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Cliff Durr (Mitte) mit Frank Oppenheimer, Bruder des "Vaters der Atombombe",  und dessen Frau. Durr verteidigte viele Oper der Hexenjagd.

© bpk

Der Anwalt Clifford Durr hat viele Ähnlichkeit mit Atticus Finch: Ein Vorbild für Harper Lee

Im Welterfolg „Wer die Nachtigall stört“ ist Anwalt Finch ein guter Mensch, im nun veröffentlichten Frühwerk Harper Lees ist er Rassist. Jetzt steht der Roman auf Platz eins der Liste der „Spiegel-Bestseller“. Was kaum jemand weiß: So einen wie Finch gab es wirklich – und dies ist seine Geschichte.

So einen Vater hätte Oprah Winfrey auch gern gehabt: so aufrecht, so zugewandt, so couragiert. Einer, der immer das Richtige tat, egal, ob er mit seiner Tochter redete oder der Jury, die über Leben und Tod entschied. Wobei er nur wenige Worte machte. Aber jedes Wort saß. Dass Atticus Finch ein Weißer war, hat die Schwarze nicht gestört, der Anwalt stand ja auf ihrer Seite. Und dann sah er auch noch aus wie Gregory Peck.

Es war mehr als eine Jugendschwärmerei der späteren Talkmasterin. Die ganze Welt hat Atticus geliebt. 40 Millionen Mal wurde Harper Lees autobiographischer Roman „Wer die Nachtigall stört“ über den guten Mann aus Alabama seit dem Erscheinen 1960 gedruckt, in 40 Sprachen übersetzt, die Verfilmung mit Gregory Peck wurde zum Klassiker.

Bis vor zwei Wochen die Bombe platzte. Da erschien Harper Lees zweiter Roman, „Gehe hin, stelle einen Wächter“, der eigentlich ihr erster war, das literarische Ereignis des Jahres. Startauflage in den USA: zwei Millionen, in Deutschland: 100 000. Und plötzlich ist Atticus nicht mehr der Gute, der einen zu Unrecht wegen Vergewaltigung angeklagten Schwarzen verteidigt und vor dem Lynch-Mob rettet, sondern Rassist. Den Erfolg des Buchs hat das nicht gebremst, auf der „Spiegel“-Bestsellerliste steht es auf Platz eins, es wird fleißig nachgedruckt. Aber für viele brach eine Welt zusammen. Eine britische Journalistin witzelte, der Schock über die Entzauberung des Idols sei so gewaltig, dass die Fans wohl therapeutische Betreuung bräuchten, um darüber hinwegzukommen.

"Der echte Atticus Finch"

Den Leuten kann geholfen werden. Denn es gibt einen Mann, Clifford Durr (1899-1975), der so viel Ähnlichkeit hat mit dem guten Atticus, dass er bis heute immer wieder für das Vorbild von Harper Lee gehalten wird, auch wenn diese wohl eher ihren eigenen Vater im Kopf hatte. „The real Atticus Finch“ lautete der Titel eines Artikels der „Baltimore Sun“ vom vergangenen Wochenende, der den couragierten Juristen feierte. Wahrscheinlich war Durr (gesprochen Dörr) in seiner Bescheidenheit der Einzige, der die Ähnlichkeit nicht sah. Was ihn, der seine Heimat so innig liebte, 1960 am meisten freute an dem Roman: dass da ein Südstaatler als anständiger Mensch porträtiert wurde.

Auch Durr verteidigte als weißer Anwalt im rassistischen Alabama die Armen und Entrechteten: Schwarze, die Kredithaien 500 Prozent Zinsen zahlen sollten oder von der Polizei verprügelt wurden, die nur eine Frau angucken mussten, um der Vergewaltigung angeklagt zu werden. Wie Atticus war er zudem der Traum eines Vaters, erzählt seine Tochter Tilla im Telefoninterview. Einer, der Kinder ernst nahm, ihnen zuhörte und „so ruhig wie beruhigend“ Halt gab. Der, so die heute 74-Jährige, seine Töchter mit in den Garten rausnahm, wenn sie was ausgefressen hatten, und dort, die obligatorische Zigarette in der Hand, liebevoll den Unterschied zwischen Gut und Böse erklärte, ihnen einschärfte, sich den eigenen Dämonen zu stellen und in jeder Situation die Wahrheit zu sagen.

