zum Hauptinhalt
Fortschritt und Technik. Der demokratische Staatspräsident (hier 1932) liebte Innovationen wie das Radio.

© imago

100 Jahre Tschechoslowakei: Wie Tómaš Garrigue Masaryk zum Präsidenten wurde

Er war ein Intellektueller, der an Bildung als Fundament für die Demokratie glaubte – und an die Gleichberechtigung der Frau.

Masaryk hatte Heimweh. Drei Jahre lebte er jetzt schon im Londoner Exil. Sein Sohn war an Typhus gestorben, die in Prag zurückgebliebene Familie wurde von der österreichisch-ungarischen Regierung unter Druck gesetzt, Tochter Alice gar ins Gefängnis gesteckt. Er wusste nicht, wie lang der Krieg noch dauern und wie er ausgehen würde, ob er sein Ziel, die Unabhängigkeit von Österreich, verwirklichen könnte. Wusste nicht, dass er am 28. Oktober 1918 zum ersten Präsidenten der neuen Tschechoslowakei würde, dass ihn seine Landsleute im 21. Jahrhundert als größten Tschechen, neben Jan Hus und Karl IV. feiern würden: den einzigen Intellektuellen, dem es je gelang, einen Staat zu gründen, und der den Humanismus zur Grundlage der Demokratie machte – das große Vorbild von Václav Havel.

1917 befand er sich, 67 Jahre alt, allein in seinem Pensionszimmer im Londoner Norden, ohne Geld und ohne Freunde, und kämpfte weiter für die Unabhängigkeit; sein wichtigster Mitstreiter, der 34 Jahre jüngere künftige Außenminister Edvard Beneš, befand sich in Paris. Dort lebte auch der Dritte im Bunde der Gründungsväter, der Slowake Milan Rastislav Štefánik. Finanziert wurde der Freiheitskampf vor allem mit Spenden von Auslandstschechen in den USA. Die Familie war unerreichbar, bis auf Tochter Olga, mit der Masaryk es 1914 gerade noch über die Grenze geschafft hatte. Wenn ihn die Einsamkeit überkam, tröstete er sich – nein, nicht mit Alkohol, von dem hielt er nichts, sondern mit Charlotte Brontë. Es gab keinen Tag in seinem Leben, in dem der Politiker nicht las, Gedichte, Romane, Dramen. Der Literatur, sagte er, verdanke er seine Menschenkenntnis. Und Brontë war die Lieblingsautorin seiner Frau, die ebenfalls Charlotte hieß, und die er nur Charlie, dear Charlie nannte. Ohne sie, die er für klüger hielt als sich selbst, hätte er sich, schrieb er ihr aus dem Exil, nie so entwickelt, wie er es tat.

Kennengelernt hatten sie sich in Leipzig, wo die Amerikanerin am Konservatorium studierte; aus der Karriere als Pianistin wurde wegen einer Lähmung der Hand nichts. Charlotte kam aus einer gutbürgerlichen Hugenotten-Familie, liebte neben Literatur und Musik die Mathematik und den lieben Gott. Das Paar las Plato und Shakespeare zusammen, die beiden diskutierten viel. Als sie 1878 in Brooklyn heirateten, machte er ihren Mädchennamen zu seinem middle name: Tomáš Garrigue Masaryk.

Charlotte zahlte einen hohen Preis

Die Suffragette, die in Prag für das Wahlrecht der Frauen auf die Straße ging, prägte ihn. Der Humanist wurde Feminist, die Gleichberechtigung der Geschlechter nahm er später in die Verfassung auf. Charlotte war seine wichtigste Ratgeberin bei der Entwicklung der Unabhängigkeit. Unabhängig war sie selber. Statt in die Partei ihres Mannes einzutreten, wurde die vierfache Mutter Sozialdemokratin.

