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Miss Mississippi bei der Wahl zur "Miss America".

© Ed Hille/Philadelphia Inquirer

Casino-Stadt an der Ostküste: Atlantic City hofft auf Miss America

Es war das Las Vegas der Ostküste: Casinos, Luxushotels, Glamour. Konkurrenz durch andere Städte und das Internet brachten den Niedergang. Ein neues Image soll Atlantic City nun retten.

Von Anna Sauerbrey

Der Tag, an dem Miss America zurückkehrt, ist ungewöhnlich klar. Schwül und diesig waren die vergangenen Wochen. Heute jedoch meißelt gleißende Sonne die weißen Stuhlreihen als Schatten auf den Boardwalk. Dieser straßenbreite Brettersteg auf Stelzen zieht sich über sieben Kilometer zwischen der Stadt und dem Meer hin, eine Strandpromenade gesäumt von Casinos, Geschäften und Restaurants.

Später am Tag wird hier die Parade durchziehen, und Atlantic City wird die Miss-America-Anwärterinnen mit Konfetti begrüßen. Hunderttausende Besucher werden erwartet. Doch jetzt, am frühen Morgen, ist es noch beinahe menschenleer. Ein älteres Ehepaar radelt vorbei, weiße Hosen, weiße Turnschuhe, weiße Hütchen. Die Holzplanken klappern unter den Fahrradreifen.

Stacy Satero tritt aus einem Pavillon auf den Boardwalk, zieht ihren Ranger-Hut tiefer in die Stirn und stapft breitbeinig in Richtung Boardwalk Hall. „Herzlich willkommen in meinem Büro“, sagt sie. Die 46-Jährige breitet die Arme aus wie die Moderatorin einer Schlagershow und grinst.

Atlantic City, die Spielerstadt an der amerikanischen Atlantikküste, 200 Kilometer südlich von New York, ist dabei, sich neu zu erfinden. Mit dem Glücksspiel allein ist kein Geschäft mehr zu machen. Als Atlantic City 1977 Casinos erlaubte, war es der einzige Ort an der gesamten Ostküste der USA, an dem das Spielen gestattet war. Inzwischen sind viele nachgezogen. Pittsburgh und Philadelphia im Nachbarstaat Pennsylvania haben Glücksspieltempel eröffnet. Hinzu kommt die wachsende, wenn auch illegale Konkurrenz im Internet. Seit Jahren fallen in Atlantic City die Umsätze. Dann zog 2006 auch noch „Miss America“ nach Las Vegas. Der Wettbewerb war 1921 in Atlantic City gegründet worden und galt als Markenzeichen. Ein Tiefpunkt war erreicht.

Auf Stacys Ärmel ist eine 14 aufgenäht. Sie ist Nummer 14 unter 75 „Boardwalk-Botschaftern“, die Atlantic City im April 2012 eingestellt hat, um der 40 000-Einwohner-Stadt ein neues Image zu verpassen. Weniger Schmuddelkram, dafür Diversifizierung. Partys und Nachtclubs, Wal- und Delfinbootstouren, Konferenzen und Messen, die Weltmeisterschaft im Sandburgbauen.

Das neue Atlantic City, das ist Ausrasten nach Regeln. Ein Abenteuer, in dem alle öffentlichen Toiletten ausgeschildert sind. Schwimmen ist nur unter Aufsicht erlaubt. Alkohol darf nur in den Bars konsumiert werden. Und Obdachlose haben sich aus dem mit roten Linien auf dem Stadtplan markierten „Touristendistrikt“ fernzuhalten. Dass sich Miss America jetzt, einige Jahre später, zur Rückkehr entschied, sehen Marketingexperten als Meilenstein. Miss America, das ist was für die ganze Familie. Uramerikanisch. Glitzrig. Straff organisiert. Wie das neue Atlantic City.

Unter dem Boardwalk, sagt Alex Siniari, gibt es keine Regeln.

