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Im Rat der EU verhandeln die Beamten der nationalen Regierungen Europas Gesetze - unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

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150 Ausschüsse und 4000 Treffen im Jahr: Der Brüsseler Rat bestimmt weitgehend unkontrolliert die Gesetzgebung in Europa

Im Rat der EU verhandeln die Beamten der nationalen Regierungen Europas Gesetze unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Über eine problematische Institution.

Mit verdeckten Machtstrukturen kennt sich Emily O’Reilly aus. Als sie sich einst in Dublin um einen Job als Journalistin bewarb, sagte man ihr, sie solle tippen lernen, dann könne sie als Sekretärin arbeiten. Den Kurs machte sie nicht, aber 20 Jahre später war sie Politikchefin der irischen "Sunday Times".

Als sie bald darauf zur ersten Ombudsfrau für Irland berufen wurde, stieß sie auf ein Geflecht staatlicher Einrichtungen, die jenseits öffentlicher Kontrolle mit Milliarden jonglierten, um die faulen Wertpapiere maroder Banken zu verwalten. Da gab sie so lange keine Ruhe, bis alle beteiligten Stellen der parlamentarischen Prüfung unterstanden.

Seit 2014 dann legte sie sich als "European Ombudsman" mit EU-Kommissaren und EZB-Direktoren an, um Licht in deren Verstrickungen mit Lobbyisten und Konzernen zu bringen – auch das mit Erfolg. Das Parlament wählte sie gleich für eine weitere Amtszeit.

Doch ausgerechnet mit dem, wie sie sagt, "wichtigsten Teil meiner Arbeit" kommt die streitbare Irin seit Jahren nicht voran. "Alle Bürger haben das Recht, am demokratischen Leben der Union teilzunehmen", garantiert der EU-Vertrag.

Aber dieses Recht, so urteilt O’Reilly, "können sie nicht wahrnehmen". Das ergaben ihre Ermittlungen zu Europas mächtigster Institution: Den Rat der Europäischen Union, kurz Ministerrat genannt, jenem Organ also, wo die Regierungsbeamten der 27 Mitgliedsstaaten die Gesetze der EU verhandeln und beschließen, bevor sie sich mit dem Parlament auf die endgültigen Gesetzestexte einigen.

Aber wer dort wie über was genau verhandelt, und welche nationale Regierung welche Position vertritt, so stellt O’Reilly immer wieder fest, das halten die beteiligten nationalen Beamten systematisch geheim. Darum sei es "für die Bürger praktisch unmöglich, zu erfahren, wie ein europäisches Gesetz zustande gekommen ist".

Das aber "untergräbt ihr Recht, ihre gewählten Vertreter zur Rechenschaft zu ziehen" und "zielt ins Herz der Legitimität der EU", sagt sie.

Auch Transparency International kritisiert die EU

Geheime Gesetzgebung unter Umgehung des EU-Rechts? Das ist ein schwerer Vorwurf. Aber O’Reilly steht damit nicht allein. Auch Transparency International warnt vor der "Lücke in der Rechenschaftspflicht" und dem "demokratischen Defizit" im Ratsapparat. "Es ist nicht möglich, die legislativen Beratungen im Rat ordnungsgemäß zu verfolgen", schreiben die Bürgerrechtler in einer ausführlichen Studie, die sie nächste Woche vorstellen werden.

Die gleiche Beschwerde führen Parlamentarier aus 20 nationalen Parlamenten und mit ihnen prominente Juristen, darunter auch der frühere Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofes, der Portugiese Miguel Poaires Maduro. Die Geheimhaltungspraxis des Rates "widerspricht der geltenden Rechtsprechung", sagte er im Gespräch mit Investigate Europe.

