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Andrew Ranicki

© Fredrik von Erichsen/ picture alliance / dpa

Andrew Ranicki, Sohn von Marcel Reich-Ranicki: „Wenigstens habe ich Einsteins Frisur“

Er ist der Sohn von Marcel Reich-Ranicki, der vor drei Jahren starb: Andrew Ranicki spricht hier über seinen Vater, seine Mutter - und über die Einsamkeit des Mathematikers.

Andrew Ranicki wurde 1948 in London geboren, wo sein Vater Marcel an der polnischen Botschaft arbeitete. Auch als die Eltern 1958 aus Warschau in den Westen flohen, wohnte der Sohn erst ein Jahr lang in London bei seiner Tante, besuchte später ein englisches Internat, und studierte in Cambridge Mathematik. Seine amerikanische Frau Ida lernte er in Princeton, USA, kennen. Sie heirateten dort im mathematischen Institut. Seit den 80er Jahren lebt die Familie in Edinburgh, wo der Professor für algebraische Chirurgie nun emeritiert wird. Dort, im Wintergarten des mit Sammler- und Erinnerungsstücken gefüllten Hauses findet das Gespräch statt - auf Deutsch, begleitet vom herzhaften Lachen des Gastgebers. Ranicki, der mit seinen Eltern polnisch sprach, blickt dabei auf die Büste seines Vaters, der am 18.9.2013 starb. Zwischendurch zeigt Ranicki Fotos seines kleinen Enkels. Dessen Name: Nico Marcel.

Der Mathematiker Ken Ono hat seinen Job im „Spiegel“ so beschrieben: „Ich verbringe einen großen Teil meiner Arbeitszeit ausgestreckt auf dem Sofa, die Augen geschlossen, während ich meine Gedanken wandern lasse.“ Einen tollen Beruf haben Sie, Herr Ranicki!

Das stimmt. Allerdings muss ich dabei aufrecht an einem Tisch sitzen, mit Bleistift und Papier oder am Computer, und schreiben. Hinlegen klappt bei mir nicht, da schlafe ich sofort ein.

Und dann grübeln Sie so vor sich hin.

Neue Ideen können nur im Kopf entstehen, klar. Doch es genügt nicht, eine Idee zu haben und von ihr überzeugt zu sein. Da kann man ganz schön falsch liegen. Ich muss jemand anderen davon überzeugen, dass die Idee richtig ist.

Dann unterscheidet sich Mathematik nicht von Philosophie.

Nein, nein, genau das hat mein Vater nie verstanden. Es geht nicht um die Stärke des Willens, mit der ich überzeuge, es muss auch richtig sein.

In der Literatur gibt es die Schönheit als Kategorie, in der Mathematik geht es nur ums nackte Ergebnis?

Überhaupt nicht. Der Physiknobelpreisträger Paul Dirac sagte, eine Formel müsse schön sein, der Rest würde sich ergeben. Ein Kollege von mir hat mit einem Neurologen geprüft, was im Gehirn von Mathematikern geschieht, wenn sie Formeln anschauen: Es werden dieselben Regionen des Gehirns aktiviert wie beim Betrachten von Kunst!

Sie sind Professor für algebraische Chirurgie. Gehen Sie mit dem Skalpell an die Formeln?

Was ich mache, ist Topologie, Geometrie mit algebraischen Methoden. Ich nehme ein abstraktes Gebilde, schneide es auf und nähe es wieder zusammen. Es gibt auf der Welt keinen anderen Professor der algebraischen Chirurgen, ich bin der Einzige.

Einzigartig! Das wird Ihrem Vater gefallen haben.

Er hat oft Freunde von mir gefragt, wie gut ist Andrew, wie gut ist er? Ist er der beste Mathematiker der Welt? Nun ja, er musste mit meiner akademischen Karriere Vorlieb nehmen, obwohl er mindestens einen neuen Einstein erwartet hat. Wenigstens habe ich dessen Frisur. Für meinen Vater war Berühmtheit alles, viel wichtiger als Glück. Bei meiner Mutter war das umgekehrt.

Woher kam dieser väterliche Drang?

