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Angelika Klüssendorf: Schreibpause im Garten.

© IMAGO

Angelika Klüssendorf: Stadtflucht

Die Schriftstellerin Angelika Klüssendorf wird einmütig gefeiert. Sie floh aus der DDR – und wohnt heute im tiefsten Brandenburg. Ihr Leben zwischen Schreibtisch, Garten, TV-Serien und Krimis. Ein Hausbesuch.

Eigentlich dürfte sie gar nicht hier sitzen: draußen, im Freien. In ihrem Garten auf dem brandenburgischen Dorf. Die Vögel zwitschern, der Hahn kräht, noch quaken die Enten, die sie ihren Gästen gern gebraten vorsetzt. Eigentlich hat sie Stubenarrest, bis ans Ende ihres Lebens. Den hat die Mutter einst über sie verhängt, Höchststrafe: ein Jahr. Und immer wieder was obendrauf gepackt, wenn man alles zusammenzählt, sagt die 55-Jährige, würde es wohl reichen bis zum 80. Lebensjahr. Hätte Angelika Klüssendorf sich nicht selbst befreit. So wie ihr literarisches Alter Ego.

„April“ heißt ihr neuer Roman (Kiepenheuer & Witsch), von der Kritik in seltener Einmütigkeit hoch gelobt – atemberaubend, fast unerträglich harte Kost, ein schmales Buch von ungeheurer Dichte, so wie der Vorgänger, „Das Mädchen“. Der Weg einer jungen Rebellin, aus der Fabrik in die Psychiatrie, weiter ins Museum, den künstlerischen Untergrund und schließlich in den Westen, immer am Abgrund entlang. Es ist ihre eigene Geschichte. Das zu sagen, dazu hat die Schriftstellerin sich jetzt entschlossen, es hat, wie sie sagt, Zeit gebraucht. Und trotzdem ist es ein Roman, die Figur noch härter, als sie es erlebt hat.

In beiden Büchern spielt das Zuhause eine zentrale Rolle, als Gefängnis wie als Hort der Freiheit, beide beginnen damit. „Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig“, lautet der erste Satz in „Das Mädchen“, der lustiger klingt, als er ist: Die zwölfjährige Hauptfigur und ihr kleiner Bruder, die ihre eigene Scheiße auf die Straße schmeißen, sind seit Tagen in der Wohnung eingeschlossen. „April“ beginnt mit dem Einzug der mittlerweile 18-Jährigen aus dem Heim in die finstere Leipziger Wohnung von Frl. Jungnickel.

April, den Namen hat das Mädchen sich selbst gegeben, nach dem Deep-Purple-Song. Das hat ein Kritiker dann doch als unauthentisch moniert: Dieses Sich-selbst-neu-Erfinden sei doch ein westliches Konzept.

Angelika Klüssendorf hat es immer wieder getan. Ihre Eltern waren Saisonkellner in der DDR, zogen von einem Ort zum nächsten, und jedes Mal musste die Tochter die Schule wechseln. Sie hat es als Chance begriffen, das Immer-wieder-von-vorne-Anfangen, die Hoffnung, dass es diesmal besser wird. Schon damals hat sie geschrieben, Gedichte, Tagebuch, Aufsätze. Alles weg. Entsorgt von ihr selber, das macht sie immer mal wieder. Wenn sie ein Buch abgeschlossen hat, schmeißt sie alle Entwürfe fort.

Wir sitzen vor ihrem Haus, einer alten umgebauten Backsteinscheune. Am Ende der Sackgasse in einem Dorf im Südosten Brandenburgs, das nicht viel mehr zu bieten hat als Kirche, Löschteich und Bushaltestelle. Außer mit ihren unmittelbaren Nachbarn pflegt sie keinen Kontakt. Deswegen ist sie ja vor drei Jahren hergezogen, hat dafür, mit Anfang 50, sogar noch ihren Führerschein gemacht: um ihre Ruhe zu haben.

Ob ihr die Freunde aus der Stadt, von denen sie reichlich hat, nicht die Bude einrennen? Klüssendorf lacht. Würden sie gern, aber dürfen sie nicht: Die Hausherrin muss arbeiten. Nur wenn sie grünes Licht gibt, dürfen Gäste kommen.

Sie arbeitet – diszipliniert ist der falsche Ausdruck, das klingt, als ob sie sich dazu zwingen müsste, das Gegenteil ist der Fall. Wenn sie nicht schreiben kann, so hat sie mal gesagt, verliert sie den Boden unter den Füßen. Das Schreiben ist ein geschützter Raum, sagt sie jetzt, aus dem sie das Leben mit seinen Steuererklärungen aussperrt.

Angelika Klüssendorf hat mich durchs Haus geführt, zum Gucken, nicht zum Drüberschreiben, das wäre ihr zu privat. Hat ein Stück Schokoladenkuchen vom Bäcker besorgt, ihr selbst genügt ein Becher Tee. Plötzlich verbessert sie sich: Nein, kein geschützter Raum – „ein verlässlicher“. Nach ihrer so unordentlichen Kindheit und Jugend, mal hier, mal da, mal dies, mal das gemacht, bewohnt sie jetzt ein sehr geordnetes Leben. Morgens früh geht’s gleich an den Schreibtisch, erst gibt’s schwarzen Tee, dann Matetee, und wenn „Perlentaucher“, der Kulturnewsletter kommt, gönnt sie sich einen Kaffee mit Brot und eine kurze Pause.

