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Markus Söder und Olaf Scholz, hier nach einer Pressekonferenz zu Corona-Maßnahmen im vergangenen Dezember, gerieten in der Nacht zu Donnerstag aneinander.
© dpa/Bernd von Jutrczenka
Tagesspiegel Plus

Folgen des Corona-Gipfels: Kapitulation in Schlumpfhausen

Scholz grinst, Söder giftet, Merkel bringt ein Opfer – und Spahn ist der Sündenbock. Warum die Zeit der Gemeinsamkeit in der Krise vorbei ist.

Von Robert Birnbaum

Rudolf Henke wirkt nicht wie ein leicht erregbarer Mensch, aber am Donnerstag platzt dem CDU-Abgeordneten der Kragen. Henke, gelernter Arzt und lange Präsident des Marburger Bunds, führt im Bundestag in die Debatte zur Verlängerung der pandemischen Notlage ein. Fünf Minuten sachlicher Vortrag, dann bricht es aus ihm heraus. Schön und gut, dass die Kanzlerin oder der Gesundheitsminister sich ständig vor diesem Parlament verantworten müssten. Aber: „Ich rege an, dass sich vielleicht der eine oder andere Ministerpräsident auch mal überlegt, ob er sich diesem Haus mal stellt, wenn er so was veranstaltet wie wir’s gestern erlebt haben!“

Dabei hat er sie noch nicht mal selbst erlebt, diese neun Stunden Corona-Gipfel im Kanzleramt und vor den Video-Leinwänden in 14 Staatskanzleien. Wahrscheinlich würde sich Henke dann erst recht den Haarkranz raufen. Einen „Perspektivwechsel“ nennt Armin Laschet das Ergebnis anderntags in seinem nordrhein-westfälischen Landtag. Das ist es auch, ja, ein bisschen. In Wahrheit ist noch etwas ganz anderes passiert.

Mit der Gemeinsamkeit der Krisenmanager, in dem langen Jahr der Pandemie oft mühsam genug gewahrt, ist es vorbei. „Ausgeschlossen, dass die noch mal etwas gemeinsam machen“, fasst ein frustrierter Zuhörer die Nacht zusammen.

Das mag übertrieben sein, aber nicht sehr. Zu dem Beschluss, der in der Nacht gefasst wurde, geben allein vier Länder abweichende Meinungen zu Protokoll. Niedersachsen und Sachsen-Anhalt wollen die zwölf Seiten nur als „Orientierungsrahmen“ gelten lassen. Thüringen kritisiert, dass Öffnungsschritte weiter nur an Inzidenzwerte gekoppelt werden. Und Sachsen erklärt gleich den ganzen Plan für unverantwortlich: „Der Freistaat Sachsen hält die beschlossenen unkonditionierten Öffnungen angesichts der aktuellen und absehbaren Infektionslage sowie Impfquote für nicht vertretbar.“

Beim Thema Impfen sitzen alle in einem Boot

Dabei lief es, berichten Leute, die virtuell dabei waren, am Mittwochnachmittag eigentlich ganz ruhig und sachlich an. Punkt Eins war das Impfen und die Frage, wie man das noch besser und schneller organisieren könnte. Der relative Frieden mag damit zu tun gehabt haben, dass alle in einem Boot sitzen: Der Bund besorgt zwar den Stoff, aber die Länder müssen ihn verimpfen. Wenn irgendwo etwas ungenutzt liegenbleibt, ist dafür ausnahmsweise nicht Jens Spahn verantwortlich.

Markus Söder will wegimpfen, was geht.
Markus Söder will wegimpfen, was geht.
© Peter Kneffel/Reuters

Nur Markus Söder war da schon voll in Fahrt und drang auf Tempo oder, wie das auf CSU-Denglisch offenbar heißt, „all you can vaccinate“ – wegimpfen, was geht. Und zwar sofort und egal, ob der Mensch vor der Nadel nach der amtlichen Reihenfolge schon dran ist und egal, ob der Hausarzt die Nadel führt.

Das ging selbst Laschet zu schnell. Der CDU-Chef und NRW-Ministerpräsident wollte den Hausärzten Zeit zur Vorbereitung und Regeln an die Hand geben. Söder regte das auf, aber der Nordrhein-Westfale setzte sich durch: Erst irgendwann um Ostern, wenn die Länder-Impfzentren absehbar sowieso nicht mehr nachkommen, weil dann Impfstoff in Massen da sein dürfte – erst dann soll die Impfung in der Hausarztpraxis zum Normalfall werden.

Also, abgehakt. Doch ab da war’s vorbei mit dem Konsens. Denn der nächste Punkt hieß Öffnungsperspektive.