Ich habe vor zwei Jahren in Berlin die Wannsee-Villa besucht mit der großen Ausstellung zu all dem Schrecklichen, das die Nazis dort geplant haben. Ein Zitat hat mich besonders bewegt, nämlich dass ein Vater zu seinem Sohn gesagt hatte: Wir haben nicht Auschwitz überlebt, damit du nur der Zweitbeste deiner Klasse wirst. Dieses Denken steckte auch in meinem Vater. Viele jüdische Holocaust-Überlebende wollten, dass ihre Kinder etwas aus sich machen. Es ging um Leistung, Leistung, Leistung, nicht um so etwas wie Glück.

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat auch Bücher über Mathematik geschrieben, er meint: „Die meisten Menschen ahnen gar nicht, in welchem Maß sie in ihrem Alltag davon abhängig sind.“ Womit haben Sie die Welt besser gemacht?

Ich? Das hat meinen Vater immer gestört, wozu machst du dieses, wird mein Leben dadurch verlängert oder was weiß ich. Ich bin doch kein Mediziner. Wussten Sie, dass die Navigationsgeräte in Autos auf der Einstein’schen Relativitätstheorie beruhen? Und die Scans bei der Computertomografie wurden von einem Mathematiker erfunden. Mit meiner Arbeit habe ich der Menschheit keinen solchen Dienst erwiesen.

Ihr Buch über die algebraische Chirurgie haben Sie Ihrem Großcousin Frank Auerbach gewidmet, einem der großen englischen Maler neben Lucian Freud…

… und Francis Bacon. Ich schätze Frank sehr. Meine Mutter interessierte sich für Kunst, mein Vater hatte keinen Sinn dafür, er war ja auch stark kurzsichtig. Trotzdem hatte er eine Sammlung von Bildern von Schriftstellern und schrieb in der „FAZ“ kurze Texte dazu. Daraus wurde ein Buch, das er Frank widmete. Der schrieb ihm, er sei gerührt, doch die Bilder, außer vielleicht ein oder zwei, gefielen ihm ganz und gar nicht. Mein Vater und mein Cousin sind aus demselben Holz geschnitzt, hihihi.

Frank Auerbach ist in seiner Geburtsstadt Berlin kaum bekannt, aber seine Bilder werden hoch gehandelt.

Eine Zeichnung von ihm, die die Schwester meines Vaters, Tante Gerda, zeigt, wurde 2015 für mehr als zwei Millionen Pfund verkauft. Frank sagte, wenn er das vor 50 Jahren gewusst hätte, hätte er es behalten.

Sie lachen dauernd, nach jedem dritten Satz, Herr Ranicki, und gestikulieren beim Erzählen, wie der Vater. Was haben Sie von Ihren Eltern geerbt?

Von meiner Mutter die vielen Haare – worauf mein Vater immer neidisch war – und ihre Toleranz. Ich komme gut mit schwierigen Menschen aus. Von meinem Vater die Fähigkeit der Fokussierung, mich voll und ganz einer Sache zu verschreiben.

Marcel Reich-Ranicki mit Frau Tosia und Sohn Andrew.
Marcel Reich-Ranicki mit Frau Tosia und Sohn Andrew.

© Copyright: Andrew Ranicki

"Schon der Besitz von Tusche bedeutete den Tod"

Sie kommen gerade aus den Highlands vom Wandern. Eine Passion?

Wir gehen da jedes Jahr mit mehreren Freunden hin, ein winziger Ort im Nordwesten. Die Landschaft ist schön, und es ist jedes Jahr dieselbe, da muss ich mich nicht umstellen. Meine einzige Bedingung: Eine Internetverbindung muss da sein.

Sie können nicht ohne?

Nein. So bin ich weltweit mit Kollegen verbunden. Es gibt nur wenige Menschen, mit denen ich über meine Arbeit reden kann. Ohne diese Technik wäre ich vermutlich sehr einsam.

Für Ihren Vater haben Landschaft und Natur per se nicht existiert, er meinte: „Was wäre die Loreley ohne Heine? Nur irgend so ein Felsen, unbedeutend.“

Man muss nicht immer für voll nehmen, was er so gesagt hat. Meine Mutter und er sind ja schon in den 60er Jahren häufig in die Schweiz und nach Italien gefahren, ich habe sie manchmal begleitet, und es waren stets zauberhafte Landschaften. Es mussten schon die wunderschönsten Landschaften sein, die er nicht mochte, und über die er dann schlecht reden konnte. Ein wichtiges Datum fürs Reisen war ihr Hochzeitstag, der 22. Juli, sie haben konsequent vermieden, da in Deutschland zu sein. Sie haben ein gutes Hotel in Zürich oder sonstwo genommen und Freunde eingeladen, um zu feiern. Aber stets außerhalb des Täterlandes, man könnte es als Zeichen der Nichtverbundenheit deuten. Er hat die Umstände dieses 22. Juli 1942 in seiner Autobiografie beschrieben. Meine Eltern wollten auch nicht, dass ich auf eine deutsche Schule gehe. Sie zogen Ende der 50er nach Hamburg, wo es die einzige internationale Schule gab. Ich weiß nicht, ob das logisch durchdacht war. Es war einfach ein starkes Gefühl.

