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Weiße Ware. Hier schuften die Männer im Sommer, um das "Fior di Sale" zu ernten.

© Ronja Ringelstein

Cervia in der Emilia-Romagna: Der alte Mann und das Meersalz

Die Arbeit ist hart. Unbarmherzig brennen Sonne und Rücken. Trotzdem schuftet Africo Ridolfi freiwillig in den Salinen von Cervia – um ein antikes Handwerk zu bewahren.

Von Ronja Ringelstein

Sogar die Luft schmeckt hier salzig. Und flimmert vor Hitze. Plattes Grasland bis zum Horizont, ein 827 Hektar großes Naturschutzgebiet erstreckt sich rund um die Salinen von Cervia. Obwohl nur knapp zwei Kilometer von der Adria entfernt, geht kein Lüftchen.

„Hier, sehen Sie …“, Africo Ridolfi hält ein Röhrchen auf Augenhöhe, mit dem er eben Wasser abgeschöpft hat. Der ältere Herr steht auf dem Sandweg inmitten der in den Boden eingegrabenen Becken, in denen das Meerwasser unter der Sonne verdampft. Die feine Kruste an der Oberfläche musste er zerknacken, als wenn der Winter mit dem ersten Frost dünnes Eis über einen See gelegt hätte. Die Skala auf dem Röhrchen zeigt die Dichte des Salzgehalts an, gemessen in Baumé-Graden. Ridolfi, Haare weiß wie Salz, Sonnenbrille und Schirmmütze, schaut zufrieden. 25 Grad sind gut. So hat das Salz genau den richtigen, milden Geschmack. Die Männer können ernten.

Ridolfi und seine neun Kollegen sind Rentner, doch sie arbeiten hart, um das Salz zu gewinnen wie schon die Etrusker vor mehr als 2000 Jahren – mit der Hand. Sie gehören der „Civiltà Salinara“ an, die sich um die letzte antike Saline in Italien kümmert.

Salz war einmal das "Weiße Gold" - heute ist es kaum etwas wert

Vor vielen Jahrhunderten war Salz einmal das „weiße Gold“, das Geschäft machte die Arbeiter, die Salinari, reich und zu angesehenen Leuten. Cervia war stark umkämpft, denn Salz war in einer Zeit, bevor es Kühlschränke gab, die einzige Möglichkeit, Verderbliches haltbar zu machen. Man bezahlte sogar mit Salz – den „Sold“ oder „Salär“.

Heute ist das anders. Salz kostet im Supermarkt nur ein paar Cent. In der westlichen Welt war es seit den 1960ern in der Krise, immer wieder hieß es, Salz sei schädlich. Die Weltgesundheitsorganisation mahnt einen zurückhaltenden Konsum an. Und in Cervia? Da hat der Tourismus die Salzgewinnung als Wirtschaftsfaktor abgelöst.

Africo Ridolfi und die anderen, die in den Sommermonaten täglich in der Saline schuften, wollen ihre Tradition bewahren. Allerdings haben sie ein Problem: Es gibt keinen Nachwuchs. Sie sind die letzten, die das Handwerk verstehen.

Cervia entstand einst inmitten der Salinen. Wann genau, ist nicht klar, bereits vor den Zeiten des Römischen Reichs muss es an dieser Stelle Siedler gegeben haben. Wahrscheinlich wurde das Salz zufällig entdeckt. Denn das Gebiet der Salinen ist so beschaffen, dass es das Meerwasser aufnimmt, der Lehmboden es aber nicht absickern lässt und die Flüssigkeit vollständig verdunstet. In Schriften aus dem 10. Jahrhundert wird ein Cervia erwähnt, gut möglich, dass dieser Name vom „acervi“, dem Salzhaufen, stammt.

Der Papst ließ die Stadt im 17. Jahrhundert Stein für Stein ans Meer verlegen

Nach einer Malaria-Epidemie ließ Papst Innozenz XII. die Stadt Ende des 17. Jahrhunderts Stein für Stein näher ans Meer verlegen. Die Salinen blieben, wo sie waren. Seit 1979 ist das fruchtbare Land ein Tierschutzgebiet, fast 100 Vogelarten leben hier, darunter Flamingos, die man mit Glück bei einer Tour entdecken kann.

