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Debra Milke beim Interview in Berlin.

© Thilo Rückeis

Debra Milke: 23 Jahre unschuldig in der Todeszelle: „Steck mir halt eine Nadel in die Vene“

Debra Milke saß 23 Jahre lang in einer Todeszelle - unschuldig. Warum sie nicht an Rache denkt und die Band Metallica ein Antidepressivum ist.

Debra Milke, 52, saß 23 Jahre lang unschuldig in einer Todeszelle in Arizona. Sie war wegen Anstiftung zum Mord an ihrem vierjährigen Sohn verurteilt worden. Seit knapp einem Jahr ist sie wieder in Freiheit. Ihre Erinnerungen sind jetzt im Droemer-Verlag erschienen: „Debra Milke – Ein geraubtes Leben“

Frau Milke, zwei Leute, die Ihnen mit Aufnahmegeräten gegenübersitzen – weckt das schlimme Erinnerungen?

Ach, nein. Das wird ja kein Verhör. Fragen Sie mich einfach alles, was Sie wollen. Mein neuer Therapeut hatte schon vorausgesagt, dass es mir guttun würde, über meine Geschichte zu sprechen, und das stimmt auch. Ich muss aber gleich klarstellen, dass ich weder über meine laufende Klage gegen das Phoenix Police Department noch über Armando Saldate spreche.

Saldate ist der Ermittler, der verantwortlich dafür ist, dass Sie 23 Jahre unschuldig in einer Todeszelle in Arizona saßen. Er sagte damals aus, Sie hätten ihm gestanden, zwei Männer zum Mord angestiftet zu haben.

Der Prozess um Schadensersatz hat gerade erst begonnen, das Ergebnis kann noch zwei Jahre auf sich warten lassen.

Sie wurden 1990 verurteilt, weil Ihr Mitbewohner James Styers und dessen Freund Roger Scott Ihren vierjährigen Sohn Christopher umgebracht hatten – angeblich in Ihrem Auftrag, um die Lebensversicherung zu kassieren, und weil das Kind Ihrem verhassten Ex-Mann glich. 2014 befand ein Berufungsgericht, es gebe keine Beweise dafür. Sie kamen frei. Haben Sie noch Angewohnheiten aus dem Gefängnis?

Weil ich dort immer sehr früh aufgestanden bin, wache ich gegen vier Uhr morgens auf. Diese Zeit war die ruhigste des Tages, da konnte ich schreiben. Später gab es Frühstück, dann wurde die Zelle gesäubert, danach habe ich geduscht und nach dem Mittagessen, wenn die meisten anderen schliefen, habe ich gelesen: Klassiker, Spirituelles und viele Selbsthilfe-Bücher. Diese Routine war es, die mich geistig gesund hielt.

Der Staat Arizona schuldet Fr. Milke ein Leben - und das ist praktisch unbezahlbar, auch wenn am Ende eine sehr hohe Entschädigungssumme fällig werden wird.

schreibt NutzerIn macthepirat

Stimmt es, dass Sie Kochrezepte gesammelt haben?

Ja, für später, es war ein ziemlicher Stapel. Ich war nämlich davon überzeugt, eines Tages wieder frei zu sein. Meine Zelle war auch nicht meine „Zelle“, sondern mein Zimmer. Sie ahnen es: Das Essen im Gefängnis war echt scheußlich. Pfannkuchen zäh wie Gummi, Milchpulver, verkochtes Gemüse, generell nichts Frisches. Also habe ich aus Magazinen Rezepte ausgerissen und mir gesagt: Das kochst du, wenn du draußen bist. Ein paar Pastagerichte habe ich tatsächlich schon ausprobiert. Ich habe auch Mathematik gelernt und mein Spanisch so weit aufgefrischt, dass ich Telenovelas im Original sehen konnte. Alles, was das Hirn beschäftigt.

Jetzt sind Sie disziplinierter als vor der Haft?

Das kann man so nicht sagen. Mir fällt es schwer, die richtige Balance zu finden. Ein Beispiel: In meinem Haus sitze ich meist auf dem Bett im Schlafzimmer, weil ich im Gefängnis auch nur auf der Pritsche sitzen konnte. Ich arbeite als Hilfskraft in der Kanzlei meines Anwalts und mag es sehr, dass ich jeden Tag dorthin gehen muss. Wenn ich auf Reisen bin, so wie jetzt hier in Deutschland, vermisse ich den strukturierten Tagesablauf. Dann fühle ich mich überfordert.