Wie ein Geistlicher sich um Obdachlose kümmert

Unter dem Boardwalk kauert die alte Stadt. Sie hat sich geflüchtet in den Raum zwischen Strand und Steg. Morgens um sieben Uhr hat Stacy zwar ihren Abschnitt dieser Unterwelt kontrolliert, hat mit einer Taschenlampe in das Halbdunkel geleuchtet und niemanden gefunden.

Doch das heißt nichts, sagt Alex, der jetzt, einige Stunden später, selbst die Runde macht. Vor acht Jahren ist Alex in Atlantic City gestrandet. Er ist Mitte 30 und hat ein feines, sympathisches Gesicht mit Dreitagebart. Alex arbeitet als Sozialarbeiter für die Obdachlosenmission der Stadt, die sich aus kirchlichen Mitteln und Spenden finanziert. Hastigen Schrittes schreitet er auf der Suche nach seinen „Klienten“ den Boardwalk Richtung Nordost ab, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt in den Wind. An manchen Stellen klettert er hinunter zum Strand, schaut unter die Planken. Nichts. Doch man muss auf alles vorbereitet sein.

Einmal, als Alex unter den Boardwalk kroch, fand er einen Mann, der eine tiefe Schnittverletzung am Oberschenkel hatte. Mit einem Finger grub er in der Wunde. Der Sand war voll Blut. „Was suchen Sie?“, fragte Alex. „Da ist eine Ratte in meinem Bein“, sagte der Mann. Alex überredete ihn, das einem Arzt zu überlassen. Dann saßen sie im Sand und warteten auf den Sanitäter. Der Mann, gestern noch Inhaber eines Bauunternehmens, hatte in der Nacht sein Geld und seinen Verstand beim Spielen verloren.

Meist allerdings, sagt Alex, ist es nicht so einfach, zu sagen, warum jemand aus seinem Leben ausschert. Traumata. Verletzungen. Pech. Oder alles zusammen. Bei Alex selbst war es vielleicht der ältere Bruder, der ihn misshandelte. Vielleicht auch der Vater, der mit der ganzen Familie ständig umzog. Ein paar Jahre lang war auch Alex „auf der Straße“. Dann kam er nach Atlantic City. Die Stadt für Flüchtige.

Mittags isst Stacy schnell ein Sandwich, dann sichert sie mit einem Kollegen eine Absperrung vor der Boardwalk Hall. Es ist 13.50 Uhr, als sich die Türen des Vergnügungspalastes öffnen und 53 Mädchen in T-Shirts und Turnhosen herausströmen. 53 Paar trainierte Schenkel, 53 glatte Gesichter. „Okay, Girls, hier ist die Kamera“, dirigiert ein Mann mit Headset und Clipboard die Miss-America-Anwärterinnen, „nehmt eure Positionen ein. Und jetzt seid fröhlich!“ Technomusik setzt ein und die jungen Frauen springen auf und ab. Eine Lichtmaschine zaubert bunte Reflexe auf 53 wippende Pferdeschwänze. Stacy muss eine Familie in Schach halten, die zu nah an die Absperrung drängt, dann verschluckt das Gebäude die Misses wieder.

Versuchen Sie unser köstliches Brathähnchen, lockt eine Lautsprecherstimme Alex im Vorbeigehenden. Genießen Sie den frischesten Fisch, unsere sahnigen Shakes, unsere knusprigen Pommes frites, den größten Burger. Sie sind Sklaven ihres Begehrens, sagt Alex über seine „Klienten“. Begehren zu schaffen ist die Spezialität von Atlantic City.

„Erlösung“, sagt Reverend Reaves. „Das ist es, was sie am meisten brauchen.“

Stadi Reaves, ein kräftiger, großer Schwarzer, steht auf einer Wiese auf der Rückseite der Stadt, im Brown Park. Während die Meerseite von Atlantic City glitzert und blinkt, stinkt die Landseite nach Bier und Urin. Die großen Casinos wenden ihr indigniert ihre fensterlosen Rücken zu, die Atlantic Avenue schneidet die Stadt in zwei Teile. Unter zerzausten Kiefern suchen etwa 50 Menschen etwas Schatten. Die meisten haben Flaschen in der Hand. Bei den Büschen entlang des Metallzauns kann man in Schlafsäcken und Plastikplanen eingehüllte Körper erahnen. Reverend Reaves von der Second Baptist Church, unter dem Arm eine Bibel, betet mit den Obdachlosen.