Heute liegen die Salinen etwas außerhalb der Stadt mit knapp 30.000 Einwohnern. Spaziert man in der Altstadt am Kanal entlang, wo die Segelboote ankern, kommt man zum Turm San Michele. Der Klotz, 1691 erbaut, ist mit seinen drei Meter dicken Mauern, den Schießscharten und der Höhe von 22,5 Metern eine Festung. Er diente zur Lagerung und Verteidigung der Salzvorräte. Nun finden sich hier das Fremdenverkehrsamt und nebenan das Salzmuseum.

Im Turm San Michele in Cervia wurde das Salz früher gelagert und verteidigt. Heute ist dort das Fremendverkehrsamt.
Im Turm San Michele in Cervia wurde das Salz früher gelagert und verteidigt. Heute ist dort das Fremendverkehrsamt.

© Ronja Ringelstein

Hinter dem schweren gusseisernen Museumsportal, in der schummrig beleuchteten Halle sitzt Oscar Turroni hinter einer holzvertäfelten Theke. Vor ihm auf dem Verkaufstresen steht eine große Waage mit einer gläsernen Schale, die an einer Kette hängt. Turroni, weiße Locken und Knollennase, reicht ein paar Krümel zum Probieren. Es schmeckt – salzig. Zumindest für ungeübte Gaumen. Der Präsident des Salinen-Clubs schaut erwartungsvoll. „Sale dolce!“, ruft er aus. Cervias Salz wird das „süße Salz“ genannt. Weil es zu mindestens 95 Prozent aus Natriumchlorid besteht, gilt es als besonders rein. 2004 wurde es von der internationalen Non-Profit-Organisation „Slow Food“ als besonders wertvolles Produkt anerkannt. Dabei geht es um die Auszeichnung von Lebensmitteln, die in Harmonie mit Umwelt, Ökosystemen und Traditionen produziert werden. Turroni macht das stolz.

Der lokale Sternekoch Andrea Ribaldone gibt ihm recht, was die Qualität angeht. „Meersalz schmeckt viel besser als Salz aus Minen“, sagt er. Es habe weniger Mineralien, die das Salz bitter machen. „In Italien benutzt man Salz aus Minen, um es im Winter auf die Straßen zu streuen, für sonst nichts.“

Und wenn das Handwerk ausstirbt? Das kann Africo Ridolfi gar nicht glauben

Weiße Ware. Hier schuften die Männer im Sommer, um das "Fior di Sale" zu ernten.
Weiße Ware. Hier schuften die Männer im Sommer, um das "Fior di Sale" zu ernten.

© Ronja Ringelstein

In den Supermärkten und kleinen Büdchen am Straßenrand finden sich neben Taucherbrillen und Sonnencremes immer wieder: Salzshampoo, Salzhonig, Salzhautcreme, Salzbier, Salzseife, Salzschokolade.

Und trotzdem: „Die jungen Leute wollen lieber andere Sachen machen“, sagt Turroni. „Unsere Arbeit ist hart und wird nicht gut bezahlt. Den ganzen Tag steht man unter der Sonne, in gekrümmter Haltung.“ Sein Sohn sei Programmierer.

Das Museum ist dementsprechend leer. An so einem schönen Sonnentag sind die Leute lieber am Meer. Fußballlegende Luca Toni betreibt in Milano Marittima, einem Stadtteil von Cervia, ein Strandbad. Hier läuft man unter Schatten spendenden Pinien, die ihre Nadeln zu jeder Jahreszeit auf den Boden werfen. Diese natürliche Überdachung verleiht dem ganzen Ort Gemütlichkeit. Hotels reihen sich aneinander. Alle paar hundert Meter gibt es einen Laden, so klein, dass es nur das Nötigste gibt, dafür in bester Qualität: süßes Obst, saftiger Schinken, Weißbrot und Wein. Milano Marittima – Mailand am Meer – ist teurer als die angrenzenden Ortsteile.

In Milano Marittima traf sich Italiens Schickeria

Das hat historische Gründe. Der Badeort war lange Zeit ein Treff der italienischen Schickeria. Die Bourgeoisie von Mailand baute sich hier ein glamouröses Feriendomizil, das vor allem in den 20er und 30er Jahren eine Hochphase erlebte. Die Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda oder der „Don Camillo und Peppone“-Schöpfer Giovanni Guareschi verbrachten hier ihre Sommer. Schicke Hotels gibt es noch, wobei schick manchmal heißt, dass die Front saniert wurde und hinten der Putz abfällt.

Milano Marittima - Mailand am Meer. Hier läuft man unterm Schatten der Pinien zur Adriaküste.
Milano Marittima - Mailand am Meer. Hier läuft man unterm Schatten der Pinien zur Adriaküste.

