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Berlin: Zur Kollekte steigen „99 Luftballons“

Reinickendorfer Evangeliumsgemeinde sucht Christliches in der Pop-Musik

SONNTAGS UM ZEHN

In der Sommerstraße treibt einem der scharfe Wind am Sonntag Tränen in die Augen, und in der Herbststraße tragen die Bäume jahreszeitlich noch keine Blätter, dafür der Gehweg um so mehr Abfälle. Am S-Bahnhof Schönholz wirkt Reinickendorf trist und ärmlich. „Liebe Einbrecher“, liest man im Vorbeigehen auf einer Kneipentür, und dass es sich hier nicht mehr lohne. „Ich leere selbst“, informiert der Wirt in Kreide.

Das unwirtliche Wetter macht die Gegend nicht besser. Um so angenehmer und freundlicher umschließt den Fremden dann die Evangeliumskirche am Hausotterplatz. Architektonisch schnörkellos ist das Gotteshaus, das am 4. April sein 50-Jähriges feiert. Auch drinnen wenig Schmuck und kirchliches Brimborium. Nur an der Kirchenlängswand fällt ein großes Netz auf, in dem viele bunte Fische mit Fotos hängen – die Täuflinge der Evangeliumsgemeinde.

Die hat sich zum Sonntagsgottesdienst mit Gästen besonders zahlreich versammelt – angelockt von einem Popstar. Am Kircheneingang bekommt man statt des Gesangsbuches dazu ein Faltblatt in die Hand – auf dem Titelblatt zeigt es die singende Nena. „Wunder geschehn“ ist eines der bekanntesten Lieder der Berliner Popsängerin, die seit 20 Jahren im Geschäft ist.

„Wir dürfen nicht nur an das glauben, was wir sehen“, heißt es in ihrem „Wunder“-Hit weiter – für Pfarrer Werner Rohrer ein Song, der ohne weiteres in eine Kirche passt. Christliche Motive in der Popmusik will er mit seiner Predigtreihe in der Evangeliumskirche aufzeigen.

Marius Müller-Westernhagen und Peter Maffay waren auch schon dran. Nun also Nena. Ob sie an Gott glaubt, konnte man sie gestern nicht persönlich fragen – und auch nicht die Kirchgänger, ob der Gottesdienst zu Liedern von Nena ihnen die sonntäglich gewohnte Erbauung brachte. Vielleicht deshalb begrüßt der Pfarrer nach den fremden Gästen seine „Kerngemeinde“ extra und wünscht viel Geduld. Für die mit Musik vermittelte Erkenntnis, dass etwas nicht falsch sein muss, nur weil es nicht in einem kirchlichen Zusammenhang gesagt ist, und auch dafür, dass Gottes Lob auch so möglich ist.

Wie bei Nena. „Nicht verzweifeln, denn da holt dich niemand raus. Komm, steh’ selber wieder auf“, heißt es bei ihr. Das nimmt der Pfarrer auf und vergleicht Deutschland Anfang 2004 mit einem generalüberholungsbedürftigen alten Tanker. Alle wüssten, es muss etwas geschehen, aber alle sagten: „Bitte nicht bei mir.“ Wunder gelte es da im Alltäglichen zu suchen, sagt Rohrer, „schließlich geht es uns allen doch noch gut.“

Auch Nenas „Weißes Schiff“ fährt gestern in der Evangeliumskirche ab – mit dem Lied und einer Bildmeditation dazu wird der Gemeinde vermittelt, dass wir mit Gott als Kapitän nicht allein sind. Die Fluss- und Kanalschiffermission ist auch nicht allein. Für sie wird gestern die Kollekte eingesammelt – dazu lässt eine Live-Band lautstark „99 Luftballons“ steigen.

Heidemarie Mazuhn

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