Um das, was folgte, zu verstehen, ist vielleicht ein kurzer Rückblick nötig. Das Thema stand ja fast vom ersten Tag an auf der Tagesordnung dieser informellen Corona-Gesamtregierung. Zwischenzeitlich gerieten die Stichel-Duelle zwischen dem Lockerer Laschet und dem Schließer Söder dann fast in Vergessenheit.

Doch als im Herbst die zweite Welle anrollte, ging der Kampf mit anderen Protagonisten von vorne los: Hier die stark betroffenen Länder wie Bayern und Baden-Württemberg, dort die Inzidenz-Paradiese wie Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt oder Sachsen. Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer hat den Club dann schnell verlassen. Seit bei ihm die Zahlen explodieren, steht der CDU-Mann eng bei der Kanzlerin.

Aber andere drangen jetzt auf Öffnungspläne – der Kieler Daniel Günther (CDU), vor allem aber die Riege der SPD-Länderchefs. Damit kam ein neuer Ton ins Spiel. Ein Wahlkampfton. Am Mittwochabend wird er laut und deutlich. Die Sozialdemokraten haben sich schon länger auf den Gesundheitsminister eingeschossen, in dieser Nacht treibt Malu Dreyer das Sündenbock-Spiel.

Selbst Parteifreunde rücken von Jens Spahn ab.
Selbst Parteifreunde rücken von Jens Spahn ab.
© Michael Kappeler/dpa

Die SPD-Frau will in gut einer Woche in Rheinland-Pfalz an der Macht bleiben. In den Umfragen liegt aber der CDU-Konkurrent Christian Baldauf leicht vorn, getragen von der Merkel-Welle der Coronakrisenkanzlerin. Merkel direkt anzugehen traut sich keiner. Spahn schon. Dreyer hält eine Philippika auf den Minister, der nur ankündige und nicht liefere, alles verpennt und verpatzt.

Das hat er nicht. Aber Spahn neigt ja wirklich zu recht forschen Ankündigungen, die er hinterher nicht auf Punkt und Komma einhalten kann. Und er macht grobe Dummheiten. Wer den Leuten predigt, dass sie die Corona-Regeln nicht ausreizen sollen, und dann extra nach Sachsen fährt für ein dort noch erlaubtes Spendendinner im größeren Kreis – der darf sich danach nicht beschweren.

Spahn ist ein leichtes Opfer. Auch in der Union schrumpft die Zahl derer, die ihn verteidigen mögen: Weiß der Teufel, was der umtriebige junge Mann noch so alles angestellt hat.

Die App eines Rappers als große Hoffnung

Der versucht es weiter mit der Taktik, jede miese Schlagzeile mit der nächsten guten Nachricht zu kontern. Die jüngste liefert ihm die Ständige Impfkommission: Der Astrazeneca-Impfstoff darf ab jetzt an Ältere verimpft werden. Aber solche Nachrichten lösen bloß Schulterzucken aus: Na endlich, der Rest der Welt tut das längst. Die „zu spät, zu wenig“-Erzählung ist schon stärker.

In der Nacht legt die Ministerpräsidentenrunde noch ein Kapitelchen dazu. Wenn Schnell- und Selbsttests die Eintrittskarte in Restaurants, Geschäfte und Museen werden sollen, dann brauche es so was wie die „Luca“-App des Rappers Smudo, die Besucher erfasst und die Liste an die Gesundheitsämter schickt. Die Corona-Warnapp, hört man Laschet sagen, bringe dafür ja nichts. Der Baden-Württemberger Winfried Kretschmann erklärt sie gleich für erledigt.

Nun ist der Grüne bei dem Thema erkennbar nicht im Film. Dass Schnelltest-Ergebnisse höchstens einen Tag lang gelten, berichten Zuhörer, habe Kretschmann staunend zur Kenntnis genommen. Trotzdem könnte er recht behalten: Warum, dürften viele Menschen sich fragen, brauche ich zwei Corona-Apps?

Wer geht in der Krise voran? Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller hat andere Vorstellungen als die Bundeskanzlerin.
Wer geht in der Krise voran? Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller hat andere Vorstellungen als die Bundeskanzlerin.
© Markus Schreiber/dpa

Womit wir beim Stichwort „kompliziert“ sind. Auf den Tischen der Runde liegt am Mittwoch ein Beschlusstext, der selbst seinen Mitverfassern Kopfzerbrechen bereitet. Da finden sich Sätze wie dieser: „Steigt die 7-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner an drei aufeinander folgenden Tagen in dem Land oder der Region auf über 100, treten ab dem zweiten darauffolgenden Werktag die Regeln, die bis zum 7. März gegolten haben, wieder in Kraft.“

Wer das nicht auf Anhieb versteht, ist in prominenter Gesellschaft. Olaf Scholz ließ sich den Plan als Grafik aufmalen. Berlins Regierender Michael Müller hielt die nachts in der Pressekonferenz beschwörend hoch: Auf einem DIN-A4-Blatt könne jeder Bürger sehen, wann was öffnet!

