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Ein Paar sitzt sich gegenüber. Freunde oder Familienmitglieder des Paares sind in Verschwörungsmythen verfangen und leugnen Corona.

© dpa/Dieter Menne

Der Corona-Leugner in meiner Familie: Wie eine Selbsthilfegruppe um Freunde und Familienmitglieder kämpft

Freunde und Familienmitglieder verfangen sich in Verschwörungsmythen, driften ab. Bindungen zerreißen. Was tun? Ein Paar hat eine Selbsthilfegruppe gegründet.

Familien zerbrechen, Ehepartner stehen sich fremd gegenüber, enge Eltern-Kind-Bindungen zerreißen. Wenn Angehörige oder Freunde in der Corona-Pandemie zu Anhängern von Verschwörungsmythen werden, sich zu Corona-Leugnern entwickeln, sind die Belastungsproben schwer, zerstört das selbst innigste Beziehungen. Studentin Sarah, die das Abdriften ihres Vaters kaum ertragen kann, ihn aber auf keinen Fall aufgeben möchte, hat mit ihrem Freund eine Selbsthilfegruppe gegründet. In Bochum ist sie nun zum ersten Mal mit 15 Teilnehmenden zusammengekommen.

„Es sind ganz unterschiedliche Charaktere dabei, Jung und Alt. Bei allen geht es um einen Menschen in der Familie, der ihnen unheimlich wichtig ist“, schildert Sarah (30). „Und bei allen ist der Leidensdruck über die Zeit größer geworden.“ Ihr Freund Tim sagt nach der Online-Runde: „Alle haben schon ordentlich eingesteckt.“ Es gehe um Eltern, Kinder, Geschwister, Partner, die man nicht verlieren wolle. „Man steht vor einem Menschen, den man liebt und weiß nicht mehr weiter. Das Thema verbindet uns.“ Schon das Gefühl, nicht die „einzig hilfesuchende Person“ zu sein, stärke und könne motivieren.

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„Allen ist bewusst, dass es kein Allheilmittel gibt“, betont Tim (32). Aber man könne sich Tipps geben - etwa wie sich Streitthemen womöglich umschiffen lassen, damit der Gesprächsfaden nicht ganz abreißt. Und wo man Unterstützung von Fachberatungsstellen bekommt. „Alle in der Gruppen möchten den Kontakt zu der schwierigen Person in ihrem Familienkreis halten, auch wenn das superanstrengend ist. Es gibt Schicksale, da geht der Riss schon mitten durch die Familie“, berichtet Sarah.

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Sie weiß, wie sich die Verzweiflung anfühlt. „Als mein Papa immer merkwürdigere Dinge von sich gab und dann plötzlich am Telefon sagte, als Ungeimpfter müsse er wohl bald den Judenstern tragen, bin ich zusammengebrochen.“ Das war nicht ihr Vater, der studiert, in vielen Ländern gearbeitet hatte, der offen ist gegenüber allen Kulturen. „Vom Empfinden her war das nicht mehr mein Papa, auch nicht seine Wortwahl. Ich habe stundenlang geheult.“ Sein gesamtes Gedankenkonstrukt habe sich auf Corona, Impfverweigerung und Verschwörungsmythen verengt.

„Die Angebote dürften den Bedarf bei weitem noch nicht abdecken“

„Wenn der Glaube an Verschwörungen identitätsstiftend wird, beeinflusst er das gesamte Leben“, erläutert Sozialpsychologin Pia Lamberty. Das zerstöre Ehen und Familien, führe zu Verzweiflung, auch Scham - und zu Schmerz, wenn nahestehende Menschen sterben, weil sie die Impfung als Verschwörung abgetan hatten. „Deswegen ist es auch so wichtig, sich mit anderen auszutauschen, die Ähnliches erleben“, sagt die Geschäftsführerin der Organisation CeMAS, die sich eingehend mit Verschwörungstheoretikern befasst.

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Selbsthilfegruppen seien gerade erst am Anfang. So ist zeitgleich zur Bochumer Initiative auch eine Gruppe in Erlangen neu an den Start gegangen. Im digitalen Raum gebe es einen Austausch, ergänzt Lamberty. „Die Angebote dürften den Bedarf aber bei weitem noch nicht abdecken.“

Das Problem betreffe viele, der Beratungsbedarf sei enorm gewachsen, berichtet auch Christoph Grotepass vom Sekten-Info NRW. Es gehe um Zweifel an politischen Maßnahmen über diffuse Impfängste bis hin zur Vorstellung, dass die Bevölkerung belogen, dezimiert oder ausgetauscht werden solle. Die Vertrauensbasis in den Familien schwinde, es komme zu Entfremdung, Sprachlosigkeit, Ängsten voreinander bis hin zur Gefährdung Dritter - auch Kinder - durch die Verweigerungen von Schutzmaßnahmen.

Das Paar hat eine Selbsthilfegruppe für Betroffene gegründet.
Das Paar hat eine Selbsthilfegruppe für Betroffene gegründet.

© dpa/Dieter Menne

Grotepass geht davon aus, dass eine Selbsthilfegruppe nicht für alle der geeignete Weg ist. „Manche brauchen erst eine Stabilisierung durch einen beraterischen Kontext, manche möchten sich nicht anderen gegenüber offenbaren.“ Beratungsstellen könnten individuell helfen, eine möglichst passgenaue Intervention zu finden.

„Da sehe ich Angst und Unsicherheit“

Vielerorts werden sich weitere Gruppen gründen, glaubt man bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle des Paritätischen. Selbst wenn die Corona-Krise überwunden sei, bleibe das Thema, würden sich die Probleme innerhalb der Familien nicht einfach von selbst auflösen. Die Kontaktstelle hat die Bochumer Gründung unterstützt, eine Beraterin hat das erste Treffen begleitet. Ziel sei aber, dass solche Gruppen schnell autonom arbeiten können. Viele Kontaktstellen stehen einer Sprecherin zufolge bei Neugründungswünschen parat.

Nach schwierigen Monaten hat Sarah eine Strategie, auch dank intensiver Beratungen beim Sekten-Info. In Gesprächen mit ihrem Vater sucht sie nun vor allem nach Verbindendem, Gemeinsamkeiten. „Und ich versuche nicht mehr, ihm seine in meinen Augen komischen Ansichten mit Argumenten auszureden.“ Ohnehin aussichtslos. „Ich sage ihm aber klar, dass ich auf seine Themen keinen Bock habe, nicht seiner Meinung bin.“ Sie zeigt ihm, dass sie sich um ihn sorgt und bemüht sich, seine Beweggründe emotional nachzuvollziehen. „Da sehe ich Angst und Unsicherheit.“

Tim sagt: „Niemand gibt gerne zu, sich verrannt zu haben. Man muss den Betroffenen auch Zeit geben und darf ihnen den Ausweg nicht blockieren.“ Beide sind froh, die Gruppe gestartet zu haben. Sie haben schon eine zweite Gründung unterstützt: „Um dem großen Ansturm gerecht zu werden.“

Redaktionelle Hinweise: Die beiden Gründer der Selbsthilfegruppe möchten aus Sorge vor Anfeindungen und zum Schutz der Gruppenteilnehmer unerkannt bleiben, daher wird ihnen lediglich ein Vorname zugewiesen. (dpa)

Yuriko Wahl-Immel

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