Das europäische Journalistenteam hat darum eine Langzeitrecherche darüber begonnen, wie es zugeht, wenn nationale Diplomaten die Gesetze für die EU schmieden. Die ersten Ergebnisse öffnen Einblicke in eine weitgehend unbekannte Sphäre der Politik. Im Brüsseler Rat

- betreiben nicht gewählte Politiker, sondern nationale Regierungsbeamte die Gesetzgebung, darum gelten die Regeln der vertraulichen Diplomatie, nicht die einer transparenten Demokratie;

- behindert die diplomatische Geheimhaltung die Entscheidungsfindung und den öffentlichen Diskurs, darum stecken Dutzende wichtiger Gesetzesvorschläge jahrelang fest und scheitern, ohne dass die Bürgerinnen je davon erfahren;

- werden Reformen zur Steuerpolitik im Schutz der Geheimniskrämerei genauso blockiert wie eine Frauenquote für Aufsichtsräte. Den Langzeitrekord hält ironischerweise eine Verordnung für mehr Transparenz, die seit zwölf Jahren im Nirwana der Verhandlungen hängt;

- müssen sich die Verantwortlichen für ihre Ergebnisse und ihre Fehler fast nie öffentlich rechtfertigen, das ermöglicht Einflussnahme durch Lobbyisten und krumme Deals hinter dem Rücken der Wähler.

4000 Treffen und 150 Ausschüsse

All das geschieht in einen mächtigen Apparat, der – anders als das Parlament oder die EU-Kommission - den meisten EU-Bürgern völlig unbekannt ist. Davon zu sehen ist stets nur, wenn die Minister unter den bunten Flaggen Europas zusammenkommen, um für die Kameras ihre Standpunkte auszutauschen oder längst getroffenen Entscheidungen ihre formalen Segen zu geben.

Die tatsächliche Verhandlung über die Gesetzestexte erfolgt jedoch in mehr als 150 Ausschüssen und Arbeitsgruppen, in denen sich Beamte aus den nationalen Vertretungen und aus den Ministerien der Hauptstädte treffen.

Deren Arbeit koordiniert der Rat der ständigen Vertreter, im EU-Jargon nach der französischen Abkürzung "Coreper" genannt. Ihnen zur Seite steht dabei ein "Generalsekretariat", das mit 3000 Beamten das komplexe Räderwerk organisiert. Gemeinsam kommen alle Beteiligten auf rund 4000 Treffen im Jahr, die in den drei Gebäuden des Rates gleich gegenüber dem Sitz der EU-Kommission stattfinden, hinter verschlossenen Türen und ohne öffentliche Protokolle.

Wie dysfunktional diese Gesetzgebung mit diplomatischen Mitteln häufig ist, demonstriert das Schicksal eines Gesetzentwurfs, mit dem die EU-Kommission eine der größten Ungerechtigkeiten der globalisierten Wirtschaft bekämpfen will: die Steuervermeidung durch multinationale Konzerne. Diese buchen ihre Gewinne häufig dort, wo wie etwa in Irland die Steuersätze besonders niedrig sind, obwohl sie die zugehörigen Umsätze in anderen Ländern erzielen.

Gut 40 Prozent aller Konzerngewinne weltweit werden in solche Steuerfluchtzentren verschoben, kalkuliert das Team des Ökonomen Gabriel Zucman von der Universität Berkeley in Kalifornien. Das kostet die Staatskassen der EU-Länder nach Schätzung der Kommission bis zu 70 Milliarden Euro im Jahr, soviel wie knapp die Hälfte des jährlichen EU-Budgets.

Darum wollen die Kommissare alle in der EU tätigen internationalen Unternehmen mit jährlich mehr als 750 Millionen Euro Umsatz verpflichten, offenzulegen, wie viel Steuern sie auf welche Erträge in welchem Staat bezahlen. Das sogenannte "public Country-by-Country-Reporting wird dazu beitragen, das Steuerverhalten multinationaler Unternehmen zu untersuchen" und sie "dazu veranlassen, Steuern dort zu zahlen, wo sie Gewinne erzielen", begründet die Kommission ihren Vorschlag.

Bei Großbanken, die das schon seit 2014 berichten müssen, hat das auch die erwünschte Wirkung, und sie fuhren ihre Steuerflucht zurück Das EU-Parlament verabschiedet den Entwurf darum schon im Juni 2017 und weiß dabei die große Mehrheit der EU-Bürger hinter sich.