Stimmt aber nicht. Der zweite darauffolgende Werktag fand auf DIN-A4 keinen Platz. Wenn man böswillig ist, kann man darin Absicht sehen. In dem komplizierten Satz steckt nämlich Angela Merkels „Notbremse“.

Angele Merkel, hier am Donnerstag im Gespräch mit Karl Lauterbach, musste eine Zahl opfern.
Angele Merkel, hier am Donnerstag im Gespräch mit Karl Lauterbach, musste eine Zahl opfern.
© Kay Nietfeld/dpa

Viel geblieben ist nicht davon. Vor drei Wochen hatte es die Kanzlerin noch geschafft, die Lockerer auszubremsen: ernsthaft öffnen erst ab Inzidenzzahl 35. In der Nacht fliegt die 35 als Gefahrengrenze wieder raus. Merkel muss sie opfern. Die Länder wollen sonst Geschäfte früher öffnen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen drohen offen mit Alleingängen. Im Viererkreis mit Söder, Scholz und Müller wird die 35 gestrichen und die 50 an ihre Stelle gesetzt.

Für die Kanzlerin kommt das der Kapitulation gleich. Ein Jahr lang hat sie immer wieder Vorsicht durchgesetzt. Als es im Oktober nicht gelang, behielt sie im Nachhinein Recht. Sie hat es in der Nacht noch einmal versucht mit einer Warnung: Man mache da gerade den gleichen Fehler wie Großbritannien, kurz bevor dort die Zahlen explodierten: Lockern in die dritte Welle hinein. Niemand will es mehr hören. Außer Michael Kretschmer, dem durch Leid bekehrten Sachsen. Und vielleicht Söder, der vorher vor einem „Öffnungsrausch“ gewarnt hatte – allerdings selbst die Baumärkte öffnete.

Armin Laschet sieht sich als Sieger - für den Moment.
Armin Laschet sieht sich als Sieger - für den Moment.
© Marcel Kusch/dpa

Aber in der Union verschieben sich gerade Gewichte. Laschet ist jetzt nicht mehr nur der NRW-Regierungschef. Er ist CDU-Vorsitzender und, so wie die Dinge stehen, erster Anwärter auf die Kanzlerkandidatur. Der Mann aus Aachen ist hinterher sehr zufrieden. Der „Perspektivwechsel“ war sein Ziel. „Wir werden den Umgang mit dem Virus lernen müssen“, verkündet er in Düsseldorf im Landtag. Er hätte genauso gut sagen können: Merkel und Söder werden mit mir leben lernen müssen.

Es braucht keiner zu träumen, dass der Bund ein Konto einrichtet, von dem alles bezahlt wird

Olaf Scholz

Vielleicht liegt da der tiefere Grund für die Explosion am Ende der Nachtsitzung. Es geht ums Geld, immer ein heikles Thema zwischen Bund und Ländern. Genauer: Den Härtefall-Fonds für Unternehmen. Bund und Länder sollen ihn zu gleichen Teilen zahlen. Scholz pocht darauf, „sehr pointiert“, wie Söder später sagen wird. „Es braucht keiner zu träumen, dass der Bund ein Konto einrichtet, von dem alles bezahlt wird“, wird der Finanzminister zitiert, der im Nebenberuf ja bekanntlich Kanzlerkandidat der SPD ist. Entweder hälftig oder gar nicht – kein anderer Konsens mit ihm.

Da platzt dem Bayern der Kragen. Was er getrunken habe, fährt er Scholz an, die Ministerpräsidenten in solchem Tonfall zu behandeln: „Sie sind hier nicht der Kanzler!“ Scholz grinst. Noch nicht, sagt seine Miene. Söder faucht: „Da brauchen Sie gar nicht so schlumpfig herumgrinsen!“

Hinterher, kurz vor Mitternacht, spricht eine müde Merkel von einer „neuen Phase“ in der Pandemiebekämpfung, Müller von einer „heiklen“ und Söder berichtet, dass er mit Scholz schon wieder ganz normal geredet habe. Anderntags in München behauptet er, der neue Plan sei eben kein „Paradigmenwechsel“. Die Inzidenzen blieben Richtschnur, die Notbremse bleibe auch.

Aber sie greift erst bei Zahlen, bei denen noch vor kurzem alle Alarmglocken schrillten. In der Nacht hat Söder das auch noch deutlich ausgesprochen: Der März sei ein Monat des Übergangs: „Das kann sich zum Guten wie zum Schlechten entwickeln.“ Und Müller hat ergänzt, dass es jetzt auf die Bürger ankomme und ihr „eigenverantwortliches Handeln“. Man kann das als Vertrauensbeweis verstehen. Oder auch als Kapitulation.

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