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Irdisches Eden. Durch das Paradies, wie der Stadtpark heißt, fließt die Saale. Am Ufer, in der Pop-up-Location Strand 22, treffen Senioren auf Clubgänger.Foto: Christian Hempf

© imago/Christoph Worsch

48 Stunden Jena: Eine Erkundung mit Schellenbraten und Wickelklößen

In Jena verführt nicht nur der Stadtpark. Es gibt auch noch Platz für Uferbars und Theaterkollektive.

10 Uhr

Entschleunigen – das wollen ja jetzt alle – hat in Jena Tradition. Ein Volkslied aus dem 19. Jahrhundert beginnt so: „Und in Jene lebt sich’s bene / und in Jene lebt sich’s gut / Bin ja selber drin gewesen / wie da steht gedruckt zu lesen / zehn Semester wohlgemut.“ Passenderweise heißt einer der zwei Bahnhöfe, an denen man von außerhalb ankommt, Paradies, benannt nach dem nahegelegenen Stadtpark. Zunächst geht es aber in Richtung der Altstadt mit ihren schmalen, hohen Fachwerkhäusern hier und da, gefühlt jede zweite Straße hat die „Gasse“ im Namen. Wenn die Sonne scheint, sind die Kirchentreppen voller Studenten. Das historische Zentrum ist klein, vom einen zum anderen Ende läuft man vielleicht zehn Minuten. Auf dem Markt, der viermal pro Woche stattfindet, gibt es ostdeutsche Blechkuchenkunst, Bio-Gemüse aus der Region und eine Bude, aus der heraus Straußenleberwurst und Staubwedel mit Straußenfedern verkauft werden. Absurd? Geht noch besser. Das Stadtmuseum Göhre (Markt 7) präsentiert die sieben Wunder von Jena. Dazu gehört ein siebenköpfiger Drache aus Pappmaché, Draht und Tierknochen. Mit dem sind ein paar Studenten vor rund 400 Jahren zum Spaß durch die Straßen gezogen – worauf man eben so kommt, wenn man zehn Semester in Jena zubringt.

12 Uhr

Im biblischen Paradies gibt es Apfelbäume, in Jena dicke Pommes. Die werden bei „Fritz Mitte“ aus der Fritteuse gefischt und schmecken besonders gut mit Honig-Limone-Dijonsenf-Mayo – klarer Sündenfall, aber lohnt sich. Eine Schlange gibt es auch, zumindest vor der Filiale am Johannisplatz 21. Einst war der kleine Pavillon eine öffentliche Toilette, heute warten die Leute hier von mittags bis spät geduldig auf ihre Portionen. In der Neugasse 5 geht’s mitunter schneller.

13 Uhr

Seit einiger Zeit stellen die Betreiber von Läden und Cafés gern Schilder mit mehr oder weniger lustigen Sprüchen vor die Tür. Humor sells. Im unprätentiösen Jena liest man da etwa: „Zuhause ist da, wo man den Bauch nicht einziehen muss.“ Der ist nach den Pommes etwas runder als sonst, weshalb man im „Kolibri“ (Am Heinrichsberg 2) vielleicht doch keinen plissierten Rock anprobiert, sondern auf die Halsketten mit „Jena Paradies“-Schriftzug schielt – so wird aus jedem Besucher ein Gangmitglied. Eine Sonderanfertigung, erklärt die Verkäuferin, die Jane heißt und aus Jena kommt, sicher nur ein Zufall. Weiterstöbern? Dann ab zum Concept Store Del Corazón (Markt 2): Statt der zehnten Sukkulente lieber was Regionales eintüten, zum Beispiel Lyonel Gin aus Weimar.