Das Gesetz gibt es nicht - bis heute

Das Gesetz gibt es trotzdem bis heute nicht. Denn hinter dem Schleier der Diplomatie gelang es der Konzernlobby, im Rat eine Blockade zu organisieren. Die wichtigsten Helfer dabei waren und sind die Wirtschaftsminister der deutschen Bundesregierung. Diese stellten sich dagegen, weil es angeblich "deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb benachteiligen würde", wie der derzeit zuständige Minister Peter Altmaier behauptet.

Das ist zwar wenig glaubwürdig, weil das Gesetz für alle in Europa tätigen Unternehmen gelten soll, auch solche aus China oder Amerika. Und Daten, die womöglich Betriebsgeheimnisse preisgeben, dürfen ohnehin verzögert berichtet werden. Aber die deutsche Haltung folgt der Linie des Lobbyverbandes Stiftung Familienunternehmen, die anders als der Name suggeriert vor allem Großunternehmen wie Lidl, Henkel oder Oetker vertritt.

Keine Regierung kann alleine ein Gesetz blockieren

Allerdings kann keine Regierung allein ein Gesetz für den EU-Binnenmarkt blockieren, auch nicht die deutsche. In der Regel bedarf ein Gesetzentwurf der doppelten qualifizierten Mehrheit: Die Befürworterinnen müssen 65 Prozent der Bevölkerung und 15 Mitgliedstaaten vertreten, dann ist er angenommen.

Die Regel schützt die kleinen Länder vor der Übermacht der großen und ist durchaus sinnvoll. Umgekehrt heißt es jedoch, dass schon 36 Prozent der Bevölkerung oder 13 Regierungen ausreichen, um neue Gesetze zu verhindern.

Ein solche Sperrminorität ist darum das perfekte Instrument für international organisierte Lobbygruppen, um ihnen unbequeme Gesetzesvorschläge gegen den Willen der Mehrheit zu stoppen oder zu verwässern. Und genau so läuft es auch mit dem Vorschlag, die Konzerne zur Steuertransparenz zu zwingen.

Jahrelang fanden sich stets genug Alliierte für die deutsche Position. Aber wer sind sie? Welche Regierungen da gemeinsam mit der Merkel-Koalition die Steuervermeider schützen, erfuhren die Wählerinnen nicht. Folglich mussten sich die beteiligten Minister in den anderen Staaten nicht rechtfertigen.

Programm und Verhalten stehen in völligem Wiederspruch

Das änderte sich erst, als der EU-Abgeordnete Sven Giegold vor einem Jahr mit Hilfe eines Informanten die Liste der Neinsager veröffentlichte. Und die war durchaus überraschend.

Willige Helfer waren nicht nur wie zu erwarten die Regierungen der Iren, Litauerinnen, Luxemburger, Malteserinnen, Tschechen, Ungarninnen oder Zyprer, die selbst mit laxen Steuergesetzen zur Verlagerung der Konzerngewinne einladen. Mit dabei waren auch die sozialdemokratischen Regierungen in Schweden und Portugal, deren Parteien öffentlich das Gegenteil versprechen.

Als Investigate Europe darüber in beiden Ländern berichtete, erhob sich Protest. „Unglaublich“ sei das, empörte sich etwa die langjährige Europaabgeordnete für Portugals Sozialisten, Ana Gomes. "Das Regierungsprogramm und das Verhalten im Rat stehen im völligen Widerspruch." Prompt änderte die Regierung ihre Position und Lissabons Wirtschaftsminister Siza Vieira versicherte seine Zustimmung.

Über das Motiv gab es keine Auskunft

Damit hätte es im November 2019 erstmals eine ausreichende Mehrheit für das Gesetz geben können. Doch in der entscheidenden Sitzung sprach sich - anders als zuvor angekündigt - der kroatische Minister plötzlich dagegen aus, und der Vorsitzende brach die Abstimmung mangels nötiger Mehrheit ab. Über das Motiv für das unerwartete Nein-Votum gibt die kroatische Regierung keine Auskunft.