Eigentlich ein Gegner der Monarchie, machte der „Philosoph auf dem Thron“, wie Masaryk mal genannt wurde, die Republik zu einem fast dynastischen Familienprojekt. Tochter Alice wurde Mitglied der Nationalversammlung – mit einem Sitz, der wohl eigentlich den Slowaken zustand – und betrieb in ihren 20 Jahren als Leiterin des Roten Kreuzes jene Sozialpolitik, die sie als Grundlage einer funktionierenden Demokratie betrachtete. Sohn Jan wurde Diplomat und nach dem Zweiten Weltkrieg Außenminister.

Charlotte allerdings zahlte einen hohen Preis. Die Repressalien, die Angst, die Trennung von ihrem Mann während des Exils machten sie krank. Zu seiner triumphalen Rückkehr am 21. Dezember 1918, als Tausende den neuen Staatspräsidenten bei seiner Einfahrt mit dem Zug an den Gleisen empfingen, konnte sie nicht kommen. Wirklich erholt hat sie sich nie. 1923 ist die First Lady gestorben.

Aber sie war eins der wenigen Opfer. Eine blutige Revolution hatte es nicht gegeben. Die war gar nicht nötig gewesen. 1917 schon hatten die Alliierten die Unabhängigkeit der Tschechen und Slowaken von Österreich-Ungarn zu einem ihrer Kriegsziele erklärt. Masaryk wurde international respektiert, hatte einen guten Draht zu den Amerikanern im Allgemeinen und Präsident Wilson im Besonderen. Sie trauten ihm. Denn der weltoffene Masaryk, der die Russische Revolution, die ihm auf seinem eigenen Weg der Befreiung half, begrüßte, aber den Kommunismus ablehnte, propagierte einen demokratischen Nationalstaat. Nach seinem Motto gefragt, antwortete er: „Jesus – nicht Cäsar.“

Vom Schlosserlehrling zum Staatsoberhaupt

Als Gegner eines fanatischen Nationalismus war er schon lange vor dem Krieg bekannt geworden. 1886/87 wies Masaryk nach, dass Handschriften, die als mittelalterliche Belege für Tschechiens Ansprüche einer eigenen Nation gefeiert wurden, Fälschungen waren. Einen modernen Staat auf einer Lüge aufzubauen, lehnte er ab. Damit hat er sich viele Feinde gemacht.

Noch heftiger wurde er bei einem zweiten Skandal angegangen. 1899 ergriff er Partei für einen jüdischen Mann, der eines Ritualmordes bezichtigt wurde. In seinen Gesprächen mit dem Schriftsteller Karel Mapek, die 1935 als eine Art Autobiografie und Vermächtnis erschienen, gab Masaryk offen zu, dass dieser Einsatz eine Sache des Kopfes, nicht des Herzens war. Dafür, bekannte er, saß der Aberglaube seiner Mutter zu tief. Sie hatte ihm erzählt, dass Juden sich Christenblut nahmen.

Masaryk kam aus kleinen Verhältnissen. Sohn eines slowakischen Kutschers und eines mährischen Dienstmädchens, das ihn in seinem schulischen Ehrgeiz unterstützte, hatte er es nach oben geschafft: vom Schlosserlehrling zum Staatsoberhaupt. Für einige war eine solche Laufbahn schwer vorstellbar. Immer wieder tauchen Gerüchte auf, er sei in Wirklichkeit der leibliche Sohn eines hohen Herrn, vielleicht sogar von Kaiser Franz Joseph persönlich.

Der Aufsteiger war einen krummen Weg gegangen, musste zwischendurch immer arbeiten. In Wien, dem Zentrum des Kaiserreichs, verbrachte er prägende Jahre. Hier habilitierte er sich auch über den „Selbstmord als soziale Massenerscheinung der Gegenwart“. Prag war ihm fremd, als er 1882 seine Professorenstelle an der neugegründeten tschechischen Universität in Prag antrat. Er hatte keine engen Freunde, fürchtete, dass ihm die Stadt, nach Wien, provinziell vorkommen würde.

