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Unser Kolumnist Hartmut Wewetzer.

© Kai-Uwe Heinrich

Dr. Wewetzer: Krebs, der keiner ist

Das K-Wort löst Ängste aus, manchmal auch unnötigerweise. US-Forscher fordern ein Umdenken.

Krebs ist ein böses Wort. Ihm haftet eine Aura schwarzer Magie an. Nur die Heilung, so scheint es, kann den Fluch abschütteln. Hoffentlich. Dass es auch einfacher geht, belegt nun ein internationales Team von Wissenschaftlern. Sie haben eine häufige Form von Schilddrüsenkrebs heruntergestuft. Sie soll fortan anders heißen.

Eine Teufelsaustreibung per Umbenennung? Das klingt merkwürdig, hat aber mit den Besonderheiten der Schilddrüse zu tun. Das unterhalb des Kehlkopfes gelegene schmetterlingsförmige Organ neigt dazu, Tumoren zu bilden („Knoten“). Viele Menschen haben Schilddrüsenknoten, ohne es zu wissen, und das ist auch gut so. Denn die Wucherungen sind meist harmlos. Doch führen Ultraschalluntersuchungen mit modernen Geräten dazu, dass immer mehr „zahme“ Tumoren entdeckt werden. Die Folge: ein scheinbarer Anstieg von Schilddrüsenkrebs und viele kostspielige, belastende und überflüssige Behandlungen. Von dem Trauma, mit der Diagnose Krebs zu leben, zu schweigen.

Yuri Nikiforov, Pathologe an der Universität Pittsburgh, führte die Gruppe von Forschern an, die nun eine Variante des papillären (warzenförmigen) Schilddrüsenkrebses umbenannt wissen möchte. Die wurde bislang EFVPTC abgekürzt. Die Besonderheit dieses Tumors besteht darin, dass seine Zellen von Bindegewebe umkapselt sind. Er wächst also nicht aggressiv in die Umgebung oder streut gar. Wird das krankhafte Gewebe entfernt, ist der Patient zuverlässig geheilt. Das EFVPTC wird immer öfter festgestellt und macht bis zu 20 Prozent aller Formen von Schilddrüsenkrebs aus.

Gegenüber der „New York Times“ berichtete Nikiforov, dass die Diagnose Schilddrüsenkrebs aus übertriebener Vorsicht häufiger und häufiger gestellt werde. Der Fall einer 19-Jährigen brachte ihn zum Umdenken. Die junge Frau hatte einen ungefährlichen Tumor, und Nikiforov redete auf den Chirurgen ein, es bei der Entfernung zu belassen. Der erwiderte, dass ihm die Behandlungsrichtlinien keine Wahl ließen. Er müsse der Frau in einem zweiten Eingriff die gesamte Schilddrüse entfernen und sie mit radioaktivem Jod behandeln. Bis zum Lebensende werde sie sich Kontrollen unterwerfen müssen. „Genug damit. Jemand muss den Wahnsinn stoppen“, antwortete Nikiforov. Und das tat er.

Wie die Ärzte um Nikiforov im Fachblatt „Jama Oncology“ berichten, konnten sie bei der nicht in die Umgebung wachsenden (nicht invasiven) Form des EFVPTC auch viele Jahre nach der Entfernung keine Probleme durch den Tumor feststellen. Alle Patienten waren geheilt. Die Mediziner schlagen daher vor, die Krankheit umzutaufen. Dabei soll das K-Wort durch den Ausdruck „Neoplasma“ ersetzt werden. Das bedeutet auch: keine Krebsangst mehr, keine Komplettentfernung der Schilddrüse, keine Strahlentherapie, keine Nachsorge. Jetzt müssen nur noch Nikiforovs deutsche Kollegen mitmachen.

Unser Kolumnist leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegels und schreibt an dieser Stelle an jedem ersten Sonntag im Monat. Haben Sie eine Frage zu seiner guten Nachricht? Bitte an: sonntag@tagesspiegel.de

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