noch nicht, das komme noch, sagt die Lehrerin, und Künast überlässt das Frühlingserwachen dem Nachwuchs.

An diesem Dienstagmorgen in der Gartenarbeitsschule am Sachsendamm mit Hühnern, Hasen und riesigem Freilandlabor, in dem Kinder Kartoffeln und Möhren ernten oder Beete anlegen, ist die Grünen-Politikerin wieder zurückgekehrt in die Ebenen des Berliner Wahlkampfs. Die Sonne scheint, Kinder laufen mit Harken umher, am Ende des Geländes, zwischen Stadtautobahn und S-Bahntrasse, glänzt der kleine Weinberg im Licht des Tages. 20 000 Schulkinder pilgern hier jährlich her. Künast sagt, für so einen schönen Termin müsse man eigentlich einen halben Tag Urlaub einreichen.

Am Sonntagabend hatte sie in der Berliner Parteizentrale der Bundesgrünen auch die Hände über den Kopf gehoben, aber vor Freude, sie hatte gejubelt über den historischen Triumph ihrer Parteifreunde in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Sie hatte gesagt, diese Siege gäben ihr Rückenwind. Sie hat nicht gesagt, dass diese Siege auch eine Bürde sind für sie, dass der Rückenwind nachlässt, wenn die Parteifreunde erst einmal regieren. Sie hat auch nicht gesagt, dass es jetzt nicht gerade leichter wird, Klaus Wowereit zu schlagen und Regierende Bürgermeisterin zu werden. Die Erwartungen an sie sind nicht kleiner geworden, jetzt, wo man bei den Grünen weiß, man kann es bis ganz nach vorne schaffen wie Winfried Kretschmann in Stuttgart.

Die Kandidatin ist Politprofi, sie weiß, es gibt die abstrakte Politik und die praktische. Besonders schwer aber ist es, Wählern zu erklären, dass Politik überhaupt praktisch sein kann, also bürgernah. Die Grünen in Berlin haben sich deshalb entschieden, die Finger zu lassen von großen Politversprechen. Renate Künast will keine Riesenreformen, sie will eine Politik von unten. Nirgendwo wird dieser Ansatz besser sichtbar als bei der Bildung, ihrem Thema Nummer eins im Wahlkampf.

Die Idee ist nicht neu, vereinfacht ausgedrückt geht es darum, dass die Politik nur Rahmenbedingungen stellt und für die richtigen Strukturen sorgt, ansonsten aber den einzelnen Trägern, Schulen, Kitas, Sozialeinrichtungen eher als Moderator und Multiplikator etwa für das Organisieren von privaten Geldgebern zur Seite steht. In der Gartenarbeitsschule überlegt Künast laut, welche Sponsoren hier helfen könnten, sie weiß ja, die öffentlichen Mittel sind begrenzt, die Bezirke pleite.

Ein paar Kilometer weiter südlich, in der Ludwig-Bechstein-Grundschule, Lankwitz-Ost, einem der wenigen sozialen Brennpunkte in Steglitz-Zehlendorf, führt Künast den Politbegriff „Sozialraumfinanzierung“ ein. Hört sich eher nicht nach praktischer Politik an, soll es aber sein. Sie sitzt in der Schulstation, zwischen Fußballkicker, Spieleschrank und einem großen Papierosterhasen. Die Schulstation ist eine soziale Einrichtung für die Kinder des Kiezes, direkt angebunden an Schule und Hort. Zwei Sozialarbeiter teilen sich eineinhalb Stellen, aber auch hier laufen die Verträge maximal ein Jahr, Planungssicherheit gibt es nicht. Sozialarbeit, sagt einer, werde immer nur in Zahlen gemessen, in Personen, die Quantität entscheide, aber niemand frage nach der Qualität. Ein Mitarbeiter hakt nach: „Ihre Sozialraumfinanzierung, Frau Künast, habe ich immer noch nicht verstanden.“ Künast sagt, es gehe darum, sich in den Kiezen, in einzelnen Stadtteilen zu vernetzen mit Unternehmen und freiwilligen Helfern. Man müsse sich genau angucken, woran es fehle – um dann handeln. Derzeit arbeite man noch an einem Konzept.

Später, auf dem Ziegenhof im Charlottenburger Danckelmannkiez, wieder so eine Stadtoase, mitten im Wohngebiet im Hinterhof gelegen, ein Paradies für Stadtkinder, spricht Künast dann von „Schulkonsens“, den es geben müsse, und zählt ihre Prioritäten auf: Erstens brauche Berlin sichere, saubere Schulen und genug Schulpersonal. Zweitens müsse Schule wieder „ein Ort des Erfolges werden“. Dies könne man nur gemeinsam mit den Eltern erreichen und mit einer besseren Ausbildung der Lehrer. Drittens müsse Schule im Stadtteil vernetzt werden. In der Schule und aus der Schule heraus soll neuer Bürgersinn erwachsen, sagt Künast, aber damit Eigenverantwortung funktionieren kann, müsse man auch Orte wie die Gartenarbeitsschulen oder eben den Ziegenhof fördern. Bildung, sagt Künast, sei mehr als Unterricht in der Klasse.

Am Abend in der Königin-Luise-Stiftung in Dahlem muss sie ihr Konzept in politische Formeln gießen.Sie hält eine Rede zur Bildung. Rund 60 Gäste hören Künasts Bekenntnis, man werde trotz Schulden und Schuldenbremse weder bei Bildung noch bei Kindern sparen – ein Wahlversprechen. Dann geht es um „neuen Stil“, „ein anderes Klima“, eine „andere Gesprächskultur“. Doch kommt auch die Grüne nicht ohne Politsprech aus: Sanierungspläne, Umschichten, Raumprogramme, Lehrkräftebedarfsplanung und dass eben alles effizienter werden müsse. Es gibt auch „wärmere“ Schlagworte. Künast fordert eine „Willkommenskultur“ für Lehrer, möchte „Kitas, die Familienzentren werden“, und „Schulen, die Mittelpunkte ganzer Stadtteile“ sind. Eine schöne, neue Schulwelt, praktisch und gut. Noch existiert Künasts Welt nicht.

An diesem Tag, in der Gartenarbeitsschule, auf dem Ziegenhof, in Dahlem, versucht sich die Kandidatin als Kümmerer, zurückhaltend herzlich, ein bisschen wie Winfried Kretschmann eben, der Grünen-Held von Baden-Württemberg. Einmal flüstert Künast einer Frau zu: „Unsere Politik wird von ganz unten kommen.“ Man wird sehen, was das heißen kann.

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