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80 Jahre, drei Mal Deutschland: Dieter Kühn schreibt sein „Lebensbuch“ /Von Hannes Schwenger.

Dieter Kühns Vorliebe für Lebensläufe – wahre und erfundene – ist bekannt. Seine Methode, sie nicht linear abzuschildern, sondern ihnen durch mögliche Varianten und die Hereinnahme des Erarbeitungsprozesses Dimension zu verleihen, hat ihm eine lange Liste von Buch- und Hörspielerfolgen eingetragen: von seinem biografischen Erstling „N“ (Napoleon Bonaparte) über die viel gerühmte „Präsidentin“ (die Geschichte einer Wirtschaftskriminellen von historischem Format) bis hin zu seinem Bestseller „Ich, Oswald von Wolkenstein“.

Dass er dennoch meint, an öffentlicher Anerkennung zu kurz gekommen zu sein, verrät ein Nebensatz in seinem eigenen Lebensbuch: Er habe seit 1993 „nicht mehr das allerkleinste Preislein erhalten“. Als Erklärung zitiert er ein Jurymitglied mit dem hingeworfenen Satz: Sie haben keine Lobby. Die Hypothese ist gewagt. Schließlich ist es ihm gelungen, nach dem „beleidigenden“ (Kühn) Abschied durch seinen langjährigen Verleger Siegfried Unseld mit dem S. Fischer Verlag, der ihn seit 1996 vertritt, erneut eine erste Adresse anzusteuern.

Bei Suhrkamp habe man ihm vorgehalten, „ich würde komplexe Schreibweisen fortsetzen, wie sie in den siebziger Jahren akzeptiert wurden, die aber heute nicht mehr ,in’ seien“. Kann das ein Vorwurf sein? Vom Festhalten an einer „komplexen Schreibweise“ zeugen schon die 1300 Seiten des Lebensbuches, die eine Spanne von fast 80 Jahren unter drei deutschen Staatswesen umfassen: eine Kindheit im „Dritten Reich“ in ständiger Furcht der Eltern vor Entdeckung des jüdischen Familienzweigs. Jugendjahre zwischen Neuanfang und Restauration in der Adenauer-Republik, die frühe Entdeckung der Literatur und die ersten Erfolge als Autor, politische Ehrenämter, schließlich „das große Fest der Wiedervereinigung“, das er in Halle mitfeiert. Allerdings ohne sein Befremden zu verbergen, als die neuen alten Mitbürger die erste Strophe des Deutschlandlieds anstimmen – „... über alles“. Ein deprimierender Ausflug in die Vergangenheit führt ihn nach Königsee in Thüringen, Kindheitsort und Familiensitz früherer Kühn-Generationen.

Irgendwann damals muss er den Plan zu seinem Lebensbuch gefasst haben, wenn er seine Frankfurter Poetikvorlesungen 1992/93 unter das Motto „Mein Lebensroman. Skizzen zum Modell einer Autobiografie“ stellte. Notizen und Entwürfe habe es schon seit 1987 gegeben, „aber Form und Gestalt nimmt das Lebensbuch nimmt das Lebensbuch erst diesseits der Jahrtausendwende an“. Er wäre nicht Dieter Kühn, wenn er nicht auf den ersten 60 Seiten seinen Stammbaum bis zur Verleihung eines Familienwappens im 16. Jahrhundert zurückverfolgen und bedauern würde: „Keiner der Vorväter in Thüringen hat eine Autobiografie hinterlassen. Doch es gibt Vorlagen, nach denen sich solch eine Lebensbeschreibung entwerfend rekonstruieren ließe. Es wurden im 18., im 17. Jahrhundert Autobiografien geschrieben nach Mustern, die sich reproduzierten.“

Die Versuchung muss groß gewesen sein, das nach seiner eigenen Methode nachzuholen. Aber eine konsekutive Familiensaga sollte daraus genauso wenig werden wie klassische Memoiren, die ihn „auch als Form nicht interessieren. Hingegen glaube ich, facettenhaft vermitteln zu können, was für mich in meiner Zeit charakteristisch ist.“ Das klingt wie eine vom Kopf auf die Füße gestellte Theorie des „Typischen“ im Sozialistischen Realismus, ist aber, vom Subjekt ausgehend, das genaue Gegenteil. Und natürlich gerät er gleich in Versuchung, seine virtuelle Biografie als DDR-Autor als „eventualhistorisches“ Modell zu entwerfen. Einiges von seinen früheren Besuchen in der DDR (auch bei Kollegen wie Franz Fühmann) hält er fest, als „Erfahrung von erheblich geringeren Entfaltungsmöglichkeiten. Dort wäre auch solch ein Buch eher schlank als ,vollschlank“ ausgefallen ... Staatlich organisierte Repression (und Kompression) hätte ablesbar auf Ich und Buch eingewirkt.“

Ein wenig Kompression hätte seinem Buch, auch ohne staatliche Repression, nicht geschadet. Das Buch kommt nur langsam in Gang, bevor es , wie das „magische Auge“ des Radiogeräts, das Kühn als Metapher dient, die Jugendjahre des Autors auratisch beleuchtet. Wenn er, wie er resümiert, durch eine unterkühlte Kindheit und eine autoritär geprägte Schulzeit „gefühlsmäßig quasi versiegelt“ wurde, hält er sich in der Erinnerung an Stimmungen und Farben der frühen Jahre – erst am Ammersee, dann in den Ruinen von Düren – schadlos und weckt damit freudige und schmerzliche Nostalgien seiner Leser.

Geländespiele, Abziehbilder, Kartoffelkäfersammeln, Feindsender-Hören, das erste selbst gebaute Detektor-Radio, Kaugummi, schwarzer Markt und Hamsterfahrten, Karl-May-Lektüre und erste Verliebtheit – von solchen Erinnerungen lassen sich Autor und Leser (zumindest die seiner Generation) gern einfangen.

Aber als dies alles verglimmt, ist Kühns Lebensbuch erst auf Seite 400 angelangt und hebt an, die spröde Geschichte eines langen Schriftstellerlebens und enttäuschten Engagements – als FDP-Wahlkämpfer, Stadtverordneter, Schöffe, Drogenhelfer und Politikberater der SPD in einer Gentechnik-Kommission – auszubreiten. Kühn belebt die Materie mit aleatorisch kombinierten Reisebildern und „eventualhistorischen“ Ausflügen und lässt es, mit angemessener Diskretion im Privatesten, auch nicht an emotionalen Momenten fehlen. „Das Gefühl“, erinnert er einen Flug von Maine nach Boston in einer zweimotorigen „commuter“-Maschine, „ich müsste mir das Herz herausreißen und es ein Stück in die Luft werfen, damit es wieder auskühlt, sich wieder zusammenzieht, wieder in den Brustkorb passt.“ Vielleicht beschreibt er da auch sein autobiografisches Verfahren: die magischen Momente und ihr Auskühlen. Bis das Herz eben wieder in den Brustkorb passt.

Dieter Kühn:

Das magische Auge.

Mein Lebensbuch.

S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013. 1300 Seiten, 29,99 €.

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