Nachmittags geht sie in den großen Garten, der bei aller Idylle auch etwas Ruppiges hat, baut Kartoffeln an, pflückt Brombeeren, stolz zeigt sie den Unterstand, den ihr Freunde gebaut haben fürs Holz. Der riesige weiße Ofen mit Bank im Wohnzimmer ist ihr wichtigstes Möbelstück, auf dem lagert ihr Sohn mit seinen Freunden, wenn er aus Berlin kommt, was er jederzeit und unangemeldet darf, wie Angelika Klüssendorf mit leuchtenden Augen erzählt. Dass sie den Ofen mit den Untergrund-Kunstmappen finanziert hat, die sie aus der DDR mitgebracht hatte, freut sie besonders.

Am frühen Abend kocht sie sich was, am liebsten immer das Gleiche, Ziegenkäse mit Tomaten, im Ofen gebacken, Schwarzbrot dazu, das ist ihr Frühlingslieblingsgericht. Und guckt Serien. Welche? Falsche Frage, welche nicht, müsste sie heißen, seit „Six Feet Under“ hat sie eigentlich nichts ausgelassen. Drei Monate hat die Autorin jeden Tag mit den Sopranos verbracht. Bei aller Liebe – am Ende war sie froh, dass es vorbei war, Tony, das Oberhaupt der Familie, wurde ihr zu aggressiv. Sie hatte das Gefühl, das färbt ab.

Aber noch immer schwärmt sie von den wunderbaren Tafeln, der Pasta... „Wenn ich noch ein Leben hätte,“ erklärt die große Schlanke mit den kurzen Haaren, „dann wär’ ich italienische Mamma und hätte ganz viele Kinder und würde immer kochen.“

Das Essen spielt auch deshalb eine so große Rolle für sie, weil sie als Kind oft Hunger litt. Aber wenn sie wieder im Keller eingesperrt wurde, dann las sie sich dort an Grimms Märchen satt, vor allem an ihrem liebsten, „Das kluge Gretel“, das sie jetzt begeistert nacherzählt. Im Keller waren die Gedanken frei und die Märchenwelt, so Klüssendorf, verlässlicher als die wankelmütigen Eltern.

Mit Anfang 20 ist ihr Sohn jetzt ungefähr so alt wie sie, als sie sich entschloss, mit Mann und Tochter in den Westen zu gehen. Die fünf Jahre West-Berlin, zwischen Übersiedlung und Mauerfall, beschreibt Angelika Klüssendorf als „mit meine schönsten Jahre“. So intensiv. Was nicht heißt, ohne Unglück. Wie April wurde sie von Heimweh geplagt, nach ihren Freunden, „nach dem Vertrauten“. Vergebens suchte sie im Supermarkt nach der Leberwurst, die sie immer gegessen hatte, jagte bekannten Gerüchen hinterher. Hat sie welche entdeckt? Klüssendorf lacht: „In Autoabgasen.“ In der Berlin Bar, Uhland-, Ecke Pariser Straße, fand sie ein Zuhause, „die war winzig, so ’ne Absturzbar mit Wellblechwänden. Da hatte ich das Glück, gute Kumpels kennenzulernen“.

West-Berlin hat die Übersiedlerin als Ort der Wärme in Erinnerung, der durchaus Ähnlichkeit hatte mit jener DDR, in der sie vorher lebte: Das Provisorische hat ihr gefallen, dass die Stadt ein Auffangbecken für Außenseiter war. Wie April hat sie erst auf einer Italienreise gemerkt, dass sie angekommen war: als sie sich, zum erstenmal, nach West-Berlin sehnte.

Mit „April“ ist Angelika Klüssendorf jetzt viel auf Lesereise (am 15. Mai in Berlin im Buchhändlerkeller), das reicht ihr an Welt, Urlaub braucht sie dann nicht mehr. Am Morgen nach einer Lesung nimmt sie den ersten Zug zurück nach Hause.

Im Roman kommt das Fräulein Jungnickel abends um zehn ins Zimmer ihrer Untermieterin geplatzt und dreht das Licht aus, was die junge Rebellin sich natürlich nicht lange gefallen lässt. Klüssendorf macht es heute freiwillig. Um halb neun legt sie sich ins Bett, dann beginnt ihre dritte Tageszeit: Krimilesen. Zuletzt, davon schwärmt sie besonders, Jan Costin Wagners neues Buch.

Hugo, ihr altersschwacher Hund, der auf einer Pappe neben der Hollywoodschaukel liegt, bellt. Eigentlich ist es Zeit für eine Veränderung, alle drei Jahre zieht Klüssendorf in der Regel um. Aber: „Hier zieh’ ich nie wieder aus!“ Nur eine kleine Wohnung in Berlin möchte sie sich für den Winter mieten. Etwas mühsam ist es schon, hier rauszukommen. Und kalt, ohne Zentralheizung.

Zum Abschied drückt sie dem Gast Forsythienzweige in die Hand, so leuchtend gelb, dass eine ältere Dame am Berliner U-Bahnhof ungläubig drüberstreichelt: „Sind die echt?“

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