Liebe, Liebe über alles

Mit der First Lady. Präsident Tomáš Garrigue Masaryk und Ehefrau Charlotte Garrigue 1920 in Prag.
Mit der First Lady. Präsident Tomáš Garrigue Masaryk und Ehefrau Charlotte Garrigue 1920 in Prag.

© imago/CTK Photo

Aber der Denker war Pragmatiker. Jetzt also Prag. Und Politik. Der Name, den er der von ihm mitbegründeten Partei gab, spricht Bände: Realisten. Für sie saß er im Wiener Reichstag. Die Abneigung gegen Österreich-Ungarn wuchs. Er würde einen Vielvölkerstaat der anderen Art gründen, in dem die verschiedenen Gruppen, Tschechen, Slowaken, Deutsche, Ungarn gleichberechtigt waren. Zumindest in der Theorie. In der Praxis waren die Tschechen dann doch noch etwas gleichberechtigter. Von den 270 Sitzen im Parlament etwa waren nur 54 für Slowaken reserviert, die regionale Autonomie wurde weitgehend abgeschafft. Ein zweiter Geburtsfehler: Die Verfassung wurde durch die provisorische Nationalversammlung, nicht durch ein gewähltes Parlament verabschiedet. Doch unter dem Strich sorgte eine große Regierungskoalition für eine auch wirtschaftlich ganz stabile Republik.

Die Superlative, mit denen TGM, wie viele Tschechen ihn nennen, überschüttet wurde, mag man kaum glauben. „Masaryks Tschechoslowakei“, meinte Karl Popper, „war wahrscheinlich einer der besten demokratischen Staaten, die je existierten.“ Selbst der für seine ätzenden Worte bekannte Schriftsteller Karl Kraus zählte zu seinen Fans. 1926 nannte er Masaryk „ein Wunder der Weltgeschichte, nämlich die Verbindung von Staatsmann und Ehrenmann.“ Gerade das war es auch, was der Schriftsteller, Dissident und spätere Staatspräsident Václav Havel bewunderte: Masaryks Integrität. „Was Masaryk lehrte, das tat er auch.“ Ein Vordenker der Zivilgesellschaft. „Er glaubte an die Mündigkeit der Bürger.“ Um dieses Ziel zu erreichen, gab es für ihn nur einen Weg: Bildung, als Fundament der Demokratie. 1930 waren 96 Prozent der Bevölkerung alphabetisiert.

Es existieren Aufnahmen von ihm, in denen er 1929 strahlend für den jungen Tonfilm wirbt. Masaryk liebte Innovationen. Er glaubte tatsächlich, dass der technische Fortschritt auch gesellschaftlichen bringen würde. Auf Englisch malte er sich in einer Szene dieses Films Übertragungen aus, bei denen eines Tages jeder zu Hause sitzen und von dort drahtlos zum Beispiel Tiere in Afrika beobachten könnte. Dann würden alle gezwungen, ehrlich zu sein, es gäbe keine geheimen Verschwörungen mehr. „Vanderfull – no?“ fragte er in seinem tschechisch gefärbten Englisch in die Kamera. Anschließend setzte der passionierte Reiter sich aufs Pferd und galoppierte davon.

Man mag das naiv nennen – aber er hat an die Utopie geglaubt. In seinen Gesprächen mit Karel Mapek klingt er manchmal fast wie ein Hippie: Liebe, Liebe über alles.

Das Sudetenland wurde zum Konfliktherd

Dreimal wurde Masaryk als Staatspräsident vom Volk in seinem Amt bestätigt, bevor er 1935 zurücktrat. Zu spät, wie Kritiker fanden, der 85-Jährige hätte eher Jüngeren Platz machen sollen. Zum Nachfolger bestimmte er seinen frühen Mitstreiter und Außenminister Beneš. Der bald vom Thron geschmissen wurde.