Dafür aber kam über eine Anfrage der Linken im Bundestag heraus, dass Wirtschaftsminister Altmaier zwei Tage vor der Abstimmung mit seinem kroatischen Amtskollegen Darko Horvat über das Thema gesprochen hatte, wie die Bundesregierung einräumen musste. Ob Altmaier dabei Druck ausgeübt oder einen Deal angeboten hat, mochte sein Sprecher nicht sagen.

Der Versuch, das Gesetz zu beerdigen, misslang

Der Versuch, das Gesetz damit zu beerdigen, gelang jedoch noch nicht. Denn Österreichs Regierung, die zuvor mit den Deutschen gestimmt hatte, ist mittlerweile ins Lager der Unterstützer gewechselt, wie ein Sprecher des Wiener Finanzministeriums bestätigte. Darum gäbe es jetzt doch eine qualifizierte Mehrheit – wenn es denn zur Abstimmung käme.

Genau das aber verhindert erneut die deutsche Regierung. Weil sie zurzeit die halbjährlich wechselnde Präsidentschaft im Rat führt, obliegt es dem Kabinett Merkel, die Tagesordnung der Ratssitzungen festzulegen. Dort aber verweigern die Union und ihr Wirtschaftsminister sogar die Zustimmung zur Abstimmung. So liegt das Gesetz weiterhin auf Eis und die Steuervermeider bleiben unbehelligt.

Die Methode ist gang und gäbe. Mittels Verhandeln ohne Ergebnis landen zahllose Projekte einfach im Nirgendwo, wenn die Minderheit der Gegnerinnen ihre Forderungen nicht durchsetzen kann. Das offizielle Register des EU-Parlaments führte im Oktober gleich 30 Gesetze an, die zwar im Parlament verabschiedet sind, aber im Rat seit mehr als drei Jahren festhängen.

Viele davon betreffen unmittelbar den Alltag der EU-Bürger wie etwa die Rechte von Passagieren im Luftverkehr oder die technische Sicherheit von Produkten. Auch mehrere Gesetzentwürfe zum Umwelt- und Naturschutz schieben die Regierungen seit Jahren vor sich her. Und die Liste wäre noch viel länger, wenn die EU-Kommission nicht viele ihrer Vorschläge irgendwann zurückziehen würde.

Archetypisch ist der Fall, über den die EU-Abgeordnete Evelyn Regner berichtet. Die Wiener Sozialdemokratin, seit elf Jahren Mitglied im EU-Parlament, ist dort verantwortlich für die EU-Richtlinie, die Aktiengesellschaften verpflichten soll, den Anteil von Frauen in den Aufsichtsräten auf 40 Prozent anzuheben.

Schon 2012 hatte eine breite Mehrheit im Parlament dafür gestimmt. Schließlich sei „längst bewiesen, dass Unternehmen mit ausreichend Frauen in Führungspositionen erfolgreicher sind“, sagt Regner.

Doch im Rat gab es Widerstand von sozial-konservativen Regierungen wie in Polen, Tschechien oder damals auch Portugal. Und dann „kam das typische große Ablegen“, erinnert sich die Abgeordnete. Die Regierungen vertagten ein ums andere Mal die Entscheidung, „und immer wieder musste ich darum streiten, das Gesetz weiter im Rennen zu halten“, sagt Regner. „Es sind eben Diplomaten, die scheuen die Entscheidung im Konflikt, sie fürchten den Kulturkampf“, erklärt sie das Phänomen.

Daher verlegten sich auch Regierungen wie die deutsche oder die dänische, in deren Ländern Frauenquoten längst üblich sind, auf einen häufig angewandten juristischen Trick: Sie erklärten die EU für nicht zuständig und Frauenrechte zur rein nationalen Angelegenheit.

