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Berlin: Zweijährige allein im Zug

Mutter war durch Missgeschick von ihrer Tochter getrennt worden. Bahn ließ Regionalexpress nicht stoppen, der Fahrplan ging vor

Pritzwalk - Die Deutsche Bahn hat ein zweijähriges, durch ein Missgeschick von seiner Mutter getrenntes Mädchen 45 Minuten lang allein im Zug fahren lassen, ohne die Polizei zu informieren. Am Freitag wollte die Frau mit ihrem Kind im Bahnhof Pritzwalk aussteigen. Sie hob als Erstes den Kinderwagen aus dem Triebwagen – doch dann schlossen sich die Türen: Regionalexpress 18607, Abfahrt nach Berlin um 9.38 Uhr, rollte weiter. In ihrer Verzweiflung wandte sich die Mutter sofort an einen Bahnbeamten. Dieser lehnte jedoch unter Verweis auf den einzuhaltenden Fahrplan ab, den Zug stoppen zu lassen. Nach Angaben einer Bahnsprecherin habe die Fahrdienstleitung immerhin den Schaffner im Zug angerufen, der sich um das Mädchen „gekümmert“ habe. Wieso niemand auf die Idee gekommen sei, die Polizei zu informieren, konnte die Sprecherin am Sonnabend nicht sagen.

Dass das Kind über sieben Zwischenstationen, darunter die größere Stadt Wittstock (Dosse), bis nach Neuruppin mitfahren musste, begründete die Bahnsprecherin so: Wegen des Streiks der Lokführer am Freitagvormittag habe es „keinen Gegenzug gegeben, mit dem wir das Kind hätten zurückschicken können“. Erst am Montag sollen die Verantwortlichen befragt werden, wieso das Kleinkind wie ein Gegenstand behandelt wurde, den man mit dem „Gegenzug“ wieder zurückbefördern kann.

Die aufgeregte Mutter der kleinen Marie wählte den Notruf 110 – aber erst um 10.13 Uhr, wie der Wachleiter des zuständigen Polizeiabschnitts für die Prignitz am Sonnabend sagte. Zu dieser Uhrzeit hatte der Zug bereits Walsleben erreicht – ein Ort kurz vor Neuruppin. Mittlerweile waren zahlreiche Streifenwagen im Einsatz, die dem Zug folgten. In einem saß die Mutter, die von den Beamten am Pritzwalker Bahnhof abgeholt worden war. Am Ende dieser ungewöhnlichen Verfolgungsfahrt konnte die Mutter dann ihre Tochter wieder in die Arme nehmen, sagte ein Polizeibeamter gestern. Mit einem Streifenwagen wurden die beiden schließlich zum eigentlichen Ziel der Reise, nach Pritzwalk, zurückgefahren – ein Gegenzug fuhr ja wegen des Bahnstreiks nicht.

Marie hatte bei dieser Bahnfahrt noch Glück, dass in dem Triebwagen ein Schaffner mitfuhr, das ist nicht in jedem Zug auf der RE-Linie 6 zwischen Wittenberge und Berlin so. Wie schnell der Schaffner vom Fahrdienstleiter über das Kleinkind im Zug informiert wurde, blieb gestern unklar. Offen blieb auch, ob es ein Ermittlungsverfahren gegen die Deutsche Bahn geben wird. In der Vergangenheit hatte die Bahn wiederholt negative Schlagzeilen gemacht, weil Schaffner Jugendliche oder Kinder des Zuges verwiesen hatten, weil diese keine Fahrkarte hatten. Zuletzt hatte vor einem Jahr eine Schaffnerin in Königs Wusterhausen abends bei klirrender Kälte eine 16-Jährige aus dem Zug geworfen, weil das Mädchen nicht genügend Fahrgeld dabeihatte. Wie bei vorangegangenen ähnlichen Fällen hatte sich die Bahn „sehr betroffen“ gezeigt und Besserung gelobt. Immer wieder würden Schaffner (intern „Kundenbetreuer im Nahverkehr“ genannt) auf die Vorschriften hingewiesen, Kinder und Jugendliche auf keinen Fall aus dem Zug zu weisen. Die Schaffnerin sei abgemahnt worden, hatte die Bahn vor einem Jahr mitgeteilt.

Am Montag will der Konzern nun den Fall der kleinen Marie aufarbeiten. Zerknirscht gab man sich schon gestern.

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