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Hassan Ali Djan bei einem Heimatbesuch in Afghanistan 2014. Er lebt in München.

© privat

Das Drama der Flucht: Bloß nicht Deutschland

Nach Monaten voller Strapazen erreicht der Flüchtling europäischen Boden. Dann versteckt er sich in einem Autoreifen. Wohin führt seine letzte Etappe?

Fühlt sich so der Tod an? In meinem Inneren spüre ich einen Eisklotz. Meine Muskeln gehorchen nicht, Hände und Füße sind taub. Wenn ich nicht tot bin, denke ich, dann kehre ich jetzt heim. In die Berge von Zentralafghanistan, in mein Heimatdorf Almitu. Zu meiner Mutter, meinen jüngeren Geschwistern, den drei Schwestern und den drei Brüdern. Mehr als vier Jahre zuvor bin ich dort aufgebrochen, im Frühjahr 2001. Ich habe es weit geschafft. Aber alles ist anders, als ich es mir vorgestellt habe.

Ich liege im Ersatzreifen eines Lastwagen unter der Ladefläche, eingerollt wie ein Embryo, zwei Tage schon. Mehr als 48 Stunden habe ich mich nicht bewegt, habe nichts getrunken, nichts gegessen. Immer wieder schleuderte ein Kieselstein gegen meine Beine, meine Arme, meine Brust, beim ersten Mal dachte ich, mich hätte eine Kugel getroffen. Immer wieder nahmen mir die Abgase den Atem, sekundenlang fürchtete ich, ich würde ersticken. Auch jetzt steigt ätzender Geruch von verbranntem Diesel in meine Nase, legt sich auf die Zunge, brennt in meiner Kehle. Nie habe ich mich so schlecht gefühlt wie in diesem Moment. Wenn sich Europa so anfühlt, denke ich, will ich hier nicht sein.

Der Lastwagen, in dessen Ersatzrad ich liege, ist gerade am Zielort angekommen. Über mir wird der Laderaum ausgeräumt. Es ist ein Tag Mitte Oktober im Jahr 2005. Ich habe keine Ahnung, in welchem Land ich mich befinde. Erst am folgenden Tag werde ich erfahren, dass ich in Deutschland bin, in einem Industriegebiet im Nordwesten von München.

Meine letzte Station war der Hafen von Patras. Drei Wochen lang habe ich dort versucht, mich auf einen der Lastwagen zu schmuggeln, die nach Norden fahren. Zuvor hatte ich in Athen erfahren, dass es nur in Nordeuropa Arbeit für Einwanderer gibt. In Athen sagte man mir, dass ich dafür in Patras in das Ersatzrad eines Lkws klettern müsste. Dass die Lastwagen von dieser griechischen Hafenstadt auf Schiffen nach Italien übersetzten und dann weiterfuhren nach England, Frankreich, Deutschland, Skandinavien. Drei Wochen bevor ich Patras erreichte, war ich in Teheran aufgebrochen, mit dem Ziel, nach Europa zu gelangen.

Patras war schlimmer als alle Stationen zuvor. Dort lebten tausende Flüchtlinge wie ich im Wald, aßen, was sie in Mülltonnen fanden, kämpften, auch gegeneinander, um in den Norden zu kommen. Während der drei Wochen dort habe ich Afghanen getroffen, die lange Zeit in Deutschland verbracht hatten. Das Land sei nicht gut zu Einwanderern, erzählten sie. Zwar hatten sie, während sie auf das Ende ihres Asylverfahrens warteten, ein Bett und genug zu essen, sie waren nicht eingesperrt. Trotzdem fühlten sie sich wie in einem Gefängnis, entmündigt.

Alles wurde ihnen abgenommen, das Einkaufen, das Waschen, das Putzen. Das Schlimmste: Während sie darauf warteten, zu erfahren, ob sie bleiben konnten oder nicht, durften sie nicht arbeiten, keine Schule besuchen, kein Deutsch lernen. Sie hatten die ganze Zeit überhaupt nichts zu tun. Und dann waren sie nach Monaten des Wartens nach Griechenland abgeschoben worden, weil es das erste europäische Land war, das sie erreicht hatten. Jetzt wollten sie nach England oder nach Skandinavien. Sie fürchteten, wieder nach Deutschland zu gelangen.

