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Berlin: Zwei Belgier in Berlin

Heute wäre Zeichner Hergé 100 geworden. Seine Helden Tim und Struppi ließ er oft an die Spree reisen

„Wo sind Ihre Mitreisenden? Was haben Sie mit ihnen angestellt?“ Dies sind historische Worte, die ersten, die dem jungen Reporter Tim je im Ausland zu Ohren kamen, vorgetragen in barschem Ton. Ihr Urheber: ein Berliner Polizist, ganz Autoritätsperson, mit Tschako, Lederkoppel, Stiefeln, umgeschnallter Pistole, die Brust im Bewusstsein seiner Macht geschwellt. Keine schöne Begegnung.

Ja, die erste Station auf seinen Weltreisen – gewiss, nur ein Zwischenstopp und nicht mal freiwillig – machte der später so berühmte Journalist tatsächlich in Berlin, nachdem die Bombe eines sowjetischen Agenten seinen Zug zerfetzt hatte. Klar, dass sich die Polizei dafür interessierte, aber den einzigen Überlebenden (von Struppi mal abgesehen) als Täter zu verdächtigen und einzusperren – nein, so geht man nicht mit Gästen um. Ein Glück, dass die Berliner Schupos nicht sehr helle zu sein schienen. Für einen wie Tim ein Leichtes, ihnen zu entkommen.

Am 10. Januar 1929 waren Tim und Struppi in die Welt getreten, als Tintin und Milou im Jugendteil der belgischen Zeitung „Le XX. Siécle“, geschaffen von dem jungen Zeichner Georges Prosper Remi, der sich selbst Hergé nannte. Am heutigen Dienstag vor genau 100 Jahren wurde er geboren, und in vielen Ländern und Städten, ja sogar auf dem Mond könnten nun Gedenkfeiern stattfinden, Feste der Erinnerung an die Besuche des weltberühmten Paares – oder auch der Dankbarkeit gegenüber dem großen Zeichner, der sich durch diese Orte inspirieren ließ.

Berlin taucht im ersten Abenteuer „Tim im Lande der Sowjets“ gleich mehrfach auf. Für die Hinreise von Brüssel nach Moskau liegt das nahe. Aber bei der Flucht per Flugzeug aus dem lebensgefährlichen Sowjetreich hätte Hergé seine beiden Helden ja auch anderswo landen lassen können als ausgerechnet in Berlin, wo ihn diesmal alle hochleben lassen, in dem Irrglauben, er sei „Etappensieger des Wettflugs Südpol–Nordpol mit Zwischenlandung in Berlin“. Der Sekt fließt in Strömen, jetzt wäre Kapitän Haddock gefragt, aber der wird erst in späteren Abenteuern auftauchen, und so müssen Tim und Struppi ihren Rausch allein durchstehen – nur um beim Aufwachen erneut drei Schupos in die Hände zu fallen. Aber diesmal sind es verkleidete Sowjetagenten, die Tim und Struppi verschleppen. Erneut fliehen die beiden, schleppen sich stundenlang mit knurrendem Magen dahin, bis Tim aufjubelt: „Berlin!“ Sein kleiner Freund sieht das nüchterner: „Jetzt können wir endlich essen und schlafen!“

Doch trotz der für Berlin erfreulichen Bilanz – „Tim im Lande der Sowjets“ war kein Werk, auf das Hergé später sonderlich stolz war. Eher war es ihm peinlich, so sehr, dass er es als einziges unkoloriert ließ und nicht überarbeitete. Kenntnisse über den noch jungen Sowjetstaat besaß er kaum, seine einzige Quelle war der tendenziöse Bericht eines ehemaligen belgischen Konsuls in Rostow am Don. Entsprechend klischeebeladen und realitätsfern erscheint Hergés Debüt – ein Fehler, den er später peinlich zu vermeiden suchte, als akribischer Sammler von Informationen und Materialien, auf die er bei seiner Arbeit am Zeichentisch zurückgreifen konnte.

Auch Berlin war ihm dabei eine Quelle, wie der Hergé-Kenner Michael Farr in einem zum Jubiläum vorgelegten Band „Auf den Spuren von Tim & Struppi“ (Carlsen-Comics) zeigt. So findet sich in Hergés Nachlass eine Zeichnung des Berliner Illustrators Ferdinand Barlog aus der „Berliner Illustrirten Zeitung“. Als Teil einer Bildgeschichte zeigt sie die Hauptfigur beim Betreten einer Hafenbar – offensichtlich das Modell zu einer Szene aus Hergés „Der Schatz Rackhams des Roten“ von 1942.

Noch einmal half Hergé Material aus Berlin, bei der 1938/39 in der belgischen Zeitschrift „Le Petit Vingtième“ gedruckten Geschichte „König Ottokars Zepter“ – obwohl hier der zeitgeschichtlich-politische Einfluss weit wichtiger war als der ästhetisch-konkrete. In dem Abenteuer verhindern Tim und Struppi den Versuch des aggressiven und verbrecherischen Balkanstaates Bordurien, seinen friedlichen Nachbarstaat Syldavien erst durch Agenten zu schwächen und dann, nach vorgetäuschten Provokationen, zu überfallen. Es war nicht schwer, hinter dieser erfundenen Welt die reale zu erkennen, mit Hitler und Mussolini als Hauptakteuren, und Hergé hat alles getan, um hieran keinen Zweifel aufkommen zu lassen, von bordurischen Schergen in SS-ähnlicher Uniform bis zu Messerschmitt-Jagdflugzeugen, die bei der deutschen wie auch der bordurischen Luftwaffe eingesetzt werden. Aber die Parallelität hatte Grenzen, und so baute Hergé in die sylvadische Hauptstadt Klow ein Detail ein, dessen Vorbild sich in Berlin, dem Alter Ego der Hauptstadt Borduriens, befand.

Wieder einmal hat Struppi Hunger, als er und Tim Klow endlich erreichen. Die gekreuzten Knochen unter dem Totenkopfschädel an der Tür zu einer Trafostation haben seinen Appetit erst recht angeregt, da passieren sie einen Ort, an dem es Knochen in Hülle und Fülle gibt: das Naturkundemuseum. Und während Tim den Regen abwartet, schleicht Struppi sich hinein und schnappt sich einen der allergrößten Knochen: den rechten Unterschenkel eines Diplodocus carnegi. Nein, nicht eines, sondern des größten Dinosauriers aus dem Berliner Naturkundemuseum. Denn die Vorlage zu dem schenkellosen Saurierskelett mit dem verdutzt davorstehenden Wächter war eine alte Fotografie aus dem Haus in der Invalidenstraße, die sich ebenfalls in Hergés Nachlass findet. An dem Museumsbesuch hatte Struppi, den Saurierknochen quer im Maul, wenig Freude. Der enge Abstand zwischen einer Häuserecke und einem Laternenmast bremste ihn jäh, benommen ließ er den Knochen fallen – ein gefundenes Fressen für die Straßenköter der Hauptstadt Syldaviens.

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