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Berlin: Zu viel Reform, zu wenig Lehrer

Berlin hat den Grundschulen mehr Neuerungen zugemutet als jedes andere Bundesland. Problemschüler bleiben dabei auf der Strecke

Berlin hat sich mit seiner Reformfreude offenbar übernommen – so lautete gestern die nahezu einhellige Reaktion auf die Probleme mit Erstklässlern, die mangels Förderung in der Psychiatrie landen. „Der grundlegende Fehler war, dass die Kleinklassen und die Klassen für Lernbehinderte abgeschafft worden sind“, hieß es seitens des Landeselternausschusses. FU-Grundschulforscher Jörg Ramseger sieht den Fehler woanders: „Die Reformen waren in der Sache richtig, aber sie brauchen eine solide Personalausstattung und eine andere Einstellung der Lehrer.“

Wie berichtet, schaffen es einige Grundschulen offenbar nicht, alle Reformen auf einmal zu bewältigen, darunter die Einschulung von Fünfjährigen und der Wegfall der Spezialklassen sowie der Verzicht auf Rückstellungen unreifer Kinder. Die Folge ist, dass Schüler auf der Strecke bleiben und schließlich von ratlosen Eltern und Kinderärzten in Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie geschickt werden, weil sie depressiv oder aggressiv-gewalttätig werden. Dies war jetzt durch den Brief des Vivantes-Klinikdirektors Oliver Bilke an den Senat beannt geworden.

Es ist nicht so, dass Berlin mit seinen Reformen allein dastünde. Allerdings lassen sich die anderen Bundesländer mehr Zeit. So erwägt Schleswig-Holstein zwar auch den Wegfall der Sonderklassen für Lernbehinderte, will aber den Schulen mehr Vorbereitungszeit geben. Zudem wurde die Schulpflicht nicht vorgezogen. Hamburg wiederum macht weniger Rückstellungen unreifer Kinder als früher, hat aber noch einzelne Lernbehindertenklassen und schult erst ab sechs ein. Brandenburg hat die Schulpflicht nur um drei Monate vorgezogen, erlaubt Rückstellungen und hat ebenfalls noch Sonderklassen für Lernbehinderte.

„Reformen brauchen Zeit“, meint denn auch FU-Professor Ramseger. Seit Jahren begleitet er die Entwicklung der Grundschulen und hat dabei festgestellt, wo die Probleme liegen. So litten die Schulen unter dem Personalmangel, der dazu führe, dass immer wieder Integrationsstunden für die schwierigen Kinder wegfallen, wenn Lehrer erkranken. Ein Schulleiter, so wurde gestern berichtet, benutzt einen Teil des Schulbuch-Etats inzwischen dazu, Honorarkräfte zu bezahlen. Das ist illegal, aber er weiß keinen anderen Rat. Eine Schöneberger Pädagogin erzählte gestern, dass in ihrer Klasse 75 Prozent der Integrationsstunden aus Krankheitsgründen ausgefallen seien: Der Klassenlehrer steht dann allein vor 20 bis 28 Kindern, von denen jedes zweite bis dritte ein Problemschüler ist: Die Einschulungsuntersuchungen ergeben regelmäßig, dass über 30 Prozent der Kinder kaum Deutsch sprechen; ein weiterer Teil hat Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten.

Um solche Kinder zu fördern, müssten die Lehrer über den Unterricht hinaus präsent sein und im Team arbeiten. „Wenn alle nach 14 Uhr nach Hause gehen, kann es nicht gelingen“, meint Ramseger. Damit genügend Zeit ist, um etwa auch für Problemkinder Lösungen zu finden, schlägt er vor, dass ein Nachmittag pro Woche für Besprechungen von Lehrern und Erziehern reserviert wird.

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