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Berlin: Zum Wohl der ganzen Schöpfung

Laut rufen die Glocken der Schöneberger Zwölf-Apostel-Kirche gestern Morgen in die Genthiner Straße hinein. Dort hört aber niemand die Einladung zum Gottesdienst.

Laut rufen die Glocken der Schöneberger Zwölf-Apostel-Kirche gestern Morgen in die Genthiner Straße hinein. Dort hört aber niemand die Einladung zum Gottesdienst. Fast niemand – eine junge Frau entsteigt hoch geschürzt und trotz der Kälte tief dekolletiert dem Auto eines sehr frühen „Freiers“, der sie wieder an ihrem zugigen „Arbeitsplatz“ auf der Straße absetzt. Ob sich die armselige Anbieterin käuflicher Liebe beim Klang der Kirchenglocken aus Not oder Sehnsucht fragt, wann endlich das Reich Gottes kommt, wie gestern der Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Zwölf Apostel in seiner Sonntagspredigt - muss offen bleiben.

Hätte sie in der Kirche, die August Stüler 1874 in strenger Schönheit baute, zu den knapp zwei Dutzend Gottesdienstbesuchern gehört, wüsste sie jetzt eher die Antwort. Die Antwort auf menschliche Zweifel am Sieg des Guten über das Böse. Ob sich Gottes Wille wirklich durchsetze in seiner Schöpfung, fragten schon die Pharisäer.

Und erhielten von Jesus eine Antwort, an der Generationen über Jahrhunderte herumgerätselt haben. „Das Reich Gottes ist inwendig in Euch“, habe Martin Luther diese Antwort aus der lateinischen Bibel übersetzt, sagt der Pfarrer, „auch wenn es noch so gotteslästerlich zugeht in der Welt.“

Das sei aber nicht die ganze Wahrheit, spann Heinz-Hermann Wittrowsky den Faden seiner Sonntagspredigt weiter. Gehe es Gott doch nicht nur um das Wohl der einzelnen Seele, sondern das der ganzen Schöpfung. Die Frage nach dem Reich Gottes verrate nur, dass man sein Kommen beobachten wolle. Gottes Verheißung sei aber nicht für Zuschauer gedacht, sondern ein Aufruf, in der gegenwärtigen Welt etwas zu ändern. Wer sich auf Gott erst einlasse, wenn dieser bewiesen sei, werde ihn nicht zu sehen bekommen. Auch organisieren lasse sich das Reich Gottes nicht, von keiner Kirche, Regierung oder Gesellschaft und auch nicht durch „Termine“ sektiererischer Rattenfänger. Sagte doch Jesus: „Ihr wisst nicht Zeit und Stunde“. Das bedeute, sich ständig freudig darauf einzustellen, dass der Tag gekommen ist. Nicht untätig sollen wir warten, sondern widrige Verhältnisse ändern – für das Reich Gottes in unserer Mitte. „Amen“ endete der Pfarrer - da brach die Sonne durch die hohen Kirchenfenster.

Heidemarie Mazuhn

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