Ein magerer Schwarzer in einem viel zu großen Sweatshirt kommt herüber, ein wenig unsicher schwankt er vor dem Laienpfarrer, dann sagt er, danke, danke für alles. 58 sei er jetzt, erzählt der Mann Reaves, seit Jahrzehnten habe er nicht mehr gearbeitet. Mal lebe er auf der Straße, mal im Obdachlosenheim, überall nur Ärger, mit der Polizei und mit den Bettwanzen. Dann stand vor ein paar Wochen plötzlich ein alter Freund neben seinem Bett und sagte: komm. Seither schläft er auf einer Couch in einem Apartment. Jeden Morgen kommt er hierher, zum „Frühstücksklub“, trinkt mit den anderen ein paar Bier unter den Kiefern, betet mit dem Reverend. „Ich bin gesegnet, Reverend, gesegnet“, sagt der Dürre. „Möge Gott Sie auch segnen.“

Reaves muss los. In einer Stunde beginnt seine Schicht. In seinem anderen Leben arbeitet Stadi Reaves am Service-Desk des „Revel“, dem neuen Luxuscasino, das erst im Mai 2012 eröffnet wurde. Er streckt dem Mann seine Hand entgegen, doch der wehrt mit einem verschämten Lächeln ab. Ihm sind nur noch wenige Zähne geblieben.

Welche Rolle der Gouverneur von New Jersey spielt

Das Lächeln von Mackenzie Bart ist lückenlos und strahlend. Sie schmeißt es an wie einen Flutlichtstrahler, stöckelt auf eine andere junge Frau zu, Küsschen links, Küsschen rechts: „Sieh’ sich einer dieses Kleid an! Du siehst umwerfend aus!“ Vor der Boardwalk Hall treffen sich jetzt, gegen 14 Uhr, Freunde und Familienmitglieder von Miss Ohio, die meisten tragen Miss-Ohio-T-Shirts, Mackenzie Bart aber trägt ein kurzes Kleid aus blauem Leder. Sie ist „Miss Montgomery County“, das heißt, sie hat eine regionale Vorauswahl für den Wettbewerb gewonnen. Nächstes Jahr will sie Miss Ohio werden – und Miss America. Deshalb ist sie hier. „Wenn ich eine Chance haben will“, sagt sie, „muss ich mich vorbereiten.“ Mackenzie studiert Meteorologie, sie will Wetteransagerin werden. Sie stellt sich auf für ein Gruppenfoto, die Arme in die Hüften gestützt, den Oberkörper ins Profil gedreht, das Lächeln wieder angeknipst.

Am Nachmittag wird Stacy zu einem anderen Abschnitt des Boardwalks beordert. Inzwischen schieben sich Menschenmassen über die Strandpromenade, Stacy muss Slalom laufen. Sie umrundet ein T-Shirt, auf dem steht „Checkst du’s, Alter?“ und weicht knapp „Ich liebe Titten“ aus. Neben „Bally’s Casino“ hat sich ein Mennonitenchor aufgebaut. „Ist es das, was Gott will?“, ruft der Prediger den Vorbeigehenden zu. „Befreit euch von dieser Welt und ihrer Traurigkeit!“ Eine Frau beißt in einen Krapfen, ihr Atem entfesselt eine Puderzuckerwolke, sie hustet und lacht. Seid bereit, seid bereit, singt der Mennonitenchor. Stacy geht zügig, aber redet dabei, ohne außer Atem zu kommen. „Ich bin froh“, sagt sie, „dass Miss America wieder da ist.“ Das verlängert die Touristensaison in den Herbst hinein. Das schafft Arbeitsplätze.

Sie postiert sich vor einem Nippesgeschäft. Über dem Eingang läuft ein Fernsehgerät. „ABC“ zeigt Chris Christie, den Gouverneur von New Jersey, wie er eine weinende Frau an seine massige Brust drückt. In einem Nachbarort von Atlantic City hat die Strandpromenade gebrannt, Christie ist zur Stelle, um zu trösten.