Das Interesse an Ihrem Fall ist groß in Deutschland. Vielleicht weil Sie in Berlin geboren wurden.

Meine Mutter stammt von hier, mein Vater war US-Soldat, der unmittelbar nach dem Bau der Mauer nach Deutschland kam. Ich verstehe noch ein bisschen Deutsch. Zwar bin ich in den Staaten groß geworden, aber wir kamen jeden Sommer hierher, um Oma und Opa zu besuchen.

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Haben Sie noch Verwandtschaft in Berlin?

Meinen Onkel und meine Tante. Sie leben in Zehlendorf. Dort konnte ich mir kein Apartment leisten, aber die beiden haben mir geholfen, eines in Steglitz zu finden, da wohne in nun für einen Monat. Ich fühle mich wohl hier, nicht wie in einem fremden Land. Viele Dinge erinnern mich an meine Kindheit: die kleinen Kioske mit den Süßigkeiten und dieses große Gebäude an der Schlossstraße, mit dem Restaurant oben, wie heißt das?

Bierpinsel.

Aha, oh! Das war doch mal rot gestrichen. Auch der Ku’damm hat sich verändert, ich bin da früher mit meinem Cousin hingegangen, um Spaß zu haben, jetzt wirkt alles sehr schick. Im Sommer möchte ich für zwei Monate wiederkommen und München, Hamburg und Prag besuchen, diese Städte sollen schön sein und nicht weit entfernt. Im Gefängnis habe ich mir viele Reise-Dokumentationen im Fernsehen angeschaut. Oder eben Telenovelas, abends reiste ich gern in Gedanken rüber nach Mexiko.

Was haben Sie durch das Fenster Ihrer Zelle gesehen?

Stacheldraht, Wachtürme und die Interstate 10, die nach Kalifornien führt. Ich habe den Trucks nachgeschaut und mir vorgestellt, was sie wohl so transportieren und wohin sie fahren …

Sie lachen. Doch Sie hatten nicht nur Ihren kleinen Sohn und Ihre Freiheit verloren – Sie mussten davon ausgehen, dass man Sie hinrichten würde.

In der Anfangszeit im Gefängnis war ich natürlich extrem wütend. Ich hatte viele Albträume von der Polizei und vom Gericht. Doch die Phase, in der ich wirklich am Boden zerstört war, begann erst 2006. Damals habe ich mein erstes Revisionsverfahren verloren, von dem ich fest erwartet hatte, es zu gewinnen. Vor dem Einschlafen dachte ich: Ist mir doch egal, ob ich aufwache oder nicht. Es brauchte sechs Monate, aus diesem Tief wieder rauszukommen.

"Können Sie sich vorstellen, über Jahre nicht berührt zu werden?"

Debra Milke beim Interview in Berlin.
Debra Milke beim Interview in Berlin.

© Thilo Rückeis

Sie wurden gezwungen, sich zu entscheiden: zwischen der Hinrichtung durch die Giftspritze oder durch Gas.

Ja, aber das war später, als ich mir sicher war, dass man mich nicht umbringen würde. Eine Wärterin – Formular auf den Knien, Stift in der Hand – ging Frage für Frage durch. Ich meinte nur, willst du mich veralbern, dann steck mir halt eine Nadel in den Arm! Schlimm wurde es erst, als der Arzt meine Venen untersuchte – „Herzlichen Glückwunsch, Sie waren wohl nie ein Junkie!“ Na toll. Gesunde Venen, Todesspritze kein Problem. Die Wärterin sah, wie schlecht es mir ging, und nahm mich in den Arm.

Das war erlaubt?

Können Sie sich vorstellen, wie es ist, über Jahre hinweg nicht berührt zu werden? Sie hat es einfach getan, weil sie eine sehr nette Lady ist. Nächsten Monat geht sie in Rente, dann werden wir zusammen essen gehen.

Haben Sie sonst noch Kontakt ins Gefängnis?

Zu meiner ehemaligen Zellennachbarin Wendy. Sie ist wegen Mordes zum Tode verurteilt. Momentan wehrt sie sich gerichtlich, gerade erst heute Morgen habe ich eine Mail an sie geschrieben, dass sie nicht aufgeben soll. Aber sie ist schuldig, sie wird nie rauskommen. Wir haben uns immer durch den Lüftungsschacht unterhalten. Dazu mussten wir uns flach auf den Boden legen. Sie war die einzige Person, mit der ich eine intelligente Unterhaltung führen konnte. Ich würde sie gerne besuchen, aber sie lassen mich nicht: Ich kenne dieses Gefängnis einfach zu gut, jeden Winkel.

