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Holger war sich sicher: Er tat ein gutes Werk.

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17.000 Mark für eine Fremde: Wie Holger all sein Geld verlieh

Anfangs verleiht er nur kleine Beträge, und er bekommt sein Geld immer wieder. Dann nimmt ihn Alexandra S. aus wie eine Weihnachtsgans. Die Geschichte eines Mannes, der das Neinsagen nie gelernt hat.

Holger wohnt schön. In Berlin, Altbau, saniert, zusammen mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern. Nichts erinnert mehr an die blöde Geschichte von damals. Nur ein Ordner im Keller. Holger hat es noch nicht geschafft, ihn wegzuwerfen, er verstaubt dort irgendwo. Lange war Holgers Gedanke: Vielleicht brauche ich ihn ja eines Tages, wenn es doch noch zum Gerichtstermin kommt. Dann könnte er die vielen Quittungen, Unterlagen und Belege noch einmal herzeigen. Beweismaterial, wie in einem Krimi. Doch heute, nach 15 Jahren, hat Holger die Hoffnung aufgegeben. Jetzt ist der Ordner ein ungeliebtes Stück Vergangenheit, in dem er seine eigene Dummheit dokumentiert hat.

Holger ist nicht sein richtiger Name. Es wäre ihm peinlich, wenn alle wüssten, was ihm passiert ist. Es ist nämlich so: Holger ist nicht dumm. Er ist Fachjournalist, ein renommierter. In Talkshows hat er meist die schlagfertigsten Antworten. Holger ist ein 49-Jähriger mit dem Charme eines Jungen: lustige Augen hinter einer eckigen Drahtbrille, wuschelige Haare, Lachfältchen, er trägt ein ausgeblichenes Baumwoll-Sweatshirt und Jeans. Wenn er seine Geschichte erzählt, wirkt er halb amüsiert, halb fassungslos. Holger spricht von sich selbst wie über einen alten Bekannten. Er sagt, es sei, als sitze dann sein 34-jähriges Ich neben ihm. Über dieses Ich schüttelt er immer wieder den Kopf und sagt: Was für ein Idiot.

Holger hatte damals einen neuen Job angefangen. Er machte ein bisschen Karriere, Redakteur bei einer großen Tageszeitung in einer großen Stadt. Ein linkes Blatt, viele Sozialreportagen. Das Gehalt war klein, 1100 Mark Netto, aber groß war der Traum von einer besseren Welt. Holger war froh, auf der richtigen Seite zu sein.

Er ertrug es nicht, wenn es anderen Menschen schlecht ging. Er konnte keinem Bettler die Hastemalnemark verwehren, selbst wenn er ahnte, dass diese sofort in Schnaps investiert würde. Holger kaufte Obdachlosenzeitungen. Auf seinem Küchentisch lagen am Ende des Monats oft vier identische Ausgaben. Er dachte: Andere haben eben nicht so viel Glück wie ich. Holger wohnte sogar mietfrei, eine Bekannte war auf Weltreise gegangen, und er musste für die 80 Quadratmeter nur ihre Blumen gießen. Das Leben war schön.

Wäre er doch nur nicht ans Telefon gegangen.

Dann kam der kalte Wintertag, an dem er Frau S. kennenlernte. Die Kollegen waren zum Mittagessen gegangen, Holger übernahm den Telefondienst. Es klingelte. Wäre er doch nur nicht rangegangen.

„Hallo. Ich brauche Hilfe.“

„Was kann ich für Sie tun?“

„Gibt es bei Ihnen einen Hilfsfonds für Bedürftige?“

„Leider nein.“

„Ich brauche dringend meine Medikamente. Ich bin sehr krank, die Leber, die Niere. Aber mein Krankengeld ist aufgebraucht.“

„Leider können wir nichts für Sie tun.“

„Ich bin wirklich verzweifelt. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich habe auch ein kleines Kind.“

„Um wie viel geht es denn?“

„100 Mark. Ich zahle natürlich alles zurück.“

Holger hatte 100 Mark. Und die arme Frau schien wirklich in Not zu sein, sonst würde sie nicht bei Fremden anrufen. Er könnte mit einer kleinen Geste jemandem wirklich aus der Patsche helfen, einfach so, etwas Gutes tun. Der Monat war bald vorbei, dann bekäme er es ja zurück.

Wann bekommt Holger Bauchschmerzen?

Knietief im Dispo.
Knietief im Dispo.