Als ich im Ersatzreifen lag und auf den Asphalt blickte, der unter mir vorbeiraste, immer neue Muster formte wie das Bild in einem Kaleidoskop, betete ich, der Lkw möge nicht nach Deutschland fahren.

Der Lastwagen steht schon eine Weile, als ich höre, wie jemand von der Ladefläche springt. Wie sich Schritte entfernen. Ich bin allein, denke ich und versuche, aus dem Reifen zu klettern. Es geht nicht, meine Muskeln sind wie gelähmt. Die kleine Wasserflasche, die ich an einem Brunnen in Patras aufgefüllt hatte, bevor ich mich auf den Weg zum Hafen machte, fällt auf den Boden. Sie ist voll. Ich habe nichts getrunken, ich wusste nicht, wann ich wieder auf die Toilette gehen könnte. Panik kriecht in mir hoch. Ich bin in diesem verdammten Reifen gefangen! Auf meine Brust drückt plötzlich ein Gewicht, ich schnappe nach Luft.

Nach endlosen Minuten schaffe ich es, meinen Kopf aus dem Reifen zu winden, dann die Arme, dann die Beine. Ich falle auf Beton. Der Aufprall tut weh. Tot bin ich also nicht. Auf einer Seite des Lastwagens stehen ein paar Männer, ich kann ihre Schuhe sehen, schlammige Stiefel. Langsam rolle ich in die andere Richtung, zu einer Mauer. Niemand soll mich so sehen, so hilflos.

Ich versuche aufzustehen, stütze mich auf meine Arme, will die Beine durchdrücken. Die Arme knicken weg, bevor ich die Beine bewegen kann. Sie fühlen sich an, als gehörten sie nicht zu mir. Ich bleibe auf dem Bauch liegen, minutenlang. Versuche es dann noch mal. Die Arme halten stand. Jetzt die Beine. Sie geben nach, sind weich wie Gummi. Ich setze mich auf die Knie, schaue an mir herab. Mein ganzer Körper zittert.

Als ich mich ein drittes Mal aufrichten will und wieder in die Knie gehe, spüre ich an meinem Bein einen warmen Luftstrahl. Ein Lüftungsschacht! Ich krabble auf das Gitter, aus dem die Luft strömt, rolle mich wieder ein, automatisch, mein Körper will zurück in diese Haltung.

Nach ein paar Sekunden beginnen meine Arme unerträglich zu kribbeln, dann meine Beine. Das Gefühl kenne ich aus den Wintern in Afghanistan, wenn ich nach dem Schneeschippen meine Hände ans Feuer hielt. Reflexhaft will ich mich vom Gitter rollen, weg von dem Schmerz. Doch ich sage mir, halt aus und bleibe liegen, ganz still, als könnte ich so das Kribbeln abschalten. Als das Schlimmste vorüber ist, strecke ich langsam die Beine, die Arme, bewege Zehen und Finger. Ich blicke auf meine Finger, sie sind blau.

In welchem Land bin ich - England, Frankreich?

Endlich schaffe ich es aufzustehen. Nicht weit entfernt sehe ich ein Häuschen. Vielleicht kann man mir dort helfen? Meine Beine sind noch wackelig, als ich loslaufe. Hinter einer Scheibe sehe ich einen Mann, er blickt mich erstaunt an, tritt heraus. Er sagt etwas, aber ich verstehe nichts. Es kommen andere Männer, sie sprechen zu mir. Ich spüre: Sie erwarten eine Antwort. Ich schüttele den Kopf, ich beginne zu reden, auf Dari, Neupersisch, meiner Muttersprache. „Rufen Sie bitte die Polizei“, sage ich. „Ich will zurück nach Hause, nach Afghanistan.“ Noch während ich spreche, merke ich, dass die Männer jetzt sehen, dass auch sie mich nicht verstehen. Sie blicken erst irritiert, dann lächeln sie hilflos.