Oder, wie es ein Sprecher von Frauenministerin Franziska Giffey ausdrückt: Es gebe einen „Prüfvorbehalt in Bezug auf die Rechtsgrundlage“. Weil das nur die CDU so sieht, während die SPD-Ministerin dafür ist, enthält sich die Bundesregierung offiziell. Im Rat sind für die Annahme eines Gesetzes jedoch zwei Drittel aller Stimmen nötig. Darum wirkt eine Enthaltung genauso wie eine Nein. Wegen „der Ablehnung acht weiterer Mitgliedstaaten“ komme darum „keine qualifizierte Mehrheit zustande“, erklärt Giffeys Sprecher.

Emily O’Reilly ist seit 2014 "European Ombudsman"
Emily O’Reilly ist seit 2014 "European Ombudsman"

© Reuters

Wer diese Acht sind, verrät die Bundesregierung aber nicht. Auch das Generalsekretariat des Rates gibt dazu keine Auskunft. Investigate Europe konnte das nur mit Hilfe eines freundlichen Brüsseler Diplomaten inoffiziell in Erfahrung bringen. Demnach stehen neben den Deutschen und Däneninnen auch die Schweden und Niederländerinnen auf der Bremse und stellen mit Populisten und Konservativen in Polen, Ungarn, Kroatien, der Slowakei und Griechenland eine Sperrminorität.

So agieren Sozialliberale seit acht Jahren mit Rechtskonservativen in einer unheiligen Allianz gegen mehr Frauenrechte. Auf nationaler Ebene wäre das unmöglich. Doch hinter den verschlossenen Türen der Ratsgremien müssen die zuständigen Minister keine Proteste fürchten.

Versprochen wurde, die EU zu demokratisieren

Dabei sollte doch eigentlich alles ganz anders sein. Als Europas Regierende vor 13 Jahren mit den Verträgen von Lissabon die moderne EU aus der Taufe hoben, versprachen sie die Union zu demokratisieren. Die Bürger sollten ausdrücklich die Chance zur Mitwirkung bekommen.

„Die Entscheidungen werden so offen und bürgernah wie möglich getroffen“, schrieben sie in den Vertragstext. "Um eine verantwortungsvolle Verwaltung zu fördern und die Beteiligung der Zivilgesellschaft sicherzustellen, handeln die Organe der Union unter weitestgehender Beachtung des Grundsatzes der Offenheit", heißt es weiter.

Das Parlament und die Kommission haben sich auch weitgehend daran gehalten. Doch für ihr eigenes Handeln als Gesetzgeber wollen die nationalen Regierungen das bis heute nicht gelten lassen.

Dafür verbergen sie ihre Verhandlungen hinter einer juristischen Schweigemauer: der Verordnung 1049 aus dem Jahr 2001 über den „Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten“ der EU-Institutionen. Diese erlaubt es, Dokumente unter Verschluss zu halten "wenn eine Verbreitung den Entscheidungsprozess des Organs ernstlich beeinträchtigen würde".

Genau darauf berufen sich dann die Beamten des Ratssekretariats, wenn sie im Auftrag der Regierungen Journalistinnen oder Aktivisten Dokumente verweigern, aus denen hervorgeht, welche Regierung welche Position zu einem Gesetzesprojekt einnimmt. Die Formel ist beliebig einsetzbar und findet selbst dann Anwendung, wenn es gar nichts mehr zu verbergen gibt.

So verweigerte der Rat im vergangenen April sogar die Einsicht in drei Jahre alte Unterlagen, in denen es um die Verhandlungen über die Steuertransparenz für Konzerne geht. Zu diesem Zeitpunkt war längst alles gesagt, es wäre sogar eine Mehrheit für das Gesetz möglich gewesen, wenn es zur Abstimmung gekommen wäre. Aber die deutsche Regierung wollte die öffentliche Debatte unbedingt vermeiden und lehnte ab.

Die Dokumente bleiben Verschlusssache

Auch Frankreichs Regierung spielte mit. Weil „das Dossier noch beraten wird“ könne "die Freigabe den laufenden Entscheidungsprozess ernsthaft beeinträchtigen" ließ der französische Vertreter in das Protokoll schreiben, das Investigate Europe zugespielt wurde. Die Dokumente blieben Verschlusssache.