Auch für Atlantic City hat der Republikaner, der als möglicher Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2016 gehandelt wird, viel getan. Anfang des Jahres unterschrieb er ein Gesetz, das das Online-Spielen im gesamten Staat erlaubt. Die Server sollen in Atlantic City betrieben werden. Als den Investoren des neuen Luxuscasinos „Revel“ das Geld auszugehen drohte, spendierte der Gouverneur Steuervergünstigungen von 261 Millionen Dollar. Christie soll auch bei der Rückeroberung von Miss America eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Stacy ist deshalb sehr optimistisch, auch wenn die Umsätze der Stadt weiter fallen und Experten meinen, ohne einen größeren Flughafen werde das nichts mit dem Standort. „Wann geht denn nun endlich die Parade los?“, fragt eine Frau. „Um acht“, sagt Stacy.

Auf dem Boardwalk vor dem Revel setzen sich die ersten Wagen der Miss-America-Parade in Bewegung. Die Mädchen sitzen auf den Rücklehnen von Cabriolets und zeigen ihre Schuhe, ihre Kleider glitzern. Die Marchingbands spielen Blasmusik, dazwischen Polizisten, Veteranen, Pfadfinder, „Proud to be American.“ Als die Parade endlich die Zuschauersektion T 35 erreicht, in der Mackenzie Bart und die anderen auf Miss Ohio warten, ist es kühl geworden, viele tragen jetzt Fleecejacken. Auch Miss Ohio dürfte frieren, aber sie sieht großartig aus mit dem roten Federbusch auf dem Kopf. In T 35 bricht Jubel aus, Mackenzie winkt, Miss Ohio winkt zurück, ihr Arm wirkt schon müde, er schlingert in der Abendluft.

Als es zu dämmern beginnt, macht Alex sich auf zur Rückseite der Stadt. An der Pacific Avenue passiert er eine Reihe schäbiger kleiner Häuser, den Block der Pfandleiher. Er denkt an den Schuss zurück, an den Arm, der winkt. Alex war damals wie jetzt jenseits der Atlantic Avenue unterwegs, als plötzlich ein Mann zwischen zwei Autos hervorsprang, nur zwei, drei Meter von ihm entfernt, in der Hand eine Waffe. Der Schütze zielte auf zwei Jugendliche, der Rückschlag katapultierte seinen Arm in die Luft wie ein Winken. Alex sagt, er spürte, wie die Kugel an seinem Kopf vorbeizischte. Instinktiv krallte er eines der Kids beim Shirt und riss es mit sich zu Boden. Während sie fielen, kreuzte sein Blick kurz den des Schützen. Dann drehte sich der Typ um, sprang über einen Zaun und verschwand für immer.

Kurz vor Dienstschluss entdeckt Stacy einen jungen Mann in der Menge. Er ist Mitte 20, das Gehen fällt ihm schwer. Stacy geht auf ihn zu, fragt, Sir, wohin wollen Sie. Der Junge hat Schwierigkeit, sie zu fokussieren. Er riecht nach Alkohol. Nach Hause, sagt er. Wo ist zu Hause, fragt Stacy. Weiß nicht, lallt der Junge. Ein Hotel? Ja. Welches? Vergessen, sagt er und weint. Mit wem bist du hier? Mit Freunden. Kannst du die anrufen? Handy verloren, schluchzt der Junge. Stacy zückt ihr Smartphone und drückt es ihm in die Hand. Sie hilft ihm, auf Facebook eine Nachricht an seine Freunde zu schreiben. Nach ein paar Minuten klingelt Stacys Handy. Die Freunde sind schon wieder in ihrem Motel, an der Black-Horse-Turnpike. Nach Hause, murmelt der Junge.

Alex schließt seinen Wagen auf. Als er die Hand ans Lenkrad legt, rutscht sein Sweatshirt ein wenig nach oben, sein Handrücken ist tätowiert. Dort steht: Black ink looks blue when it’s only skin deep – schwarze Tinte sieht aus wie blau, wenn sie nur bis unter die Haut reicht.

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