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Nach dem Angriff. Das Foto von Kristina im ukrainischen Luganke entstand 2016; ein paar Stunden zuvor hatte sie sich mit der Mutter im Keller vor den Bomben versteckt.

© Mark Neville

Dokumentarfotograf Mark Neville: Starke Fotos: Wenn Kinder in Kriegsgebieten spielen

Kinder in Krisengebieten sind das Lebensthema des britischen Fotografen Mark Neville. In den Bildern spiegelt sich auch seine eigene Jugend.

Wie sie gucken, die Kinder. So intensiv. Merkwürdig selbstbewusst, fremd. Sie leben an der Front, inmitten von Armut und Bomben, in Flüchtlingslagern und von der Industrie verseuchten Gebieten. Und spielen. Vor der, auch für die Kamera eines Künstlers und Aktivisten, der nie vorhatte, Fotograf zu werden, für den die Fotografie nur ein Medium ist. Ein großer Unbekannter namens Mark Neville.

Am Anfang war der Trotz. Da hatte er an den besten Kunsthochschulen studiert, in London und Amsterdam, hatte Lichtinstallationen, Gemälde, Skulpturen, Experimentalfilme geschaffen. Nur wollte sie keiner zeigen. Mit Mitte 30 beschloss er frustriert, seine Arbeit in die eigene Hand zu nehmen. Sich ein Publikum jenseits des Kunstbetriebs zu schaffen, seine Rolle als Künstler neu zu definieren und eine andere Art der sozialdokumentarischen Fotografie zu entwickeln. Denn am Anfang stand auch Ärger: über Magnum-Fotografen, die kurz in ein Krisengebiet flogen und wieder raus und dann Hochglanzbücher für die Couchtische der gebildeten Mittelschicht produzierten.

Es war ein radikaler Schritt. Neville nahm an einem Wettbewerb für öffentliche Kunst teil, zog für ein Jahr ins schottische Port Glasgow, porträtierte die Arbeiterstadt. Am Ende überreichten die Jungs der örtlichen Fußballmannschaft jedem der 8000 Einwohner persönlich ein Exemplar des Fotobandes. Sie sollten damit machen können, was sie wollten, es behalten, verkaufen oder, was einige taten, verbrennen.

Der Fotograf Mark Neville.
Der Fotograf Mark Neville.

© Indre Cukuraite

Fotografie ist für ihn Kommunikation

Es gibt niemanden, der heute so arbeitet wie der Brite, so reduziert. Der sich wie er den größten Luxus erlaubt: Zeit. Zeit, Vertrauen zu entwickeln. Wochen- oder monatelang taucht er in das Leben einer Gemeinschaft ein, schafft politische Kunst jenseits der Sozialromantik. Neville will mit seiner Arbeit etwas erreichen, weshalb er sich oft mit Experten zusammentut. Sein Projekt „Child’s Play“ zum Beispiel, kürzlich im Londoner Foundling Museum zu sehen, wurde begleitet von einem Symposium.

In Afghanistan, in der Provinz Helmand, entdeckte Neville diesen Jungen am Weihnachtstag 2010. Süßigkeiten und Mütze hatte der Kleine von britischen Soldaten geschenkt bekommen. Im Hintergrund: afghanische Armeeangehörige, die von der ISAF ausgebildet wurden. Sie schlachten eine Ziege.
In Afghanistan, in der Provinz Helmand, entdeckte Neville diesen Jungen am Weihnachtstag 2010. Süßigkeiten und Mütze hatte der Kleine von britischen Soldaten geschenkt bekommen. Im Hintergrund: afghanische Armeeangehörige, die von der ISAF ausgebildet wurden. Sie schlachten eine Ziege.

© Mark Neville

Die Zahl der Kinder, die an Übergewicht und psychischen Problemen leiden, sagt Neville, sei in Großbritannien dramatisch gestiegen – während gleichzeitig die Zahl der Spielplätze immer stärker reduziert wurde. An Hunderte von Kommunen hat er den Katalog geschickt, zu dem ein Aktivist ein Manifest fürs Kinderspiel schrieb. Zurück kam so gut wie nichts.