Sie sind im Dezember 1948 zur Welt gekommen. Haben Sie als Kind vom Holocaust, dem Leben im Warschauer Ghetto, den umgebrachten Verwandten in den Konzentrationslagern etwas mitbekommen?

So wie es in den Familien der Täter nicht üblich war, zu reden, war es auch bei den Opfern kein Thema, das man gerne beim Abendessen ansprach. Mein Vater hat später geklagt, ich hätte ihn zu wenig nach seinen Kriegserlebnissen gefragt, das fand ich fast unverschämt. Ich hörte immer genau zu und habe nichts vergessen. Ich wusste, wie wichtig die Zeit im Ghetto war, Liebe und Tod auf so engem Raum, gleichsam überhöht, sie haben dort geheiratet, meine Großeltern starben da. Und dann diese Stille, eineinhalb Jahre lang in einem Keller versteckt. Ich muss zwölf gewesen sein, als meine Mutter mir ihre Bilder aus dem Ghetto zeigte, ihr Leben, der ganze Schrecken, von ihr gezeichnet. Die ausgemergelten Gestalten, der Umschlagplatz mit den Todgeweihten, die hochmütigen Nazis. Sie war künstlerisch begabt, man könnte fast sagen, diese Bilder sind ihre Glanzleistung, nur waren die Umstände alles andere als glänzend. Das entstand ja unter Lebensgefahr, schon der Besitz von Tusche bedeutete den Tod, wenn man erwischt wurde.

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Ihre Mutter hatte 1939 einen Studienplatz für Kunst in Paris, dann überfielen die Nazis Polen und der Krieg begann. Warum hat sie diese Begabung und Neigung später nie wieder aufgenommen?

Meine Mutter ging an diesen Erlebnissen zugrunde. Sie war psychisch labil, hatte immer Schlafstörungen, musste schwere Medikamente nehmen. Sie versuchte es sogar 1947 auf der Kunsthochschule in Warschau, es ging nicht mehr. Mein Vater machte einmal die Bemerkung, die Kriegszeit hätte Mutter geschwächt und ihn gestärkt. Er wurde laut, sie verstummte. Ich bin sicher, seine geistige Unabhängigkeit kam von daher. Er schuldete niemandem etwas. Im Gegenteil.

Seine Autobiografie „Mein Leben“ hat sich mehr als eine Million Mal verkauft. Sie ist Ihrer Mutter und Ihnen gewidmet, Sie beide kommen aber kaum vor.

Als er sie schrieb, drohte er uns, seht euch vor, ich schwärze euch an. Stattdessen gab es die Widmung. Er hat mit dem Buch viel Geld verdient und uns gefragt, was möchtet ihr? Oooch, habe ich geantwortet, ich bin ein bescheidener Mensch, aber meine Frau Ida hätte gern einen Wintergarten. Darin sitzen wir nun und reden miteinander, ich lebe also täglich in der Autobiografie meines Vaters.

Hat ihn dieser Erfolg überrascht?

Sehr. Er war so ein großer Kenner des Büchermarktes und hat bei seiner eigenen Sache total falsch gelegen.

Das Buch wurde verfilmt, was bedeutete ihm all das?

Geld an sich interessierte ihn nicht, er brauchte nicht viel. Der Ruhm war ihm wichtiger. Doch bei diesem Buch ging es ihm um Aufklärung, er wollte erzählen, was passiert war. In den Kapiteln über das Warschauer Ghetto wollte er das intellektuelle Leben dort zeigen und nicht nur, wie man Menschen in Gaskammern schaffte. Er hat viel in Schulen daraus vorgelesen. Er war Zeuge. Ein wichtiger.

Von Ihrer Mutter wollte er sich die Erlaubnis für einige dezente Andeutungen holen, Ihre Eltern hätten beide Affären gehabt.

