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Ich selfie, also bin ich. Aber was ist mit der echten Welt?

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Zwischen Internet und Realität: Wir sind immer erreichbar. Aber wo ist unser Leben geblieben?

Wir lieben unsere Smartphones. Sie begleiten uns überall hin, sind immer für uns da. Das ist nicht gut. Wir müssen lernen, wieder Abstand zu nehmen und ein bisschen analoger leben.

Neulich im Restaurant. Fünf junge Menschen sitzen um einen Tisch, vor ihnen dampfende Teetassen, draußen klirrende Kälte. Neben jeder Tasse liegt ein Smartphone; bei jeder neuen Nachricht leuchten die Handys mit den Lichtern der Stadt um die Wette. Moderne Winteridylle mitten in Berlin. Auf einmal erlaubt sich jemand einen Scherz, greift nach dem Handy seiner Sitznachbarin und gibt den Code zum Entsperren einige Male mit Absicht falsch ein. „Smartphone ist deaktiviert – in 60 Minuten erneut versuchen“, erscheint eine Meldung auf dem Display.

Ich bin süchtig

An dieser Stelle bekommt die Winteridylle einen Knacks. Die Besitzerin des Handys beschwert sich, wird hysterisch, rastet aus. Sie brauche ihr Telefon in der nächsten Stunde, um die Bahnverbindung nach Hause rauszusuchen, und den Weg zum S-Bahnhof zu finden und überhaupt wollte sie gerade ein Foto auf Instagram posten, außerdem könne sie jetzt auch nicht mehr telefonieren.

Die Besitzerin des gesperrten Handys bin ich. Und die Situation hat sich ziemlich genau so vor einigen Tagen abgespielt. Ich schäme mich. Ich bin süchtig.

Wir verzichten lieber auf Sex als auf unser Handy

Mein Problem hat sogar einen wissenschaftlichen Namen: Ich leide an Nomophobie, eine Abkürzung für das englische Wort „No-Mobile-Phone-Phobia“. Damit bin ich nicht alleine. In einer Forsa-Umfrage vom April 2012 gaben zwei Drittel von 600 befragten Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 19 Jahren an, lieber auf alles andere, also Fernsehen, Party, Alkohol, und sogar Sex, zu verzichten, als auf ihr Handy. Wir sollten mehr Wert darauf legen, unser „echtes“ Leben zu optimieren, indem wir ein gutes Buch lesen, ins Theater gehen, oder Oma besuchen. Und danach eben nicht der ganzen virtuellen Welt mitteilen, wie gut Omas Apfelkuchen geschmeckt hat, und wie grandios die Theateraufführung war.

Es wird Zeit, dass wir uns wieder analog freuen

Wir sollten uns mehr analog freuen, nicht mehr der ganzen Welt unsere Urlaubsbilder zeigen, sondern nur noch ausgewählten Personen. Unsere Freunde anrufen und am Telefon gemeinsam lachen, statt unsere Belustigung durch „hahaha“ und breit grinsende Smileys zum Ausdruck zu bringen.

Einfach mal abschalten. Das versucht auch unsere Autorin
Einfach mal abschalten. Das versucht auch unsere Autorin

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Der angebliche technische Fortschritt wird zum Rückschritt. Durch Facebook, Twitter, WhatsApp und angeblich abhörsichere Alternativen haben wir bereits ein krankhaftes Mitteilungsbedürfnis und eine irgendwie gestörte Art der Kommunikation entwickelt. Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich Freunde mit „wir schreiben“ verabschiede anstatt mit „wir sehen uns“.

20 Leuten gefällt das - alles ist mega

Beunruhigend finde ich, dass ich mich diesen technischen Entwicklungen nicht entziehen kann. Tue ich es doch, habe ich automatisch das Gefühl, etwas zu verpassen, nicht dazu zu gehören, irgendwie hinter dem Mond zu leben. Gleichzeitig ist der Druck, sich ständig online zu präsentieren und vernetzt zu sein, enorm. Es reicht nicht mehr, Ideen und Nachrichten einfach nur aufzuschreiben; alles muss gepostet, geteilt, getwittert werden. In sozialen Netzwerken wollen wir uns selbst, aber vor allem allen anderen beweisen, was wir doch für ein geiles Leben haben. Likes und Tweets als Ego-Push. Ich poste ein Foto von meinen Essen, drei Leuten gefällt das - der Tag ist gelaufen. 20 Leuten gefällt das - alles ist mega.

Vielleicht brauche ich wirklich Hilfe

Was für ein Irrsinn. Nach dem Vorfall im Restaurant habe ich mir eine App heruntergeladen, die die eigene Handynutzung misst und analysiert, damit ich weniger drauf starre. Vielleicht brauche ich wirklich Hilfe.

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Nora Tschepe-Wiesinger

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