Ein Mann zieht mich in das Häuschen, wo es warm ist. Er fragt, ob ich Tee will, er sagt tatsächlich „Chai“, so heißt Tee auf Dari, ich nicke, er gießt Tee in einen Becher, drückt ihn mir in die Hand. Dann nimmt er den Telefonhörer, und ich verstehe, dass er jetzt die Polizei ruft. Ich bekomme Angst. Im Iran, wo ich vier Jahre gelebt habe, haben wir uns immer versteckt, wenn wir Männer in Uniformen gesehen haben, es passierte oft, dass sie uns festhielten und schikanierten.

Während wir warten, frage ich den Mann, wo ich bin. Auf Persisch nenne ich ein paar Länder, die ich kenne. England? Frankreich? „Alman?“ So heißt auf Dari Deutschland. Er versteht mich nicht. Ich zeige mit dem Finger auf den Boden, ziehe die Schultern hoch und blicke ihn fragend an. Er sagt „Deutschland“. Das Wort kenne ich nicht. Ich muss in einem Land gelandet sein, von dem ich noch nie gehört habe. Was für ein Glück! Hierher muss es bisher kaum jemand geschafft haben. Von hier kann niemand, den ich auf meiner Reise kennengelernt habe, weggeschickt worden sein. Angesichts dieser Erkenntnis schwindet mein Wunsch, nach Almitu zurückzukehren.

Nur wenige Minuten später stehen zwei junge Polizisten vor dem Häuschen. Sie unterhalten sich mit den Männern. Ich sehe, wie die Männer gestikulieren, wie sie auf den Lkw deuten, aus dessen Reifen ich geklettert bin. Keiner schaut mich an. Erst als einer der Polizisten mich ansieht, dringt in mein Bewusstsein, dass die Beamten wegen mir da sind. Der Mann sagt etwas. Ich blicke ihn stumm an. Er greift sanft nach meinem Unterarm, macht eine Kopfbewegung. Ich verstehe, dass ich mitkommen soll.

Die Beamten fordern mich auf, ins Auto zu steigen. Wir halten nach zehn Minuten an. Einer der beiden reicht mir zwei Zettel. Ein Dolmetscher erklärt, dass auf einem die Adresse meines neuen Zuhauses steht, und dass ich den anderen Zettel am Eingang des Zuhauses abgeben soll. Er sagt, dass ich aussteigen soll. Ich blicke fragend zu den Polizisten, zum Dolmetscher, auf den Zettel. Ich habe keine Ahnung, wohin ich muss, wie ich dorthin komme. Ich sage dem Dolmetscher, dass ich nicht lesen kann. Weder persische noch lateinische Schrift. Einer der Beamten steigt aus. Ich verstehe, dass ich mit ihm gehen soll. Er begleitet mich in den Bahnhof, kauft für mich eine Fahrkarte, zeigt mir auf einem Plan, wo ich aussteigen soll und bringt mich zum Zug.

Als ich zwei Haltestellen später aussteige, halte ich einen Mann am Arm fest, mit fragendem Blick zeige ich ihm den Zettel. Er schüttelt meine Hand ab, deutet genervt auf Schilder. Erst Wochen später verstehe ich, dass im U-Bahnhof der Weg zu der Adresse ausgeschildert ist: zur Erstaufnahmeeinrichtung Obersendling, meiner ersten Unterkunft in Deutschland. Der zweite Mann, den ich frage, ignoriert mich, der dritte auch. Der vierte schließlich macht mit der Hand eine kräftige Bewegung: „Folge mir.“

Nach wenigen Minuten hält er vor einem dreistöckigen, senfgelben Gebäude, er deutet mit dem Zeigefinger auf das Gebäude, lächelt und geht. Als er nicht mehr zu sehen ist, vergleiche ich die Buchstaben auf dem Zettel mit denen auf dem Straßenschild an der Ecke. Sie stimmen überein. Ich bin angekommen.

Dieser Text ist ein gekürzter Vorabdruck aus „Afghanistan. München. Ich.“ (Herder Verlag 2015), 224 Seiten, 19,90 Euro.

Protokoll: Veronica Frenzel

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