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Sie schickte einen Bekannten, einen Taxifahrer, der eine Quittung ausfüllte und mit dem blauen Schein wieder ging. Es war nur logisch, dass sie nicht selbst kam. Sie war ja schwer krank und hatte keine Medikamente.

Von nun an meldete sie sich immer wieder, ließ sich direkt zu ihm durchstellen. Sein Bürokollege war bei Terminen, niemand wunderte sich über die Telefonate. „Wie viel brauchen Sie?“ – „Noch mal 100 Mark? 150?“ – „ Was ist passiert?“ – „Ihrem Kind geht es nicht gut?“ – „Sie unterschreiben auch eine Verpflichtungserklärung? In Ordnung.“

Bei insgesamt 500 Mark bekam Holger Bauchschmerzen.

Zur vierten Geldübergabe kam sie persönlich. Plötzlich stand eine Frau im Büro, circa 40 Jahre alt, klein, die untersetzte Figur steckte in einem langen, grauen Mantel. Ein fahles Gesicht, umrahmt von Minipli in aschblond, beim Lächeln entblößte sie zwei tiefschwarze Zahnlücken. Frau S. war gekommen, um die 500 Mark zurückzuzahlen. Holger war erleichtert: Er hatte sich nicht geirrt. Also half er weiter, alle paar Wochen gab er ihr ein paar hundert Mark. War ja nur geliehen.

Er fuhr die 80 Kilometer in den Norden.

Es wurde Februar, das neue Jahrtausend fühlte sich gut an, Holger hatte sich in eine Kollegin verliebt, und sie sich in ihn. Freitagabend, draußen war es so kalt, dass der Atem in der Luft zu sehen war, in Holgers Wohnung klingelte das Telefon. Frau S. war wieder in Not. Seine Nummer hatte sie aus dem Telefonbuch. Sie sei in einer Rehaklinik außerhalb der Stadt und ihr kleiner Sohn, den sie bei Bekannten gelassen hatte, sei fort, weggelaufen. Und sie habe nicht einmal Geld für ein Taxi. Holger hatte ein Auto, und er hatte nichts vor. Er hatte keine Lust, aber er hatte auch ein Gewissen. Er fuhr die 80 Kilometer in den Norden.

Vor dem großen Klinikkomplex erwartete sie ihn mit einem Geschenk. Ein mit Muscheln beklebtes Plastikbäumchen: „Selbst gebastelt“. Der rote Sonderpreisaufkleber pappte noch an der Unterseite: 50 Pfennige. Sie streckte ihm die Hand hin und sagte feierlich: Ich bin übrigens die Alexandra.

„Was ist mit deinem Sohn?“

„Der ist wieder da.“

„Und die Polizei?“

„Weiß Bescheid. Aber wenn Du schon mal da bist, kannst du mich ja mitnehmen.“

Holger wurde zur Geldübergabe zitiert - auf einen Parkplatz.

Holger kamen langsam Zweifel.
Holger kamen langsam Zweifel.

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Holger wurde sauer. Er ließ sie trotzdem in seinen alten Golf klettern. Sie erzählte von ihrem Leben: die Krankheit, die Armut, das kleine Kind, die Spielsucht des Mannes, sein früher Tod. Holger roch ihr billiges Parfüm, das vom Beifahrersitz rüberwehte, es war zu süß und zu viel. Warum hatte er sich das eingebrockt?

Heute weiß er, dass er nicht gut nein sagen konnte. Eine Therapie hat ihm das klargemacht. Er scheute Konflikte, hatte immer Angst vor Streit. Holger erinnert sich: Als er ein kleiner Junge war, haben die Eltern nie gezankt. Der Klügere gibt nach, Holger. Hauptsache Harmonie, Holger. Eine Kindheit wie in Watte gepackt. Er konnte nirgends anecken.

Er setzte Alexandra an einem McDonald’s-Parkplatz im Gewerbegebiet ab. Sie verschwand in der Dunkelheit. Hoffentlich würde sie ihn bald in Ruhe lassen.

Die nächste Nacht war die erste mit seiner neuen Freundin, sie schliefen gemeinsam ein. Um sieben Uhr früh rief Alexandra wieder an. Holger schlich sich mit dem Telefon aus dem Zimmer. Die Freundin sollte nichts mitbekommen von seiner seltsamen Bekannten, die ihn zu dieser Uhrzeit störte. Sie wolle einen Teil der Schulden zurückzahlen, sagte Alexandra, Geldübergabe mittags auf dem McDonald’s-Parkplatz. Holger fuhr hin. Doch danach schuldete sie ihm immer noch 1500 Mark.