16 Uhr

Wo ist es denn nun, das Jenaer Paradies? Direkt an der Saale, hier treffen sich alle – zum Grillen auf der Wiese hinter dem Bahnhof, zum Kanu- und Schlauchbootfahren, zum Playdate im kinderfreundlichen Vegan-Lokal Salü (Burgauer Weg 1a), zum Urban Gardening im „Flussland Jena“. Besonders beliebt ist der Strand 22 (Vor dem Neutor 5). Am Wasser gelegen, erinnert die Pop-up-Location entfernt ans Berliner Holzmarkt-Areal. Betreiber Michael Carl, den alle Carlos nennen, ist nach einigen Stationen, unter anderem in Berlin, nach Jena zurückgekehrt. Im Paradies gab es Platz für Projekte. Aus der anfänglichen Zwischennutzung des einstigen Bootsanlegers ist eine feste Adresse geworden, die spätestens im Mai, bei gutem Wetter vielleicht schon Ostern, in die elfte Saison startet und zugleich Biergarten, Konzert- und Varietébühne, Freiluftkino, Bar, Café und Club ist. „Nachmittags mischen sich die Senioren aus dem Altersheim mit Familien und Studenten, gegen 20 Uhr dreht die Stimmung, geht in Richtung Party“, erzählt Carlos, während im Hintergrund der Aufbau läuft und die Sägen kreischen. Bald wird wieder unter gelben Sonnensegeln und Lichterketten getanzt, angestoßen, kurz in die saubere Saale gehüpft.

Irdisches Eden. Durch das Paradies, wie der Stadtpark heißt, fließt die Saale. In der Pop-up-Location Strand 22, treffen Senioren auf Clubgänger.
Irdisches Eden. Durch das Paradies, wie der Stadtpark heißt, fließt die Saale. In der Pop-up-Location Strand 22, treffen Senioren auf Clubgänger.

© Christian Hempf

19 Uhr

Zu Hause ist es am schönsten. Oder wie die Thüringer sagen: Daheme. So heißt auch das Lokal zu Beginn der Kneipenmeile Wagnergasse (Johannisplatz 15). Man bekommt Wundersames wie Jenaer Schellenbraten und Heichelheimer Wickelklöße, ein Traum aus Kartoffeln, Semmelbröseln und Butter. Anschließend geht es rüber zum Späti. „Foto Michel“ steht in verblassten Lettern an der Fassade des sanierungsbedürftigen Häuschens (Wagnergasse 38). Drinnen sieht es aus wie in einem Bioladen der ersten Generation. Cola kauft man woanders, hier gibt es ungesüßte Stachelbeerschorle aus Thüringer Früchten.

21 Uhr

Im Kassablanca, kurz „Kassa“ (Felsenkellerstraße 13a), trifft sich Jena auf einem ehemaligen Bahngelände bei Technonächten, Rap-Partys, Poetry Slams, Diskussionen, Konzerten, Tischtennisturnieren, DJ-Workshops für Frauen … Richtig, im Paradies herrscht Überfluss. Und im Kassa wird fast jeder selig.

Bloß nicht das Schillergäßchen übersehen!

Thüringer Gewächse. Im Botanischen Garten lässt es sich gut dösen. Über allem wacht seit fast 50 Jahren der 144 Meter hohe Jentower.
Thüringer Gewächse. Im Botanischen Garten lässt es sich gut dösen. Über allem wacht seit fast 50 Jahren der 144 Meter hohe Jentower.

© Andreas Hub

10 Uhr

„Ich war betrunken, und die Nacht war, äh, interessant“, raunt es vom Nebentisch. Der Tag beginnt gemächlich, etwa im Hof des Cafés Immergrün (Jenergasse 6), das sonntags ein Frühstücksbuffet fürs vornehmlich studentische Publikum auffährt: 13 Euro pro Person, vegane Aufstriche gibt es natürlich auch. Man sitzt auf den selbstgezimmerten Holzbänken, genießt das wegen des Jenaer Mikroklimas oft gute Wetter und kann von hier aus den Jentower sehen, diesen 144 Meter hohen Büro-Zylinder in der Altstadt – zugleich Fremdkörper und Wahrzeichen.

12 Uhr

Warum also nicht hoch auf den Jentower? Die 27 Stockwerke am Leutragraben 27 sind mit dem Aufzug schnell gemacht. Oben versteht man, warum die Quadratmeterpreise für Mietwohnungen durchschnittlich bei fast sieben Euro kalt liegen und damit Erfurt und sogar Potsdam toppen: Diese Stadt kann nicht wachsen. Sie stößt längst an die Muschelkalkhänge, an denen die Einwohner so gern wandern gehen. Jena zählt gut 110 000 Einwohner, Tendenz leicht steigend. Etwa jeder Fünfte studiert.