Ja, nur hatte die eher mein Vater, ehrlich gesagt.

Was war der Kitt dieser Ehe?

Die gemeinsame Zeit im Ghetto. Wenn Sie zwei Stücke Metall sehr heiß machen, verschmelzen sie, und wenn sie abkühlen, sind sie nicht mehr zu trennen. So erkläre ich es mir.

Andrew Ranicki im Wintergarten seines Hauses, aufgenommen beim Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Andrew Ranicki im Wintergarten seines Hauses, aufgenommen beim Gespräch mit dem Tagesspiegel.

© Norbert Thomma

"Er war doch sehr unbeherrscht"

Es werden nicht alle stolz gewesen sein, in der Autobiografie vorzukommen.

Über Walter Jens, jahrzehntelang ein guter Freund, hatte er geschrieben, sollte es Jens je in ein Bordell verschlagen, würde er dort einen Kamillentee bestellen, hihihi. Das ist doch nicht ehrverletzend, trotzdem war Jens sauer.

Bei Ihnen müssen die Schriftsteller ein- und ausgegangen sein.

Nicht so oft, wie man meinen würde. Peter Rühmkorf etwa, Siegfried Lenz am häufigsten. Autoren traf er bei der Gruppe 47 oder in Cafés, zu Hause war nur Arbeitsplatz – und das Telefon, mein Vater pflegte viele Kontakte per Telefon. Ich ging mal mit meiner Mutter ins Kino, Vater redete mit Jens und winkte uns zum Abschied zu. Als wir nach Hause kamen, dauerte das Gespräch immer noch an. Jens kam im Sommer nach Sylt, mein Vater besuchte ihn. Dort ist auch das berühmte Foto entstanden mit Ulrike Meinhof und meinem Vater…

… das Sie Mitte der 60er Jahre gemacht haben.

Ich kann mich sehr gut an sie erinnern, sie war schon recht bekannt als Journalistin für die Zeitschrift „konkret“. Mein Vater mochte sie, weil sie intelligent war. Auch weil sie der erste Mensch gewesen ist, der ihn nach seiner Zeit im Warschauer Ghetto gefragt hat.

Teofila und Marcel Reich-Ranicki im Jahr 2001.
Teofila und Marcel Reich-Ranicki im Jahr 2001.

© imago stock&people, Horst Galuschka

Schwer vorstellbar, dass Ihr Vater mal mit Ihnen Holzklötzchen gestapelt oder herumgealbert hat.

Das hat er auch nie, er hat mir Bücher empfohlen, ich konnte mit vier Jahren lesen. Seine Tipps passten wirklich gut zu meinem jeweiligen Alter.

Er war ja nicht nur klug und unterhaltsam, auch…

… verletzend, vor seinen Wutausbrüchen hatte ich Angst, er war doch sehr unbeherrscht. Dass ich immer in den USA oder in England gelebt habe, war sicherlich hilfreich für unser Verhältnis. Ich ständig mit Familie in Frankfurt – eine Tragödie! Er war auch nicht sehr glücklich, als ich ihm sagte, Ida sei schwanger: Er fühle sich mit 60 zu jung, um Großvater zu werden. Das fand ich mathematisch komisch, weil er genau 30 war, als ich geboren wurde. Meine Tochter Carla durfte auch nie das Wort „Opa“ benutzen, nur Marcel. Er hat weder mit ihr noch mit meiner Frau je eine gemeinsame Sprache gefunden. Meine Mutter hatte in dieser Hinsicht die größere Begabung.

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Sie waren die letzten drei Monate seines Lebens an seiner Seite. War das sein Wunsch?

Er hat es nicht ausgesprochen, mir war das wichtig. Ich wusste ja, er hat genug Angst gehabt in diesem Leben. Eine so autoritäre Figur nun schwach und hilflos zu sehen, war traurig, dennoch war es für mich eine erfüllende Zeit. „Das Alter ist ein Massaker“, diesen Satz von Philip Roth hat er oft zitiert. Ich kann nur zustimmen.

Ihr Vater war völlig frei von Religion…

… und ich konnte auch am Ende keine Anzeichen davon bei ihm erkennen. Ihm war das, was Menschen geschaffen haben, viel näher als das, was irgendein Gott gebaut haben soll. Literatur und Musik, das war großes Schaffen. Er sagte gern, er kenne viele Musiker, die nicht an Gott glauben, aber keine Musiker, die nicht an Bach glauben.

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