Er glaubte an Gott und Thomas Jefferson

Durr glaubte an Gott und Thomas Jefferson, die Demokratie und die Bill of Rights: gleiche Grundrechte für alle. Dafür zahlte er einen hohen Preis – ein Leben in Armut und gesellschaftlicher Isolation, die Gesundheit ruiniert. Er sagte, was er dachte, und was er für richtig hielt, obwohl er Auseinandersetzungen hasste – er bekam Bauchschmerzen vom Streit. Nicht er, seine temperamentvolle, politisch radikalere Frau Virginia war die Aktivistin der Familie. Seit ihrem politischen Erwachen in den 30er Jahren setzte die Südstaatenaristokratin sich vehement für die Abschaffung der „poll tax“ ein, die Wahlsteuer, die Schwarze von der Urne fernhielt.

Die beiden hätten nicht unterschiedlicher sein können. Sie liebte es, wie eine Bienenkönigin umschwärmt zu werden, er blühte in der Abgeschiedenheit seines Gartens auf. Sie war die exaltierte Drama Queen, er der zurückhaltende Gentleman. Als zwei ineinander verschlungene Bäume völlig unterschiedlicher Spezies hat eine Freundin sie beschrieben. Es war eine große Liebe. Und jeden Tag wurde diskutiert. „Sie waren sich einig, uneinig zu sein“, so Tochter Tilla. Der Gedankenaustausch war etwas, woran er fest glaubte.

Sein Gewissen ließ ihm keine Wahl

Gregory Peck als Atticus Finch in der Verfilmung des Romans "Wer die Nachtigall stört".
Gregory Peck als Atticus Finch in der Verfilmung des Romans "Wer die Nachtigall stört".

© picture alliance

Von Natur aus konservativ, wurde der Enkel von Plantagenbesitzern zum Rebell wider Willen. Durr konnte nur moralisch handeln, sein Gewissen ließ ihm keine Wahl. „The Conscience of a Lawyer“ heißt die Biographie über ihn. Und doch speiste sich sein moralisches Verhalten gerade aus dem Ehrenkodex des Südens.

Vermutlich hätte er Alabama nie verlassen, wäre er nicht schon als junger Anwalt angeeckt. In der Großen Depression hatte sein Chef in der Kanzlei in Montgomery angefangen, fristlos Leute zu feuern, darunter auch eine junge Sekretärin und allein erziehende Mutter. Als Cliff Durr protestierte – wenn alle eine Gehaltskürzung hinnähmen, könnte man das doch vermeiden –, war er selber seinen Job los. Am Ende war es sein Glück. Leute wie er wurden in der neuen Regierung gebraucht: Einen Monat nach Roosevelts Amtsantritt als Präsident zog die Familie 1933 nach Washington.

Nie war Amerikas Hauptstadt so aufregend, so progressiv wie in der Zeit des New Deals. Cliff stürzte sich in die Arbeit: Gutes zu tun und Banken vor dem Bankrott zu retten, später die Rüstungsindustrie aufzubauen, um Hitler zu bekämpfen, das war nach seinem Geschmack. Das Haus der Familie, eine turbulente Villa Kunterbunt, wurde zum Treffpunkt des New Deals, der Ökonom John Kenneth Galbraith kam ebenso vorbei wie Lyndon B. Johnson mit seiner Frau Lady Bird.

Vom FBI überwacht

Es ging weiter bergauf: 1943 berief Roosevelt Durr in die Rundfunkaufsichtsbehörde, wo dieser sich mit Nachdruck für den öffentlichen Auftrag und gegen die Kommerzialisierung des Fernsehens einsetzte. Doch bald drehte sich der Wind. Der Tod Roosevelts 1945 bedeutete das Ende des liberalen Amerikas, den Beginn des Kalten Kriegs. Wer als links verdächtig war, bekam keine Rundfunklizenz, wurde verfolgt. Empört hielt Durr Vorträge zur Meinungsfreiheit, legte sich mit FBI-Chef Hoover (der den Juristen natürlich überwachen ließ) und Präsident Truman an. Als dieser Regierungsmitarbeiter zum Treueschwur verdonnerte und die Hexenjagd eröffnete, verweigerte Durr 1948 aus Protest die Verlängerung seines Vertrags.