13 Uhr

Am Fuße des Jentowers steht ein weinbewachsenes Eckhaus, seit 90 Jahren gibt es die Bücherstube (Johannisplatz 28). Im Verkaufsraum kann man sich gerade einmal um sich selbst drehen, die Regale sind voll ausgewählter Belletristik, Biografien, Regionalia über das alte Jena. Wer in der Vergangenheit wühlen möchte, geht in den Trödelladen Löwenzahn (Wagnergasse 14). Obwohl – wühlen muss man nicht. Alles ist sortiert, vieles mit Schildern versehen. „Nimm mich mit zum Festival“, schlägt ein alter Gaskocher vor. Das Prunkstück ist der Jugendstil-Zapfhahn aus einem längst geschlossenen Gasthof. Eine historische Klinge erinnert daran, dass es Jenaer Studenten waren, die vor mehr als 200 Jahren die erste Burschenschaft gründeten.

14 Uhr

Die Stadtparkvegetation entspricht nicht ganz den gängigen Vorstellungen vom Paradies. Um Bananenbäume, fleischfressende Pflanzen und medizinballgroße Kakteen zu sehen, geht man in den Botanischen Garten (Fürstengraben 26) und döst im Tropenhaus auf Stühlen weg.

15 Uhr

Bloß nicht das einspurige, fast dörflich wirkende Schillergäßchen übersehen! Der Dichter bezog hier 1797 sein Gartenhaus (Hausnummer 2), arbeitete an „Wallenstein“ und „Maria Stuart“. Man selbst arbeitet am besten an gar nichts, während man sich auf Schillers Wiese fläzt. Nebenan findet sich schon der nächste lauschige Platz unter Bäumen – das „Daheme im Garten“ öffnet im Mai und ist besonders hübsch, wenn es langsam dämmert. An der Hausnummer 5 stolpert man in den winzigen Plattenladen „Fatplastics“, der so etwas wie ein Vereinsheim der Jenaer Musikszene ist, zumindest was die elektronischen Spielarten betrifft. Chef Matthias Veit legt ein paar Platten auf den Tresen, darunter eine EP von Ladenmitgründer Sören Bodner, der sich Monkey Maffia nennt: Mal housig, mal clean, nicht zu cool, es frickelt ein wenig. Klar, der hat auch schon im Strand 22 aufgelegt.

18 Uhr

Im selben Gebäude wie „Fatplastics“ isst man einen Happen, bevor der Abend beginnt. Die Küche des Grünowski geht ins Gnocchi-Pasta-Mediterrane, Selbstbedienung ist gern gesehen. Man kommt vor allem wegen der entspannten Atmosphäre im leicht verwohnten Gastraum und auf der großen Terrasse.

20 Uhr

Und wieder ist es nicht weit, das Theaterhaus Jena hat seinen Standort im Schillergäßchen 1. Auf dem Platz davor findet jährlich im Sommer sechs Wochen lang die Kulturarena statt: Konzerte, Kino, Kinderprogramm. Den Start macht das Theaterhaus selbst, das seit Kurzem vom Rotterdamer Kollektiv Wunderbaum geleitet wird. Die Holländer knöpfen sich ihre neue Wirkungsstätte genüsslich vor, etwa in dem Stück „Thüringen Megamix“. Was passiert, wenn man die Klischees dekonstruiert? Was ist da außer Klößen, Dichterfürsten und DDR-Historie? Theater nicht nur fürs einheimische Publikum.

22 Uhr

Man könnte jetzt zum Rosenkeller (Johannisstraße 13) gehen, in dessen Tonnengewölbe schon viele Generationen von Studenten ihre Art der Prüfungsvorbereitung betrieben. Oder man lernt im Café des Theaters das Ensemble kennen und trifft Jane aus Jena wieder, deren Freund mit französischem Charme die Bar schmeißt. Also bleibt man – bis zur Vertreibung aus dem Paradies.

Reisetipps für Jena

Hinkommen

Mit dem Zug ist man mit Umstieg in Erfurt oder Halle in knapp zweieinhalb Stunden an einem der beiden zentralen Bahnhöfe, Jena West oder Paradies. Mit dem Auto dauert es über die A9 etwas länger.

Unterkommen

In der Altstadt hat erst kürzlich das einfache Boutiquehotel Eulensteins eröffnet, DZ ab 60 Euro.

Rumkommen

Die JenaCard kostet 11,90 Euro. Damit kann man 48 Stunden den ÖPNV nutzen, kriegt Rabatte und günstigere Eintrittspreise. Mehr Infos unter visit-jena.de.

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