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Sich Freiräume zu schaffen, ist für viele Menschen heute gar nicht mehr einfach. Eine Yogaklasse kann dabei helfen.

© imago/UIG

Die Yogakolumne: Mit dem Elektriker kam die Erleuchtung

Wenn man sich hingibt, hat Yoga die Kraft, Knoten zu lösen – körperliche und seelische, findet unsere Autorin. Dies ist ihre letzte Kolumne.

Nach dem „Kamel“ passierte es. Aaaaaaaahhhhhhh! Die Aufweitung des Brustraumes hatte ihre befreiende Wirkung entfaltet, ein Schrei hallte durch den Yogaraum. Danach war sie still, die nicht mehr ganz junge Frau mit der großen Hornbrille. Sie hockte einfach da und lächelte.

Solche Entladungen erlebe ich in meinen Kursen gar nicht selten. Tönend, fluchend und zum Teil sogar grunzend befreien sich die Teilnehmer ganz selbstverständlich von angestautem Ärger und Stress. Für den Organismus wäre es wahrscheinlich etwas schonender, wenn sich die Sprengkraft nicht Knall auf Fall entlädt, sondern kontrolliert entschärft wird – doch bei den ständig wachsenden Anforderungen und der zunehmenden Reizüberflutung der Gegenwart ist es für viele Menschen gar nicht mehr einfach, sich die nötigen Freiräume dafür zu schaffen.

Eine Kläranlage für das Gemüt

Eine Yogaklasse kann so ein geschützter Raum sein, in dem man beruhigt loslassen könnte. Als Lehrerin werde ich den Teilnehmern zwar die Verluste, mit denen sie klarkommen müssen, nicht nehmen, aber ich kann zur Konzentration auf das Wesentliche beitragen. Yogalehrer sind manchmal wie Hebammen – sie sorgen dafür, dass die Praktizierenden sich beim Prozess des Loslassens gehalten und getragen fühlen.

Wo Druck abgebaut werden soll, empfiehlt es sich, zuerst körperliche Anspannung aufzubauen. So halte ich beispielsweise die „Krieger“-Variationen, die ein hohes Maß an Kraft erfordern, gern einen Tick länger. Der Schüler wird ganz dicht an seine Grenze geführt. Besonders effektiv ist, wenn auf diesen unerträglichen Siedepunkt die Löwenatmung folgt. Dafür holt man ganz tief Luft, setzt nach der Einatmung eine Pause, um dann, wenn es gar nicht mehr anders geht, mit weit ausgestreckter Zunge und zwischen die Augenbrauen schielend zu brüllen. Das ist wie eine Kläranlage für das Gemüt. Die Decke der Zivilisation kann dünn sein in meinen Kursen.

Eine etwas sanftere Methode, die Belastungsgrenze anzusteuern, sind lange gehaltene Übungen wie die „Taube“. Man atmet bei diesem Hüftöffner behutsam in den Dehnungsschmerz hinein und lernt: Wer bei jedem Widerstand sofort die Flucht ergreift oder aufgibt, wird nicht freier, sondern labiler und sprunghafter.

Platz schaffen für etwas Neues

Ich fühle mich im Frühjahr ein bisschen inspirierter, ganz praktisch loszulassen und den Keller aufzuräumen oder den ungenutzten Kletterturm der Kinder endlich per Annonce zu verkaufen. Aber ich frage mich auch, ob es langsam Zeit wird, manch lieb gewordene Gewohnheit aufzugeben – und ausreichend Platz zu schaffen für etwas Neues?

Vergangene Woche hatte ich eine kleine Erleuchtung. Da nahm nämlich unser Elektriker überraschenderweise am Yoga-Unterricht teil. Okay, eigentlich tat er das nur, weil ich ihn dazu genötigt hatte. Damit er mich versteht, wenn ich mir wünsche, dass sich die Spots an der Decke besser an die unterschiedlichen Stimmungen beim Yoga anpassen.

Nach dem Kurs kam er zu mir und sagte: „Mann ey, ick hab’ auf einmal total geflennt und meine tote Mutti war ooch plötzlich da. Da kam ja die janze Scheiße wieder hoch!“

Wenn man sich hingibt, hat Yoga die Kraft, Knoten zu lösen – körperliche und seelische. Und wenn es nur, wie im Fall meines Lichtmannes, heißt: „Schwamm drüba. Jetzt weeß ick, warum du unbedingt die dimmbaren Hallos willst.“

Die Autorin ist Chefin von spirityoga.de.

Patricia Thielemann

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