In Ihrem Buch berichten Sie von dem Licht und den Geräuschen, mit denen Häftlinge ständig konfrontiert sind.

Es gab immer irgendjemanden, der schrie oder gegen die Metalltür klopfte. Und nachts wurde die Umgebung des Gefängnisses angestrahlt. Mehr als 20 Jahre habe ich nicht im Dunkeln geschlafen. In meiner ersten Nacht draußen lag ich im Bett und alles um mich herum war so – schwarz. Ich konnte gar nichts sehen, hörte nur das leise Ticken der Uhr. Es war wunderbar.

Eine Zeit lang litten Sie unter Depressionen, wollten sich aber nicht behandeln lassen. Warum?

Aus zwei Gründen. Wenn man neue Medikamente bekommen wollte, musste man mit einem Mediziner sprechen, über die eigenen Gedanken und Gefühle. Ich misstraute diesen Ärzten. Außerdem hatte ich Angst davor, dass mein Gehirn durch die Medikamente leiden könnte und ich meine Kraft, zu kämpfen, verlieren würde. Lange habe ich mich selber behandelt: Ich habe Metallica gehört.

Metallica war Ihr Antidepressivum?

Für eine Weile, ja. Erst 2011 habe ich dann begonnen, Medikamente zu nehmen, meine Traurigkeit wurde zu stark, sie überrollte mich wie eine Welle, das war furchtbar.

Gab es auch gute Tage im Knast?

Wenn wir Geld sammelten für einen guten Zweck, zum Beispiel für missbrauchte Frauen, draußen in der freien Welt. Dann gab es nämlich Pizza, also etwas, was wir normalerweise nicht bekamen im Gefängnis. Für die mussten wir zehn Dollar oder so bezahlen – und fünf davon gingen an ein Frauenhaus. Oh, wie ich das Essen vermisst habe. Nachdem ich entlassen wurde, habe ich 20 Kilo zugenommen, hauptsächlich mithilfe von Ben & Jerry’s Chunky Monkey und Bier.

Kennen Sie die erfolgreiche US-Serie „Orange is the New Black“, die im Frauengefängnis spielt?

Ich habe kein Bedürfnis, mir etwas anzuschauen, das mit dem Knast zu tun hat. Die Autorin, Piper Kerman, die selber im Gefängnis war – schuldig übrigens –, hat mir ein signiertes Buch geschickt.

Es heißt, dass viele Menschen im Gefängnis zur Religion finden. Sie auch?

Das ist ein Klischee, ich weiß. Sobald ich im Gefängnis war, bekam ich Post von all diesen christlichen Organisationen. Die Briefe habe ich buchstäblich zerrissen, und ich habe auch zurückgeschrieben, dass sie aufhören sollen, mir diesen Müll zu schicken. Weil ich dachte: Wenn es wirklich einen Gott gibt, warum schenkt er mir dann ein Kind und nimmt es wieder fort? Später habe ich mich mit östlichen Religionen und mit Meditation beschäftigt, das schien mir sinnvoller.

Männlichen Häftlingen passiert es häufig, dass sich Frauen von außerhalb in sie verlieben. Besonders von Todeskandidaten geht offenbar eine Faszination aus. Haben Sie das umgekehrt auch erlebt?

Nicht in dieser Form. Die Männer kommen meist durch Brieffreundschaften in Kontakt mit Frauen. Wie gesagt, ich wollte nie Teil der Gefängniskultur werden. Deshalb habe ich meinen Namen nicht auf eine solche Liste gesetzt.

Mehr als 20 Jahre sind eine lange Zeit. Als Ihnen die Freiheit genommen wurde, regierte George Bush, der Ältere, als Sie freikamen, Barack Obama. Was hat sich sonst verändert?

Die Leute sind nicht mehr so gesellig wie früher. Da war diese vierköpfige Familie in einem Restaurant. Alle starrten nur auf ihre Mobiltelefone! Die Supermärkte erschienen mir so viel größer, als ich wieder draußen war. Und natürlich kann ich nicht mit dem Internet umgehen, wie Sie das können. Ich hatte zwar im Fernsehen davon gehört, aber wusste nicht so recht, wovon die Rede war. Meine größte Sorge sind Hacker, mittlerweile erledige ich meine Bankgeschäfte trotzdem online und kaufe auch im Internet ein.

