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Hohle Gasse. Durch diese Schlucht begeben sich Besucher in Adersbach, um die dunklen Schatten der Vergangenheit zu spüren.

© imago images/imagebroker

Auf Schatzsuche in Niederschlesien: Ganz schön unterirdisch

Die Stollen im Grenzgebiet zwischen Polen und Tschechien sind Ursprung zahlloser Legenden. Hobbyhistoriker suchen dort nach Rübezahl und Raubkunst.

Im tschechischen Adersbach, nur wenige Kilometer hinter der polnischen Grenze, beginnt jeder Morgen mit lautem Zischen, hallendem Rattern und ganz viel Dampf. Dann bringt die alte Lokomotive die ersten Menschen zum Wanderweg, der durch die Sandsteinschluchten der Felsenstadt führt, und es strömen die Wanderer los. Reicht die Kraft nicht für lange Strecken, geht’s um den Baggersee herum, in dem nur Enten schwimmen dürfen. Wer bessere Kondition hat, kraxelt die Berge hinauf, sucht nach Felsformationen, die Namen tragen wie „der Becher“, „der Hocker“ oder „Rübezahl und seine Kinder“. In den Schluchten soll nicht irgendjemand hausen, sondern Rübezahl, der Berggeist.

Zahlreiche Legenden findet man in dieser Gegend, im Mittelgebirge zwischen Tschechien und Polen. Über einige stolpern wanderbegeisterte Reisende auf ihren Touren, wenn sie den mächtigen Felsen gegenüberstehen, um die sich wundersame Geschichten von Rübezahl ranken. Den guten Menschen steht er bei und beschenkt Arme. Wer ihn verspottet, dem schickt er Blitz und Donner an den Hals. Der bärtige Kerl gilt im Riesengebirge als Gott des Wetters.

Solche Geschichten geben die Menschen von Generation zu Generation weiter, sie wurden aufgeschrieben und Kindern vorgelesen. Sie dienten dazu, die Jüngsten zu erziehen und vor schlechtem Benehmen zu warnen. Der Volksglaube formte so auch das Gerechtigkeitsempfinden der ländlichen Gemeinschaft.

Eine Legende hält sich hartnäckig seit Kriegsende

Einen komplett anderen Ursprung hat die Legende vom Goldzug. Dafür müssen sich Wanderer in den Untergrund begehen, etwa 40 Kilometer östlich der Felsen von Adersbach, auf die polnische Seite des Gebirgszugs. In Walim profitieren Tourenanbieter noch vom Grusel des Zweiten Weltkriegs, indem sie von einem sagenhaften Zug erzählen. Es ist eine Theorie, die sich seit Kriegsende hartnäckig hält: dass die Nazis, kurz vor ihrer Niederlage stehend, Kunstschätze und Edelmetalle im „östlichen Lebensraum“ versteckt haben sollen.

In Niederschlesien werben Reiseveranstalter ganz offen mit diesem Mythos. Auf Flyern für die Militäranlage Włodarz, früher Wolfsberg, ist ein Mann in Wehrmachtsuniform zu sehen. Touristen dürfen in dem teils gefluteten Stollensystem klettern, Boot fahren und mit dem Luftgewehr schießen. Die nahe Kleinstadt Wałbrzych erlebte 2015 einen Tourismusboom, als zwei Amateurforscher glaubten, dort den Goldzug gefunden zu haben. Die Nachricht entpuppte sich als Ente, seitdem wird jedoch in jedem verlassenen Stollen, den die Nazis anlegten, ein Schatz vermutet.

Nun ist also Walim an der Reihe. Lukasz Kazek, ein 40-jähriger Hobbyhistoriker und Autor, wartet am Eingang des Tunnels. Seit seiner Kindheit faszinieren ihn die langen Gänge, die in den Berg geschlagen wurden. „Ständig habe ich meinen Großvater nach Geschichten ausgefragt, schließlich war er nach dem Zweiten Weltkrieg als einer der ersten Zivilisten im Stollen“, erzählt Kazek. So habe er erstes Wissen über das Untergrundprojekt „Riese“ angesammelt.

„Einen Goldzug hat es hier nie gegeben“

„Den Walim-Stollen haben die Gefangenen aus den Arbeitslagern der Nazis angelegt“, erklärt Kazek. Er gehört zu einem weitverzweigten Tunnelsystem, das bis nach Schloss Fürstenstein reichen sollte, 25 Kilometer entfernt, das sogenannte Projekt „Riese“. Es wurde nie fertig gestellt. Bevor Kazek den dunklen Gang betritt, stellt er klar: „Einen Goldzug hat es hier nie gegeben.“ Warum er dann überhaupt Touren anbietet? „Ich will die Leute darauf aufmerksam machen, was wirklich hier passiert ist“, sagt Kazek. Das heißt, die Aufmerksamkeit auf die Opfer lenken. Die Ausgebeuteten. Die Getöteten. Mehr als 20 000 Häftlinge aus dem naheliegenden KZ Groß-Rosen wurden für das Projekt „Riese“ eingesetzt, ungefähr 5000 starben dabei.