Stattdessen vertrat er nun Leute, denen aufgrund anonymer Denunziationen der Prozess gemacht wurde. Für den Juristen ein unerträglicher Rechtsverstoß, für den Patrioten ein zutiefst unamerikanischer Vorgang: die Meinungsfreiheit zu zerstören, eine Atmosphäre von Misstrauen und Angst zu schaffen, Menschen nicht aufgrund von Taten, sondern Gedanken zu verurteilen. Wenn er am Abend erschöpft von den Verhandlungen nach Hause kam, musste er sich oft übergeben.

Als Durr 1951 nach Alabama zurückkehrte, tat er es nicht, um sich für die Rechte von Schwarzen zu engagieren. Das war nicht sein Thema. Er hatte Heimweh – und keine Wahl. Von seinen Honoraren in Washington hatte er nicht leben können, seine Klienten standen in der Regel vor dem Ruin. Die Familie musste das geliebte Haus verkaufen, ein Großteil des Geldes floss in Operationen und Behandlungen seines kaputten Rückens. Auch den Job, den ihm die letzte liberale Gewerkschaft in Denver gab, war er schnell wieder los. Virginia hatte eine Petition gegen den Korea-Krieg unterschrieben, die Zeitung hatte groß darüber berichtet. Mrs. Durr sollte sich öffentlich davon wieder distanzieren, in ihrer Naivität habe sie sich verführen lassen. Cliff wurde unter Druck gesetzt, seine Frau zur Selbstanklage zu drängen. Seine Antwort: never. Sie hätten ihre Selbstachtung verloren.

Also: heim zu Mama, back to Montgomery, wo die Rassentrennung Gesetz war. Eine eigene Wohnung konnten sie sich nicht leisten. Die nächsten Monate lag Cliff wegen seines kaputten Rückens buchstäblich flach, auch nach der Eröffnung der eigenen Kanzlei, in der Virginia als seine Sekretärin arbeitete, verdiente er nicht genug. Also fanden sie bei seiner greisen Mutter und Tante Unterschlupf, die er beide liebte, und deren Ansichten er immer weniger teilte. Es war ein schmerzhaftes Leben, zerrissen zwischen der Loyalität gegenüber seiner Familie und seinen Überzeugungen.

Durr unterstützte den Anwalt von Rosa Parks

Wobei sich selbst die feurige Virginia in dieser Anfangszeit politisch bedeckt hielt, um erst mal auf die Beine zu kommen. Hat auch nichts geholfen. 1954 wurde sie vor einen der Hexenjäger-Unterausschüsse zitiert. Als der Zeuge die abenteuerlichsten Lügenmärchen ausspann, Virginia habe sich an kommunistischen Konspirationen beteiligt, platzte Cliff der Kragen. Der sanfte Mann sprang über die Absperrung, um dem Lügner in Diensten des FBI an die Gurgel zu gehen – und brach dabei mit einer Herzattacke zusammen.

Als Cliff wie jede Woche in seine Sonntagsschule kam, saß kein Kind mehr in seiner Klasse. Für den gläubigen Presbyterianer war dies das vielleicht schmerzhafteste Erlebnis: dass ihm, der versuchte, Brücken zu bauen, wortlos die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. In die Kirche kehrte er nicht zurück.

Der Ruf des Ehepaars war nun endgültig besiegelt, zu verlieren gab es nichts mehr. Der Wirbel wurde zum Befreiuungsschlag. Auf dringendes Anraten des Arztes nahmen sie sich nach vier Jahren als Untermieter, vier Jahren voller Spannungen, eine eigene kleine Wohnung, in der sie endlich wieder frei reden konnten. Virginia warf sich in den Bürgerrechtskampf, Cliff unterstützte den jungen schwarzen Anwalt Fred Gray, der sich gerade selbständig gemacht hatte.