"Ich habe keine Angst vor meinem Ex-Mann"

Debra Milke beim Interview in Berlin.
Debra Milke beim Interview in Berlin.

© Thilo Rückeis

Sie leben immer noch in Arizona. Warum sind Sie, nach allem, was Ihnen die Repräsentanten dieses Staates angetan haben, nicht weggezogen?

Ich möchte in der Nähe meines Neffen Jason sein. Er ist 30 und wird heiraten, hoffentlich haben er und seine Frau bald Kinder.

Zu Ihrer Schwester haben Sie den Kontakt abgebrochen, weil sie gegen Sie ausgesagt hat.

Mein Neffe redet ebenfalls nicht mehr mit seiner Mutter.

Ihr Ex-Mann, der nicht weit entfernt von Ihnen lebt, hält Sie weiterhin für schuldig.

Viele machen sich deshalb Sorgen, aber ich habe keine Angst vor ihm. Was er in der Öffentlichkeit sagt und was er wirklich denkt, sind ganz unterschiedliche Dinge. Im Grunde seines Herzens wird er wissen, dass ich Christopher geliebt habe und ihm nie etwas angetan hätte. Die Drogen haben das Gehirn meines Ex-Manns kaputt gemacht, es ist ein bisschen so, als käme er vom Mars.

Haben Sie inzwischen eine Vermutung, was genau geschah, als James Styers und Roger Scott Christopher in die Wüste mitnahmen?

Nein. Das sage ich nicht aus juristischen Gründen! Die zwei sitzen in Haft, beschuldigen sich gegenseitig. Ich habe meinen Frieden mit der Tatsache gemacht, dass ich das Warum, dass ich die Wahrheit nie erfahren werde. Ich kann nicht ändern, was passiert ist.

Sie sprechen sich gegen die Todesstrafe aus ...

... ich würde mich nicht als Aktivistin bezeichnen, und ich bin auch nicht sicher, ob es das ist, was ich in Zukunft tun möchte. Ein paar Mal bin ich bei Konferenzen aufgetreten, und die Leute – zum Beispiel aus dem Justizministerium – waren sehr interessiert. Ich denke, das liegt daran, dass mein laufendes Verfahren viel verändern könnte. Das Brutalste an der Todesstrafe ist natürlich, wenn ein Unschuldiger verurteilt und getötet wird. Ich glaube, dass das schon passiert ist in Arizona.

Denken Sie manchmal: Zumindest der oder die Mörder Ihres Sohnes hätten den Tod verdient?

Ich trage keine Rache in meinem Herzen, so ein Mensch war ich nie und werde ich nie sein. Wenn man sie tötet, bringt mir das meinen Sohn auch nicht zurück. Einer von den beiden ist schwer krebskrank. Egal ob sie im Gefängnis eines natürlichen Todes sterben, ob der Staat sie umbringt oder eine Krankheit: Ich möchte und werde die beiden nie wiedersehen.

Ihr Sohn wäre heute ...

... 30. Dieses Jahr würde er seinen 31. Geburtstag feiern. Ich habe mir oft vorgestellt, was wohl aus ihm geworden wäre: Würde er sich für Sport interessieren, für Politik, oder wäre er ein Computer-Nerd? Es ist seltsam für mich, meinen Neffen als erwachsenen Mann zu sehen. Ihn und Christopher trennt nur ein Monat.

Haben Sie das Kreuz besucht, das an der Stelle steht, wo Ihr Sohn umgebracht wurde?

Nein, an diesen Ort möchte ich nie. Mein Ex-Mann hat Christophers Asche, mir bleiben nur Fotos und schöne Erinnerungen.

Frau Milke, während Ihrer Zeit im Gefängnis haben Sie manches im Leben verpasst. Was davon schmerzt Sie am meisten?

Dass mir die Möglichkeit geraubt wurde, noch ein Kind zu bekommen.

Ist Ihnen jetzt Gerechtigkeit widerfahren?

Das ist schwierig. Der Richter, der mich befreit hat, sagt, er hätte nur seinen Job gemacht. Was mich wirklich aufregt: Die Staatsanwälte verkaufen meinen Fall als Beweis dafür, dass das Rechtssystem in Arizona funktioniert. Wenn das wirklich so wäre, wäre ich natürlich nie angeklagt worden! Eine öffentliche Entschuldigung wäre mir sehr viel mehr wert als alles andere. Aber das wird nie passieren. Nicht in meinem Leben.

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