Im Skype-Interview erzählt der 50-Jährige von den Zweifeln, die ihn immer wieder überkommen. Und von seinem jetzt bei Steidl erschienenen Buch, das seine Arbeit zum ersten Mal einem größeren internationalen Publikum zugänglich macht. Sein achtes Buch. Und das erste, das man in einer Buchhandlung kaufen kann.

Bei einer nächtlichen Patrouille in Afghanistan 2011 tauchten plötzlich die beiden Mädchen auf – wie aus dem Nichts.
Bei einer nächtlichen Patrouille in Afghanistan 2011 tauchten plötzlich die beiden Mädchen auf – wie aus dem Nichts.

© Mark Neville

„Fancy Pictures“ dokumentiert seine großen Projekte, samt den Reaktionen, auch der Betroffenen, darauf. „Fancy Pictures“ so hatte er seine zweite Langzeitstudie genannt, über Bauern auf einer schottischen Insel. „Schicke Bilder“, der Titel ist auch ein ironischer Gruß an eine bestimmte Art der Fotografie. Nevilles Arbeiten sind immer Kommentare zur Kunst und Kunstproduktion, zu Themen wie der Ethik der Repräsentation. Es war Zeit für das Buch, findet er, der, belesen in Philosophie und Theorie, eloquent über seine Arbeit redet, gern vor Publikum. Fotografie ist für ihn Kommunikation. Er will, dass über seine Ideen gesprochen wird.

Seine eigene Kindheit war der Horror

Was aussieht wie eine Filmszene, zeigt Kinder beim Löschen des Grillfeuers auf dem Somerford-Grove-Abenteuerspielplatz, auf dem der Künstler viel Zeit verbracht hat. Wie so oft hat er bei der Aufnahme Blitzlicht benutzt.
Was aussieht wie eine Filmszene, zeigt Kinder beim Löschen des Grillfeuers auf dem Somerford-Grove-Abenteuerspielplatz, auf dem der Künstler viel Zeit verbracht hat. Wie so oft hat er bei der Aufnahme Blitzlicht benutzt.

© Mark Neville

In Zeiten der milliardenfachen Bilderproduktion arbeitet der Brite sparsam und analog. Digitale Fotografie ist ihm zu scharf, die Farben nicht subtil genug. Meist benutzt er eine Mittel- oder Großformatkamera, immer Blitz und oft Schwarz-Weiß. Weil es zeitloser, surrealer wirkt, „einen Schritt von der Wirklichkeit entfernt“. Weitwinkel steigern den Effekt.

Im vergangenen Jahr hat Neville summa summarum nur einen Monat in seiner Londoner Atelierwohnung verbracht, in diesen Tagen ist er wieder an der ukrainischen Front. Dort führt er fort, was er mit dem ZOiS begonnen hat, dem neuen Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin, das seine ersten Reisen zu Vertriebenen in der Ukraine finanziert hat. ZOiS-Direktorin Gwendolyn Sasse arbeitet gern interdisziplinär. In ihren Augen betreibt Neville Feldforschung, auf seine Art, eine Bereicherung für die Wissenschaft. Neville ist kein Journalist, hat nur einmal einen Auftrag des „New York Times Magazines“ angenommen. Daher verbringt er viel Zeit mit der Suche nach Geld: Stiftungen, Museen, Institutionen finanzieren seine Projekte.

Die Andy Warhol Foundation lud den Briten nach Pittsburgh ein, wo er lange in einem armen und einem reichen Viertel fotografierte. Hier: „Proben zum Dschungelbuch, an der Sewickley Academy“ (2012) im wohlhabenden Stadtteil.
Die Andy Warhol Foundation lud den Briten nach Pittsburgh ein, wo er lange in einem armen und einem reichen Viertel fotografierte. Hier: „Proben zum Dschungelbuch, an der Sewickley Academy“ (2012) im wohlhabenden Stadtteil.