Selbst das Danke ließ sie irgendwann weg.

Sie wurde immer fordernder, selbst das Danke ließ sie irgendwann weg. Er überwies dennoch mehr als je zuvor: 1000 Mark per Bargeldtransfer, weil sie irgendwo in Süddeutschland feststeckte. Die Rückzahlungen wurden seltener. Sie kam kaum noch ins Büro, stattdessen zitierte sie Holger zur Geldübergabe an einen S-Bahnhof in der Nähe der Redaktion. Er ließ es mit sich machen, sagte: Es reicht. Doch sie flehte ihn an: nur 50 Mark! Einmal brachte sie ihr Kind mit, einen dreijährigen, verwahrlost aussehenden Jungen mit rotzverkrusteter Nase und schmutziger Kleidung. Holger, du bist schuld, wenn diese Menschen auf der Straße landen, dachte er sich und zückte wieder die Brieftasche. Inzwischen hatte er ihr 4000 Mark gegeben, er dachte: geliehen.

Nur wenn er ihr ein paar Scheine gab, war er sie für einige Wochen los. Gekaufter Seelenfrieden. Bis das Telefon wieder klingelte. Holger begann, den Hörer nicht mehr abzuheben, verpasste dadurch Termine, auch seine Freundin wurde misstrauisch, eifersüchtig. Was sollten diese Anrufe? Wer war diese Frau? Holger erzählte niemandem davon, er schämte sich zu sehr. Das Sparkonto war leergeräumt. Mehr als 5000 Mark waren weg.

Er wollte die Angelegenheit selber regeln.

Blüten? Holger verlieh nur echte Scheine.
Blüten? Holger verlieh nur echte Scheine.

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Er ahnte mittlerweile, dass er ausgenutzt wurde, hatte aber Angst vor der Wahrheit. Für wen hatte er seine ganzen Reserven ausgegeben? Was geschah mit dem Geld? Einmal fuhr er zu der Adresse, die seine Schuldnerin auf den Verpflichtungserklärungen angegeben hatte, um zu sehen, ob sie dort wirklich wohnte. Auf dem Klingelschild stand ihr Nachname. Holger war beruhigt. Es war nicht so, dass er rausfinden wollte, dass sie eine Betrügerin war. Er wollte vielmehr sichergehen, dass sie keine war.

Holger wollte sein Geheimnis nicht länger mit sich herumtragen. Er erzählte seiner Freundin alles. Sie wurde wütend: „Bist du bescheuert? Warum? Und warum hast du nicht schon früher was gesagt?“ Sie bot an zu helfen, kannte Juristen. Aber Holger wollte die Angelegenheit selbst regeln. Dass andere nun Bescheid wussten, erhöhte nur den Druck, das Problem bald zu lösen. Dann hatte Alexandra große Neuigkeiten: Holger, ich habe geerbt! 100 000 Mark von einer verstorbenen Tante.

Da wäre nur ein klitzekleiner Haken: Um an das Geld heranzukommen, müsse das Erbe erst freigegeben werden. Immobilienfonds, komplizierte Sache, auf jeden Fall koste das 7000 Mark. Wenn er die vorstrecke, würde er bald auf einen Schlag all sein Geld wiederbekommen. Mit Zinsen. Holger war skeptisch. Das klang zu gut, um wahr zu sein. Heute kennt er diese Masche aus betrügerischen E-Mails, Hilferufe aus Nigeria oder Ähnliches, die mittlerweile automatisch im Spamordner landen. Doch damals war das mit dem Internet noch keine große Sache. Holger hatte keinen Spamordner. Es gab auch keine Foren, in denen er sich über solche Fälle hätte informieren können. Bald wurden seine Zweifel überlagert von der vielversprechenden Aussicht auf die Rückzahlung seiner Ersparnisse und dem sehnlichen Wunsch, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Und dann war da auch noch dieser Bankberater.

Der Bankberater - menschgewordene Seriosität?

