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Nicht schön, aber erfolgreich: der Truthahngeier.

© Illustration: Andree Volkmann

Berliner Schnauzen (62): Der Truthahngeier

Es hat seinen Grund, dass dieser Vogel einen kahlen Kopf hat. Wie soll er sich sonst unbeschadet ins Aas hineinbohren?

Wenn frisch geschlüpfte Vögel bereits von einem zarten Verwesungshauch umgeben sind, handelt es sich bei ihnen wahrscheinlich um Geierküken. So wie bei diesen beiden hier, die mit weißem Flaum auf schwarzer Haut in einer Plastikwanne sitzen und erwartungsfroh über deren Rand schauen: Es sind Truthahngeier mit Schlüpfdatum Mitte Mai.

Dass sie ihr Leben in einer Wanne beginnen, zwischen drei Schleiereulenbabys rechts, die mit aufgerissenen Augen dauernd ihre Köpfe verdrehen, und zwei Pelikanjungen links, die aussehen, als habe man sie für das grausame Finale von „Jurassic Park“ entworfen, liegt an ihren Eltern. Die sind sehr empfindsame Brüter, und wenn sie sich gestört fühlen, während Eier im Nest sind, werden diese kurzerhand verspeist. Um das zu verhindern, wurde das Gelege schnell aus dem Nest geholt und in die Vogelaufzuchtstation gebracht, wo es Brutkästen gibt, um die Küken wohlbehalten aus der Schale zu holen.

Dabei sind die Eltern bereits aus der Flugvolière am südöstlichen Tierparkrand weggezogen in eine ruhige Ecke, wo Besucher keinen Zutritt haben. Sie leben in einem abseits gelegenen Häuschen mit zwei vergitterten Gehegen. Auf der einen Seite sind sie untergebracht, auf der anderen Seite haust „das alte Paar“. Die beiden heißen wirklich so, weil sie genau das sind: ein altes Paar. Geboren wurden sie 1959 in Kanada. Nach Friedrichsfelde kamen sie im Mauerbaujahr 1961. Das alte Paar hatte mehrfach Nachwuchs, der aber nur als Handaufzucht überlebte. Inzwischen sehen die 56 Jahre alten Vögel so gerupft aus, dass man sie den Besuchern nicht mehr zeigen möchte, „die würden sonst sofort den Tierschutz alarmieren“, sagt Vogelkurator Martin Kaiser. Also vertritt in der Flugvolière nur ein Truthahngeier seine Art.

Man erkennt ihn schnell: Aus schwarzem Federkleid reckt er am kurzen roten Hals einen roten kahlen Kopf in die Luft. Dass der kahl ist, hat einen Grund: Geier bohren sich bei der Aasfresserei in den Kadaver hinein, und sie wollen hinterher nicht den Leichenschleim überall am Kopfgefieder haben. An der Länge des unbefederten Halses lasse sich somit gut ablesen, wie tief die Vögel sich ins Fressen hineingraben, erklärt Vogelkurator Martin Kaiser.

Truthahngeier sind Neuweltgeier, weil sie vor allem in Nord- und Südamerika vorkommen. Von den Altweltgeiern unterscheiden sie sich dadurch, dass sie keine Nasenscheidewand haben. Man kann durch das Loch in ihrem Schnabel hindurchschauen. Das geht bei den Küken in ihrer Wanne besonders gut.

Kaiser greift an ihre Flügelchen und schaut nach, wie es mit dem Federwuchs aussieht. Da!, die ersten Kiele zeichnen sich ab. Wenn die Tiere groß sind, sollen sie in der Flugshow mitmachen, die der Tierpark plant. Aber ob sie lernen werden, was man von ihnen will?

Jenem Lernauftrag, den 2010 das Landeskriminalamt Niedersachsen an zwei Artgenossen erteilte, wurde jedenfalls nicht entsprochen. Zwei aus Österreich angeschaffte Truthahngeier sollten zur Leichensuche ausgebildet werden. Was ist daraus geworden? Nichts, heißt es in Hannover. Die Vögel hätten direkt nach ihrem Umzug „eine Beamtenmentalität“ entwickelt. Wie bitte? „Sie wollten nicht mehr fliegen.“ Oje.

TRUTHAHNGEIER IM TIERPARK

Lebenserwartung: mehr als 50 Jahre

Interessanter Nachbar: Felsenpinguin, Königsgeier, Schneeleopard

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