Ihr prominentester Fall: Rosa Parks. Anders als viele glauben, war die Schneiderin keine einfache Frau, die, erschöpft von der Arbeit und lebenslanger Demütigung, spontan im Bus beschloss, ihren Platz nicht für Weiße zu räumen. Seit Jahren war sie engagiert im Bürgerrechtskampf, war aktives Mitglied im NAACP, der National Association for the Advancement of Colored People. Virginia Durr war ihre Freundin und Förderin.

Als der Direktor des NAACP von Parks’ Verhaftung erfuhr, bat er Cliff Durr um Hilfe. Gemeinsam gingen sie aufs Revier, um sie auf Kaution herauszuholen. Virginia nahm sie als Erstes in den Arm und küsste sie, „wie Schwestern“, so Rosa Parks, eine Frau ganz nach Cliffs Geschmack: „eine sehr ruhige, angenehme Person von großer Würde und Selbstachtung“. Die Person, auf die sie gewartet hatten, um die Rassentrennung in den Bussen mit juristischen Mitteln anzufechten. Fred Gray übernahm die Verteidigung und reichte die Sammelklage ein, Cliff wurde zu seinem Berater in allen Fragen. Ohne ihn, meinte Gray in den 70er Jahren, hätte die Bewegung kaum überlebt.

Morddrohungen und anonyme Anrufe

Rosa Parks bei ihrer Verhaftung.
Rosa Parks bei ihrer Verhaftung.

© Imago/UIG

Cliff blieb nur zu gern im Hintergrund. Dort fühlte er sich am wohlsten, außerdem sollten die Schwarzen diesen Kampf führen und gewinnen. Zudem wollte er nicht seine letzten zahlenden Kunden verlieren – und seinen Schwager Hugo Black in Schwierigkeiten bringen. Als liberaler Richter am Supreme Court stand dieser ohnehin ständig unter Beschuss.

Die Situation wurde immer dramatischer. Parks wurden geschlossen, Kirchen bombardiert und Autos angezündet, auch das der Durrs, Schwarze gedemütigt und ermordet, Bürgerrechtler blutig geprügelt und eingesperrt. Die Durrs erhielten Morddrohungen und anonyme Anrufe, wurden als „Nigger loving Communists“ beschimpft. Das bekamen auch die Kinder zu spüren. Tilla weigerte sich irgendwann, weiter in die Schule zu gehen, und wurde, wie auch die Jüngste, mit Hilfe von Freunden und Stipendien aufs Internat im Norden geschickt.

Treffpunkt der Bürgerrechtsbewegung

Durr kämpfte weiter, mindestens so sehr um der weißen Südstaatler wie der Schwarzen willen. Das wurde er nicht müde zu betonen: dass es ihm um „civil liberties“ ging, die Bürgerrechte aller, nicht nur der Schwarzen. In den Südstaaten wurden Gesetze gebrochen, gerade von denen, die sie eigentlich hüten sollten. Er wollte aus Alabama wieder einen Rechtsstaat machen.

Anfang der 60er, als die Bürgerrechts- zur Jugendbewegung wurde, mutierte das Durr’sche Zuhause zur Anlaufstelle für Studenten und Aktivisten aus England und den USA, die dort ein warmes Essen, Diskussionen und einen Schlafplatz kriegten. Und, wie der Hausherr nach Jahren der Belagerung erschöpft bemerkte, die Hausarbeit den Gastgebern überließen. Aber es waren die jungen Leute, vor allem die englischen, die als Erste die „Verräter“ als Helden verehrten und ihnen eine Bühne gaben, sie zu Vorträgen einluden.

Kurz bevor Cliff 1975 starb, schrieb Ex-Präsident Lyndon B. Johnson den Durrs einen Brief: „Vor langer, langer Zeit habt Ihr mich so viel gelehrt, durch Eure Grundsätze und Euer Beispiel, über die Würde und die Chancen, auf die jeder ein Anrecht hat, unabhängig von Hautfarbe, Geburtsort, Herkunft, und all die Arten, wie viele missachtet und verachtet wurden.“ Zu Cliffs Trauerfeier in Washington kamen Hunderte von Menschen. „Ich werde Dich vermissen, alter Soldat“, schrieb Rosa Parks der Familie, als Virginia 24 Jahre später starb. „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, aber Du, meine Freundin, hast ihn uns leichter gemacht.“

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