Bei der Gründung des Staates hatte Masaryk auf den historischen tschechischen Grenzen bestanden. Dass inzwischen im Grenzgebiet ein paar Millionen Deutsche lebten, „die die Ohren hängen lassen, wenn Deutschland sich ergibt“, wie er am 31. Oktober 1914 aus Washington an Beneš schrieb – Pech für sie. Auch da gab er sich pragmatisch: „Es ist gerechter, drei Millionen unterzuordnen, als dass zehn Millionen untergeordnet werden.“ Die Deutschen waren nun Bürger der Tschechoslowakei, in der sie weiter Deutsch sprechen konnten, aber keine eigene Amtssprache hatten. Für seine Anhänger gründete der Präsident damit einen multikulturellen Staat. Die Sudetendeutschen sahen das anders. 1938, ein Jahr nach Masaryks Tod, wurde das Münchner Abkommen unterzeichnet, das die Tschechoslowakei zwang, die überwiegend von Deutschen besiedelten Grenzgebiete abzutreten. Aus Angst vor einem Krieg, so seine Erklärung, lehnte Beneš sich nicht dagegen auf. Geholfen hat es seinem Land nicht. Im März ’39 marschierten die Deutschen im Rest der Tschechoslowakei ein.

1945 dann wurden die Sudetendeutschen vertrieben, die Kommunisten übernahmen drei Jahre später die Macht. Zu dieser Zeit war Masaryks Sohn Jan, immer noch überzeugter Demokrat, Außenminister. Am 10. März fand man ihn tot unter dem Fenster seiner Dienstwohnung in der Prager Burg. Der als „dritter Prager Fenstersturz“ bekannte Fall wurde nie aufgeklärt. Fest steht nur, dass es Mord, kein Selbstmord war.

Masaryk senior verschwand aus der Geschichte. Für die Nazis ein Judenfreund und Unterdrücker der Deutschen, verteufelten die Kommunisten den Republikaner aus dem Volk nun als Volksfeind und bürgerlichen Revanchisten. Allein schon seine Amerikaliebe machte ihn zur Unperson.

Masaryks Union hielt der Zeit nicht stand

Ganz ließ die Erinnerung sich nicht beseitigen. Die Demonstranten des Prager Frühlings beriefen sich 1968 auf die Symbolfigur des Freiheitskampfes ebenso wie ’89 die Anführer der Samtenen Revolution. Havels Widersacher Václav Klaus gehörte nicht zu der Schar von Masaryks Fans. Der war ihm zu links. Für den Geschmack des konservativen Marktwirtschaftlers wird der Gründungsvater zu stark glorifiziert als Väterchen der Nation. Er selbst nannte ihn mal einen Provinzpolitiker.

Die Union, die Masaryk geschaffen hatte, hielt der Zeit nicht stand. 1992 brach sie auseinander. Die Slowaken, die der Tscheche wohl auch aus strategischen Gründen mit ins Boot geholt hatte, wollten jetzt ihre eigene Unabhängigkeit.

An der Idee der Union hätte Masaryk mit Sicherheit festgehalten. Der Tscheche war überzeugter West-Europäer. Als 1925 die Frage diskutiert wurde, wer das Oberhaupt eines möglichen Bündnisses der Vereinigten Staaten von Europa sein könnte, erklärte der Schriftsteller George Bernard Shaw ihn zum einzig denkbaren Kandidaten.

Die frühere US-Außenministerin Madeleine Albright hat wiederholt Reden im Namen Masaryks gehalten. 1937 in Prag als Tochter eines Diplomaten geboren, der mit Jan Masaryk befreundet war, bewunderte sie Tomáš Garrigue Masaryk, den Demokraten, den Realisten und den Feministen. „Er benahm sich wie ein Präsident“, sagte sie bei einer Ansprache im Jahr 2000. „Er führte wie ein Präsident. Er sah sogar wie ein Präsident aus.“ Eine Figur, wie sie das 21. Jahrhundert durchaus gebrauchen könnte. Wie meinte er einmal: „Aufregung ist keine Politik.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false