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Berlin: Zirkus Asiana: Schwerelos aus Nordkorea

Wer im Traum schon mal den freien Fall erlebt hat, kennt dieses atemlose Gefühl, diese Beklemmung ums Herz, dann ballen sich ganz unwillkürlich die Fäuste. Dieses Gefühl kriecht auch in jenem hoch, der Kim Song Sam bei der Arbeit in der Kuppel des Zirkus Asiana zusieht.

Wer im Traum schon mal den freien Fall erlebt hat, kennt dieses atemlose Gefühl, diese Beklemmung ums Herz, dann ballen sich ganz unwillkürlich die Fäuste. Dieses Gefühl kriecht auch in jenem hoch, der Kim Song Sam bei der Arbeit in der Kuppel des Zirkus Asiana zusieht. Der schmale Nordkoreaner vollführt sechs, sieben Umschwünge am Hochreck, das unmittelbar unter der Zeltdecke hängt. Plötzlich lässt er los und zischt in wirbelnden Pirouetten durch die Zirkuskuppel. Genau auf den Fänger zu, der zehn Meter unter ihm kopfunter an einer Stange schaukelt. Luft anhalten - mit einem klatschenden Laut prallen die Handflächen aufeinander. Doch der Fänger hält den Flieger nicht ... hält ihn nicht! Kim Song Sam stürzt ab. Ins Netz.

Bei der Probe im winterlichen Tageslicht sieht das, was die neun Nordkoreaner vom "Großen Fliegenden Trapez" da tun, besonders gefährlich aus. Denn es fehlen magische Beleuchtung und die phantasievollen Kostüme, die des Abends aus schwitzenden Arbeitern übermenschliche, vogelähnliche Wesen machen. Abends ist das Spannungsgefühl ein angenehmes Kribbeln.

Wir stolpern zwischen Pappmascheekriegern hindurch, die auf dem steinigen Boden des Festplatzes am Kurt-Schumacher-Damm stehen, hinter die Kulissen. Es ist eng. Links haben sich die 40 Chinesen eingerichtet, rechts die 14 Nordkoreaner. Insgesamt sind seit dem 19. Juli mit dem Zirkus Asiana 59 Künstler auf Tournee: Sie kommen vom Großen Chinesischen Staatszircus, vom Zircus der Inneren Mongolei und vom Nationalzircus Nordkoreas. Auf ein paar Quadratmetern haben sich die Asiaten hinter der Manege eine kleine Heimat zurechtgebastelt, abgeteilt durch schwarze Stoffbahnen. Eine Heizung pustet warme Luft um die Füße, denn tagsüber ist es im rot-weiß gestreiften Zelt eiskalt. Kim Song Sam, der 26-jährige Pirouettendreher, Ri Yong Son, der Fänger, 31, und Kim Kum Hi, 24, das einzige Mädchen der Gruppe, begleiten uns. Sie ziehen ihre Schuhe aus, stellen sie nebeneinander, setzen sich auf die Bierbank gegenüber. Sie sind fröhlich, die Probe war gut.

Ri Yong Son, der wegen seiner hübschen braunen Augen von der holländischen Mannschaft den Spitznamen "der Italiener" bekam, erzählt von den Ausflügen an den freien Montagen. Zumeist organisiert die holländische Managerin Touren zu den Sehenswürdigkeiten der Umgebung. Doch einmal konnten die Artisten sich durchsetzen: "Kartfahren war toll", übersetzt der Dolmetscher. Obwohl er sich kindlich darüber freuen kann, mit dem Bus zu fahren und den Nikolaus kennen zu lernen, ist Deutschland für Ri Yong Son beileibe nicht die große weite Welt. Denn mit dem Fliegenden Trapez gehört er zu den Zirkusstars, gerade hat die Truppe in Monte Carlo den "Oscar" der Branche gewonnen, den Goldenen Clown. Über Gagen spricht die Managerin nicht, "aber seien Sie sicher: die Neun können jede Forderung stellen." In ihrer Heimat seien die Artisten "Popstars". Wenn im Februar die Tournee beendet ist, wird ihnen zu Hause der rote Teppich ausgerollt. Vielleicht auch, weil die wertvollen "Exportschlager" einen Teil ihrer Gage im kommunistischen Heimatland abgeben.

Die Nordkoreaner bekommen regelmäßigen Besuch vom Botschafter. Dann stellen sich die acht Männer und die Frau in Reih und Glied auf. Am Revers tragen sie, einem Orden gleich, eine Anstecknadel mit dem Konterfei ihres "geliebten Führers" Kim Jong Il. Der alte Trainer der Truppe, Mr. Kim, trägt noch das Bildnis von dessen Vater Kim Il Sung - demonstrative Linientreue.

Das Leben der Artisten in Berlin ist bescheiden. Sie wohnen in einem Apartement-Komplex im Wedding. Einkaufen und Kochen erledigen sie selbst. Jorita Jannssens hilft ein bisschen, wenn es darum geht, Preise und Packungsinhalte zu erläutern - seit sich Kim Kum Hi die Haare mit Weichspüler gewaschen hat. Jeden Tag kommen zwei Artisten ein wenig früher als die anderen zum Zirkus, dann schnipseln sie in der Containerküche das Gemüse klein. Um 12 Uhr rücken die anderen an, es wird geprobt bis um halb drei. Dann gibt es Mittagessen, und jeder widmet sich seinen Hobbies. Einer spielt Gitarre, andere gucken koreanische Filme aus der Videothek. Um Kraft zu tanken für den langen Abend kuscheln sich die Trapez-Künstler dann in Schlafsäcken auf einem Stück Teppich zusammen und schlafen.

Das Große Fliegende Trapez ist der Höhe- und Schlusspunkt der Vorstellung. Während sich vorne "Die Eiskristalle", "Rolla Rolla", die "Oden an die Mongolei" und die "Lotusblumen" abspielen, wieseln die Nordkoreaner in schwarze Klamotten gehüllt als Hilfsarbeiter durch die Kulissen und bauen die Nummern der Kollegen mit auf. Bis es Zeit wird zu fliegen.

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