Der Mann war ein Mitarbeiter der Sparkasse, Alexandra S. hatte Holger den Kontakt vermittelt. Ein Vertrauensmann. Frau S. sei in einer schwierigen, aber nicht aussichtslosen Situation, sagte er am Telefon. Es gebe regelmäßig Eingänge auf ihr Konto, mehr könne er nicht sagen, Bankgeheimnis. Auch über die Erbschaft sei er informiert, die stehe tatsächlich an und könne bald abgewickelt werden. In Holgers Welt war ein Bankberater die menschgewordene Seriosität. Es musste einfach stimmen.

Außerdem hatte Alexandra ihm beglaubigte Dokumente gezeigt. Und sie unterschrieb eine Verzichtserklärung: „Ich, Alexandra S., vermache Holger A. all mein Krankengeld, für den Fall, dass ich ihn nicht auszahlen kann, bis meine Schulden getilgt sind.“ Holger hatte das Schwarz auf Weiß, eine Sicherheit. Selbst seine Freundin glaubte, dass es die letzte Chance sein könne, doch noch das Geld zu kommen. Holger riskierte es.

Er nahm einen Kredit über 5000 Mark auf, weitere 2000 borgte er sich bei seinem Bruder und einer Freundin. Er überwies das Geld. Danach: Funkstille. Keine Anrufe, keine Besuche in der Redaktion; Alexandra war abgetaucht. Wochenlang. Heftige Bauchschmerzen. Dann der Anruf: „Ich habe jetzt das Geld. Ich übergebe es dir heute um 23 Uhr auf dem McDonald’s-Parkplatz.“

War er Teil eines abgesprochenen Deals?

Holgers Erspartes: nur noch Peanuts.
Holgers Erspartes: nur noch Peanuts.

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Es war eine ungewöhnlich kalte Augustnacht. Holger fror in seinem Wagen. 23 Uhr 10, keine Spur von ihr. 23 Uhr 15, Stille. Mit jeder Minute wurde ihm klarer, dass er betrogen worden war. 23:30 Uhr. Er legte den Kopf auf das Lenkrad und schämte sich vor sich selbst. Kurz vor Mitternacht fuhr er wieder nach Hause.

Was jetzt? Der Bankberater! Bei der Sparkasse teilte man Holger mit: Der Herr arbeite nicht mehr für die Bank. Holger wurde schwindelig. Vielleicht hatte man den Mann wegen Betrugs gefeuert. War er Teil eines abgesprochenen Deals? Holger hatte nur noch einen letzten Hoffnungsschimmer: Die Verzichtserklärung. Er ging zur Krankenkasse. Eine Dame empfing ihn, er zeigte ihr das Schreiben.

„Alexandra S.?“

„Ja.“

Die Frau lachte trocken.

„Die kennen wir hier gut. Bei Ihnen hat sie es also auch geschafft. Es tut mir leid, aber was die Ansprüche angeht, stehen Sie ganz unten auf der Liste.“

Alexandra S. hatte bereits ein Dutzend Menschen um zehntausende Mark gebracht. Pfarrer, Diakone, Sozialarbeiter hatten ihr vertraut. Holger passte genau in ihr Beuteschema.

Eine Anwältin schaute seine Unterlagen an, es sah nicht gut aus.

Er brauchte eine Weile, um es zu verstehen: 17 000 Mark. Einfach weg. Für immer. Eine Anwältin schaute sich die Unterlagen an, es sah nicht gut aus. Er habe ihr das Geld ja immer freiwillig gegeben. Holger stellte trotzdem eine Anzeige, wenn auch mit schlechtem Gewissen, denn an Alexandras Notlage bestand für ihn immer noch kein Zweifel. Auch für die Polizei war Frau S. eine alte Bekannte. Die habe nichts, da klebe zu Hause überall der Kuckuck drauf.

Holger war nicht nur pleite, er musste Kredite abbezahlen und hatte Schulden bei Freunden. Er nahm einen zweiten Job an, einen dritten, schrieb unter Pseudonym für die Konkurrenz. Am 20. des Monats war das Geld immer schon alle, dann schummelte er sich zwischen die Sozialhilfeempfänger in die Suppenküchen. Er zog früh bei seiner Freundin ein, aus den falschen Gründen. Plötzlich war er es, der Unterstützung nötig hatte. Er brauchte fünf Jahre, um sich von Alexandra S. zu erholen.

Heute könnte ihm so was nicht mehr passieren, sagt Holger. Würde er den Hörer heute direkt auflegen? Vielleicht. Vielleicht nicht. Aber bei 500 Euro wäre Schluss. Wäre ja nur geliehen.

Fabienne Hurst

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