Der Fall illustriert, wie überholt die Verordnung ist und den Geist der alten EG konserviert. Schon 2008 hatte die EU-Komission darum eine Novelle vorgeschlagen, um die Regeln dem Lissabon-Vertrag anzupassen. Das Parlament verabschiedete 2011 eine noch weitergehende Version. Aber die Regierungen verweigern einen Beschluss über die Reform seit zwölf Jahren und machten damit in bitterer Symbolik ausgerechnet die Transparenzreform zum ältesten Gesetzentwurf, der im Rat festhängt.

Auch die Berichte über die Transparenz sind geheim

Ironischerweise hält das Ratssekretariat sogar die Berichte darüber geheim, wie der Rat mit der Forderung nach mehr Transparenz umgehen soll, die Ombudsfrau O’Reilly und mit ihr das EU-Parlament erheben. Um trotzdem mehr darüber zu erfahren, stellten die Reporter von Investigate Europe Anträge auf Akteneinsicht bei den zuständigen Ministerien mehrerer Staaten.

Das Ergebnis ist ernüchternd. Die französische Regierung definierte das Thema kurzerhand als Teil der Außenpolitik, für die den Bürgern "prinzipiell" kein Recht auf Akteneinsicht zustehe. In Schweden, wo die Regierung ansonsten strikte Transparenzregeln befolgt, gab sie zwar die Akten frei.

Aber alle Passagen, die beschrieben, welcher Vertreter wie argumentierte, wurden geschwärzt. Genauso hielt es auch das Auswärtige Amt. Das Bekanntwerden der geschwärzten Passagen "würde der notwendigen Vertraulichkeit laufender internationaler Verhandlungen schaden", schrieb der zuständige Beamte. Die Bundesregierung müsse "in der Lage sein, Verhandlungen ohne unbefugten Einfluss von außen durchzuführen." Kurzum: Nicht mal über den Verlauf der Transparenzdiskussion gibt es Transparenz.

Der Ministerrat tagt im Justus-Lipsius-Gebäude.
Der Ministerrat tagt im Justus-Lipsius-Gebäude.

© Mauritius

Das klingt ein wenig lächerlich nach Geheimniskrämerei aus Prinzip. Schließlich ist die Einflussnahme auf die Gesetzgebung - auch ohne Erlaubnis - ein Merkmal der Demokratie. Doch dahinter steht das strategische Dilemma der europäischen Integration.

Weil die Wirtschaft längst über alle Grenzen hinweg verflochten ist, muss die Mehrzahl der Gesetze EU-weit gelten, also auch europäisch beschlossen werden. Es gibt aber keine gewählte europäische Regierung, sondern nur 27 nationale. Und deren Politiker versprechen ihren Wählern, in Europa zuerst die vermeintlich nationalen Interessen zu verteidigen.

Welche enorme Spannung daraus entsteht, das hat der französische Diplomat Pierre Sellal über Jahrzehnte verfolgt. Für drei Premierminister hat er die EU-Politik in Paris koordiniert. Insgesamt 15 Jahre lang war er Botschafter Frankreichs bei der EU und erwarb sich unter Kollegen den Ruf des "Orakels von Brüssel", das alle Fäden zusammenführt.

Insofern ist Sellal gewiss kein Antieuropäer. Aber er ist überzeugt, dass "die diplomatische Anstrengung, die eine europäische Verhandlung darstellt, nicht mit einer Diskussion in der öffentlichen Arena vermischt werden kann."

In den Ratsgremien gebe es "immer einen Moment, in dem der eine oder andere sagt: ‚Jetzt habe ich Ihnen gesagt, was meine Anweisungen sind, ich entferne mich für einen Moment von ihnen, so weit könnte ich bei der Suche nach einem Kompromiss gehen.‘ Und irgendwann sage der Vorsitzende dann, ‚ich kenne alle Ihre nationalen Positionen, könnten wir versuchen, eine Lösung in dieser Richtung zu finden, die sich von Ihren Anweisungen unterscheidet?‘"

Aber darüber könne man nicht öffentlich sprechen, versichert der versierte Ex-Diplomat. "Wenn Sie das öffentlich machen, hätten Sie sofort jemanden, der sagen würde: In wessen Namen spricht dieser von unseren Steuern bezahlte Beamte, der etwas anderes erwägt, als Gegenstand seiner Anweisungen ist?"