© Mark Neville

Nevilles Werk ist persönlich, ohne autobiografisch zu sein. Nicht sein eigenes Leben bildet er ab, sondern das der anderen, aber mit seiner Sensibilität und den eigenen Erfahrungen. Dass er so oft Kinder porträtiert und dies seine stärksten Bilder sind, hat einen Grund. Neville lacht am lautesten, wenn es gar nichts zu lachen gibt, zum Beispiel als er von seiner Familie erzählt, davon, dass er seine eigene Kindheit als Horror erlebte. „Mein Vater war ein Krimineller, der sich das Leben nahm.“ Mit seinem Bruder hat er seit zehn Jahren nicht gesprochen. Der Großvater: zum Fürchten. Er schrie alle nur an. Wenn er sie nicht gerade fotografierte. Offenbar vom Zweiten Weltkrieg traumatisiert, war die Kamera sein einziges Friedenswerkzeug.

"Ich wünschte, ich hätte nie gesehen, was ich gesehen habe"

So versteht der Enkel es heute. Denn er war selber an einem Ort, wie ihn einst der Großvater sah. Es gibt einen Bruch in Nevilles Leben, eine Reise, die er zutiefst bereut. Als offizieller Kriegskünstler, im Auftrag des Imperial War Museum und einer Stiftung, war er 2011 nach Afghanistan gegangen, nach Helmand. „Ich wünschte, ich hätte nie gesehen, was ich dort gesehen habe.“ Seine Beziehung ging in die Brüche, seine Freunde fanden ihn befremdlich.

Recht auf Freiheit. Mit seinem Projekt „Child’s Play“ setzt Neville sich für die Notwendigkeit von Spielplätzen und -möglichkeiten in Großbritannien ein. Hier: Szene in der Somerford-Grove-Abenteuerspiellandschaft im Londoner Ortsteil Tottenham (2011).
Recht auf Freiheit. Mit seinem Projekt „Child’s Play“ setzt Neville sich für die Notwendigkeit von Spielplätzen und -möglichkeiten in Großbritannien ein. Hier: Szene in der Somerford-Grove-Abenteuerspiellandschaft im Londoner Ortsteil Tottenham (2011).

© Mark Neville

Trotzdem dauerte es ein halbes Jahr, bis er begriff, dass er an einer posttraumatischen Störung litt, zum Therapeuten ging, Antidepressiva nahm. Mit seinem Buch „Battle Against Stigma“ wollte er anderen Mut machen, sich Hilfe zu suchen. Er schickte es nicht nur an jeden Soldaten, der es haben wollte, sondern an Gefängnisse, Psychiatrien, Obdachlosenheime. All die Orte, wo er Veteranen vermutete, die sich mit Drogen und Alkohol betäubten, weil ein Soldat nicht über Gefühle redet.

Er zeigt die Kinder nie als Opfer

Erst vor Kurzem glaubt Neville verstanden zu haben, worum es ihm in all seinen Projekten neben seinem politischen Anliegen eigentlich geht – um die Suche nach Familie. Den Wunsch, von einer engen Gemeinschaft, besonders im Arbeitermilieu, adoptiert zu werden. „Natürlich hat das so nie funktioniert.“ Den Abschied nach den Wochen und Monaten des Zusammenlebens hat er immer als schmerzhaft erlebt. Aber er wusste, er muss weiterziehen, weitersuchen.

Vielleicht, sagt Neville, sind seine Kinderbilder Porträts seiner eigenen Kindheit. „Für mich ist Kindheit ein furchterregender Ort. Vielleicht ist es der Versuch zu verstehen, was mir selber passiert ist.“ Möglicherweise ist es auch der Grund, warum er die Kleinen nie als Opfer zeigt, sondern als starke, eigenwillige Personen. Er selbst hatte schon als Kind, in seinem kunstfernen, bücherlosen Mittelschichtzuhause, das Gefühl, Künstler zu sein. Es war eine existenzielle Entscheidung für ihn, „die Antwort auf die Frage: Warum bin ich hier?“ What’s the point of it?

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