Beinahe so schön wie Neuschwanstein: Burg Fürstenstein in Wałbrzych.
Beinahe so schön wie Neuschwanstein: Burg Fürstenstein in Wałbrzych.

© Wiesław Jurewicz

Kazek dreht sich um, zieht den Kopf ein und geht in den Stollen. Nach etwas mehr als 20 Metern bleibt er stehen, breitbeinig, neben ihm alte deutsche Sturmgewehre, in der Nachkriegszeit im Stollen gefunden. Seinen Helm trägt er lässig unterm Arm, mit den Chucks an den Füßen wirkt er irgendwie fehl am Platz. „Für die Nazis war dieser Stollen ein Bunker, ein Versteck. Britische oder russische Fliegerbomben hätten das Gestein über uns nie knacken können“, sagt er. „Aber es war mit Sicherheit kein Versteck für Raubkunst.“ Forscher vermuten, dass die gigantischen Anlagen einmal ein unterirdisches Arbeits- und Wohnquartier werden sollten. Eine genaue Rekonstruktion ist nicht mehr möglich. Die Pläne für „Riese“ gelten als vermisst.

Auch unter Schloss Fürstenstein sind Schatzsucher unterwegs

Für die Menschen in der Gegend war der Stollen in Walim lange tabu. Nachdem die Russen die umliegenden Dörfer befreit und die Tunnel untersucht hatten, trauten sich nur noch junge Männer, die Mutproben bestehen wollten, in die ungesicherten Betongänge. Darunter war auch Kazeks Großvater. „Hier hat er Glühbirnen von Siemens geklaut“, erzählt der Enkel. Dann erreicht er das Ende der Höhle, eine riesige, unterirdische Halle, 40 Meter hoch. Der Hauptraum des Walim-Stollens, in den drei Zugänge münden. Hier hätte ein Zugwaggon reingepasst. Lukasz Kazek zuckt die Schultern: „Ich sehe keine Schienen. Siehst du welche?“

Nicht nur in Walim wird nach dem mysteriösen Goldzug oder gar dem Bernsteinzimmer gesucht. Auch unter Schloss Fürstenstein, einer alten Burg aus dem 13. Jahrhundert, sind Schatzsucher mit Metalldetektoren unterwegs. Über der Erde erleben Besucher ein Schloss, eine wunderschöne Gartenanlage auf Terrassen, beinahe so schön wie Neuschwanstein und ohne die Millionen Touristen. Unter der Erde kaufen Touristen gefälschte Nazi-Münzen und zahlen für Führungen, bei denen sie auf einen glücklichen Fund hoffen.

Die Geschichte der Katzenfrau in Krobica

Während Lukasz Kazek den Besuchern seiner Heimat die Legenden lieber verschweigen würde, kann etwa 100 Kilometer nordwestlich, im Bergbaudorf Krobica, Patrizia Osziak es kaum erwarten, die Geschichte der Katzenfrau zu erzählen. Nach Krobica, tief im Riesengebirge versteckt und durch eine ewig lange, kurvenreiche Autofahrt zu erreichen, verirren sich nur wenige Menschen. Die meisten Reisenden planen Trekking- oder Mountainbike-Touren in der Umgebung.

Das will Patricia Osziak ändern. Sie betritt den St. Leopoldstollen, der bereits im 16. Jahrhundert angelegt wurde, geht tiefer in den Berg, die Knie leicht gebeugt, bloß nicht den Kopf anstoßen. Nach einer Viertelstunde erreicht sie das Ende des Gangs – und beginnt zu erzählen. „Gegen Ende des 16. Jahrhunderts machte sich ein junger Bergmann für seine Schicht bereit. Seine Frau bat ihn, an diesem Tag nicht arbeiten zu gehen, weil sie eine böse Vorahnung hatte.“ Die Taschenlampe von Patrizia Osziak leuchtet Schatten an die Wände. „Natürlich hörte der Mann nicht auf sie. Wenige Stunden später kam es zu einem Steinschlag in der Höhle, der Bergmann wurde verschüttet.“

Tagelang habe daraufhin die Frau nach ihrem Mann gegraben, bis sie sich in eine Katze verwandelt haben soll. Angeblich um besser durch die Felsen krabbeln und ihren Mann finden können. „Die Geschichte der Katzenfrau ist eine über die Hoffnung“, sagt Patrizia Osziak. Ob dieses Märchen die Massen in den Ort ziehen wird? Wenigstens eine Frau glaubt ganz fest daran.

Es geht zurück ans Tageslicht. Ein Gedanke lässt sich nicht abschütteln: Manche Geheimnisse sollten einfach für immer unter der Erde ruhen.

Matthias Kirsch

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