So etwas müsse hinter verschlossenen Türen stattfinden, meint Sellal. Wenn "alles, was im Ratssaal geschieht, öffentlich sein muss, dann frühstücken wir oder gehen in der Bar und reden dort. Ich glaube nicht, dass das die Effizienz verbessert."

"Wenig Spielraum"

Das sieht Michael Roth, Deutschlands Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, ganz ähnlich. Die Bundesregierung setze sich zwar dafür ein, "mehr von der Arbeit im Rat öffentlich zu machen". Aber für die Forderung von Ombudsfrau O’Reilly und des EU-Parlaments nach der frühzeitigen Bekanntmachung der Positionen der einzelnen Regierungen "sehe ich zurzeit wenig Spielraum", sagte Roth im Gespräch mit Investigate Europe.

"Da geht es um die vorbereitenden Sitzungen in den Arbeitsgruppen und dem Rat der Ständigen Vertreter." Dort brauche es "Vertraulichkeit, um einen geschützten Raum zu haben für die schwierige Suche nach Kompromissen." Daraus abzuleiten, die EU betreibe Gesetzgebung unter "Geheimniskrämerei" zeichne "ein Zerrbild von Europa, das brandgefährlich ist und den Nationalisten und Populisten in die Hände spielt", meint Roth.

Entfremdet die Verschlossenheit die Bürger von der Politik?

Das beurteilen O’Reilly und ihre Unterstützer im Parlament genau anders herum. Gerade das Verhandeln "hinter verschlossenen Türen birgt die Gefahr, die Bürger zu entfremden und negative Gefühle gegen die EU zu nähren", warnt sie. Weil Roth und seine Kollegen bisher alles solange geheim halten, bis ein Gesetz beschlossen ist, erleben die Wähler die EU-Politik stets nur als Schaffung vollendeter Tatsachen, weil sie vorher gar nicht erst erfahren, was vorgeht.

Dagegen reklamiert O’Reilly "das legitime Recht der Bürger auf Einflussnahme". Darum müsse der Rat zu einem "angemessenen Zeitpunkt" informieren, bevor alles gelaufen ist. Auch dann bleibe genügend Raum für vertrauliche Verhandlungen.

Diesen Wechsel, fordert auch Linn Selle, die Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD). "Unsere Politiker betreiben Europa noch immer als Außenpolitik", erklärt sie. Es gehe "aber ums ganz normale Regieren". Dafür sei "Partizipation nötig, und das geht nicht ohne Transparenz", fordert sie und weiß dabei von den Arbeitgebern über die Gewerkschaften bis zu den Umweltschützern weite Teile der Gesellschaft hinter sich, deren Verbände ihre Organisation tragen.

Vom Kulturwandel ist noch nichts angekommen

Um das zu erreichen, setzen Selle und O’Reilly auf einen Kulturwandel, der ja schon eingesetzt habe, wie die Ombudsfrau meint. Davon ist allerdings im Alltag der Ratsmaschine bisher nichts angekommen. Die Regierungen weigern sich sogar, auf die Forderungen der Ombudsfrau oder des Europaparlaments zumindest zu antworten. Auch den Fragen von Investigate Europe wollte sich keiner der leitenden Beamten stellen, die schriftlich eingerichteten Fragen blieben ohne Antwort.

Aber damit werden die Ratsgewaltigen vermutlich nicht mehr lange durchkommen. Denn die Kritikerinnen haben einen mächtigen Bündnispartner: den Europäischen Gerichtshof. Das hat der niederländische Jurist Onno Brouwer erreicht. Der Anwalt, im Hauptberuf Partner bei der Großkanzlei Freshfields für Wirtschaftsrecht, vertritt seit vielen Jahren auch Aktivisten und Parlamentarier pro bono bei deren Streit um Transparenz in der EU.