© Ronja Ringelstein

Vom Stadtzentrum aus sind es mit dem Fahrrad nur ein paar Minuten bis zu den Salinen. Am Kanal entlang, weg vom Meer, an ein paar Kreisverkehren vorbei, kommen Besucher zunächst zum Eingang des Naturreservats. Schwarzkopfmöwen kreisen am Himmel, während man die engen Trampelpfade durch Gestrüpp zur „Camillone“-Saline stapft, bis ein dunkelbraunes Holzhäuschen auftaucht. Hier treffen sich die Salinari.

Wenn Africo Ridolfi die weißen Körner in der Hand hält, während er draußen zwischen den Becken steht, lässt er sie ein paar Mal auf und ab federn, so als wollte er das Gewicht schätzen. „Schon als kleiner Junge war ich immer hier“, sagt Ridolfi. Bereits sein Vater sei Salinaro gewesen.

Über einen Kanal wird das Meerwasser in die Pools befördert, wo es unter der Sonne verdunstet. Es wird dann von einem Becken ins nächste geleitet. Der ursprüngliche Salzgehalt von 3,5 Grad Baumé wird dabei immer höher, darf aber nicht auf mehr als 28 ansteigen – sonst wird das Salz bitter, durch die Ablagerung anderer Bestandteile wie Kalium- und Magnesiumchlorid. Wenn das Wasser fast verschwunden ist, harken die Salinenarbeiter die Kristalle zusammen, laden sie auf einen Karren und häufen sie auf. Die Gerätschaften aus Holz, die sie dabei benutzen, haben alte romagniolische Namen wie Ghévar, Cariòl und Forabus. Damit heben sie das „Fior di Sale“, die reine Kruste, die sich auf dem Wasser bildet.

Die alten Männer mussten um ihre Saline kämpfen

Zwischen 50 und 200 Tonnen produzieren Turroni, Ridolfi und ihre Kollegen in den Sommermonaten – je nach Wetterlage. 2014 war ein verregnetes Jahr, nahezu ohne Ernte. Dass es die aber überhaupt noch gibt, habe der immerhin etwa 470 Mitglieder starke Verein rund um die Salzarbeiter und das Salzmuseum bewirkt: Nachdem der Salinen-Komplex 1959, um die Produktion zu steigern, von Handarbeit auf ein maschinelles Verfahren umgestiegen war, schloss der Staat die Salinen 1994 beinahe ganz, da sie sich nicht rentierten. „Die gesamte Stadt“ aber habe rebelliert, so erzählen sie es. Mit Erfolg. Der Staat ließ eine beschränkte Salzproduktion zu und erhielt die Camillone-Saline aus kulturellen Gründen.

Ob das Handwerk ausstirbt, wenn sie selbst zu alt sind und kein Nachwuchs kommt? Das kann Ridolfi sich kaum vorstellen, dafür hat der 82-Jährige zu lang für den Erhalt der antiken Saline gekämpft.

Reisetipps

ANREISE

Am besten fliegt man nach Bologna, von dort braucht der Zug zwei Stunden. Die Fahrt mit Trenitalia kostet hin und zurück um die 20 Euro. Von Berlin fliegt Lufthansa mit Zwischenhalt für rund 250 Euro, Ryanair nonstop für 180 Euro inklusive Gepäck.

UNTERKOMMEN

Das Hotel „Mare Pineta Resort“ in Milano Marittima liegt in den Pinienhainen, wenige Schritte vom Meer. Hier arbeitet Sternekoch Andrea Ribaldone. In der Hauptsaison kosten die Zimmer für zwei Personen pro Nacht inklusive üppigem Frühstück ab 390 Euro.

SALINENTOUR
Es gibt kostenlose Führungen zwischen dem 15. Juni und 15. September (donnerstags und sonntags) zur antiken Camillone-Saline. Treffpunkt ist um 16.30 Uhr am Besucherzentrum (Centro Visite Saline) in der

Via Bova 61. Während des Rundgangs kann man den Salzarbeitern bei der Arbeit zusehen und das Salz probieren. Bis Ende August können Besucher dienstags auch selbst zu Salinari werden und mitanpacken – an bequeme Kleidung denken!

SNACKEN WIE EINHEIMISCHE
In Cervia nach rot-weiß-gestreiften Hütten Ausschau halten, da gibt’s „Piadina“: auf einer Crêpes-Platte ohne Fett gebackene Brotfladen mit geschmolzenem Mozzarella und Füllungen wie Schinken, Tomate oder Mortadella.

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