Schon mehrmals mussten die Luxemburger Richter darum über die von Brouwer formulierten Klagen auf Zugang zu Informationen über das Geschehen im Rat verhandeln. Und bisher gaben sie immer den Klägerinnen recht. Richtungweisend war etwa das Urteil, mit dem sie schon 2012 zugunsten der Organisation access-info entschieden. Diese hatte auf Herausgabe der nationalen Stellungnahmen zur Novelle der Dokumenten-Verordnung geklagt und bekam im vollen Umfang Recht. Die übliche Behauptung, das untergrabe den Entscheidungsprozess, wiesen die Richter zurück.

Deutschland erklärte die EU bei der Entscheidung für eine Frauenquote für nicht zuständig. Oder wie ein Sprecher von Frauenministerin Franziska Giffey es ausdrückt: Es gebe einen „Prüfvorbehalt in Bezug auf die Rechtsgrundlage“.
Deutschland erklärte die EU bei der Entscheidung für eine Frauenquote für nicht zuständig. Oder wie ein Sprecher von Frauenministerin Franziska Giffey es ausdrückt: Es gebe einen „Prüfvorbehalt in Bezug auf die Rechtsgrundlage“.

© Kay Nietfeld/dpa

Noch spektakulärer ist ein Urteil vom März 2018. Damals hatte Emilio de Capitani, vormals Leiter des Sekretariats im Rechtsausschuss des EU-Parlaments, mit Brouwers Hilfe darauf geklagt, dass die Positionen des Rates schon während der Verhandlungen mit dem Parlament veröffentlicht werden.

Auch dieser Klage gaben die Richter recht. Und ihre Begründung liest sich wie ein Flugblatt von Bürgerrechtlern. "Gerade die Transparenz im Bereich des Gesetzgebungsprozesses" trage "dazu bei, den Organen in den Augen der europäischen Bürger eine größere Legitimität zu verleihen ..., weil sie es ermöglicht, Unterschiede zwischen mehreren Standpunkten offen zu erörtern", schrieben die Richter.

"Die Möglichkeit für die Bürger, sich über die Grundlagen der Gesetzgebungstätigkeit zu informieren, ist nämlich eine Voraussetzung dafür, dass sie ihre demokratischen Rechte effektiv ausüben können", stellten sie klar und setzten sogar noch eins drauf: "Tatsächlich ist es das Fehlen von Information und Diskussion, das bei den Bürgern Zweifel hervorrufen kann, und zwar nicht nur an der Rechtmäßigkeit eines einzelnen Rechtsakts, sondern auch an der Rechtmäßigkeit des Entscheidungsprozesses insgesamt."

Umso erstaunlicher ist, dass dieses und weitere Urteile bisher an der Praxis bei Europas mächtigstem Gesetzgeber nichts geändert haben. "Die Institution verhält sich wie ein trotziges Kind", spottet Brouwer und folge "absolut nicht" der Rechtsprechung. Die Antwort könne daher nur sein, "weiter vor Gericht zu ziehen", um die Verantwortlichen "beim Namen zu nennen und zu beschämen." Am Ende, so prophezeit er, "werden die Richter die Geduld verlieren".

Investigate Europe ist ein Team von Journalisten aus neun Ländern, die gemeinsam Themen von europäischer Relevanz recherchieren und die Ergebnisse europaweit veröffentlichen. Neben den Autoren haben Cécile Andzejewski, Wojciech Ciesla, Thodoris Chondrogiannos, Ingeborg Eliassen, Juliet Ferguson, Maria Maggiore, Paulo Pena und Elisa Simantke an der Recherche gearbeitet. Das Projekt wird von der Schöpflin-Stiftung, der Rudolf-Augstein-Stiftung, der Hübner & Kennedy Stiftung, der Fritt-Ord Stiftung, der Open Society Initiative for Europe, der Gulbenkian Foundation, der Adessium Stiftung und privaten Spendern unterstützt. Medienpartner sind neben dem Tagesspiegel unter anderen Il Fatto Quotdiano, Publico, Efimerida ton Syntakton, Mediapart, Gazeta Wyborcza, Klassekampen und Utrikesmagsinet.

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