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Blick ins "Picknick".

© Björn Ney

Engtanzpartys: Club der großen Herzen

Das „Picknick“ war lange Berlins legendärer Ort für Engtanzpartys – eher familiär als kommerziell, mehr Schnulzen als Techno. Vorbei! Wo bisher geknutscht und gefeiert wurde, wird bald Politik gemacht.

Von Julia Prosinger

Samstag, Regierungsviertel bei Nacht, nur die Reichtagskuppel leuchtet. Still liegt die Dorotheenstraße. Das trügt.

Ein paar Schritte durch einen Hinterhof der Nummer 90, den schweren Filzvorhang beiseite geschoben, und eine Welt öffnet sich. Ein schmaler Tunnel voll Menschen in rotes Licht getaucht, dichter Nebel, Rauch, rote Tücher versperren die Sicht. Von der Decke regnet es Konfetti, Herz-Luftballons schweben durch den Raum. Laut singt Bonnie Tyler aus den Boxen:

„Once upon a time I was falling in love

But now I’m only falling apart

There’s nothing I can do

The total eclipse of the heart.“

Fäuste recken sich in die Luft, Finger verfangen sich in Haaren, Lippen pressen sich auf Hälse. Manche weinen. Feiert hier eine Sekte?

Nein, es ist nur die monatliche „Engtanz“-Party im Picknick Club in Berlin-Mitte. Schöne Menschen mit kreativen Berufen tanzen auf viel zu wenig Platz ironisch zu Liebesliedern und merken plötzlich, dass sie es ernst meinen.

Seit ein paar Wochen hat das Picknick nun geschlossen, die Räume gehören der Verwaltung des Bundestages, und es gibt keine bezahlbaren anderen in Mitte. Clubsterben sagt man in dieser Stadt dazu. Das Rio in der Chausseestraße ist Geschichte, das WMF in der Ziegelstraße, die Villa in der Landsberger Allee. Mit dem Picknick verschwindet nun der letzte alte Club in Mitte – und mit ihm seine beliebteste Party, Engtanz.

Die Idee für so viel Ekstase brachte die Clubbetreiberin Tanja Kreisz, 41, aus ihrer Heimatstadt Stuttgart mit. Um Weihnachten, wenn alle zu den Eltern heimkehren, treffen sich hier bis heute alte Klassenkameraden zum Stehblues, tanzen noch einmal mit dem Jugendschwarm zu Aretha Franklin und Bon Jovi. Diesmal nicht mit dem Sicherheitsabstand einer Armlänge wie einst im Partykeller der Eltern.

In Stuttgart fordern Männer Frauen zum Tanz auf. Das interpretierten die Berliner Gäste schnell neu. Statt Paartanz bildete sich ein Knäuel singender Fremder. An der Picknick-Bar gab es nicht nur Gin Tonic und Bier, sondern auch Gummi-Kirschen und Brausebonbons. Erwachsenen-Schlaraffenland.

Im Hof war gern mal eine Torwand aufgebaut, statt Fußbällen schmissen sie hier mit Herzkissen, wer traf, bekam einen Wodkashot. An der Garderobe schminkten Studentinnen manchmal Hornbrillenträgern Glitzer um die Augen. Freizeitpark.

Engtanz in Berlin, das geht zu Tanja Kreisz Freude auch mal so aus: Acht Uhr morgens, Juli 2012, die Sonne steigt überm Regierungsviertel auf, die Konfetti haben sich bis Unter den Linden verteilt. Im Innenhof des Picknick läuft „Californication“ der Red Hot Chili Peppers, auf einem Stück Wiese liegen sich Schwestern in den Armen, gebrochene Herzen tanzen eine Liebeserklärung an die Liebe, Paare knutschen in den Ecken. Plötzlich beginnt eine Gruppe Tanzender sich auszuziehen. Blonde Haare fallen über nackte Brüste. Femen? Sieht nicht nach Protest aus. Eher nach Verwandlung. Hipster werden zu Hippies. Gleich sind sie ganz nackt.

All das begann im Mai 2003. Tanja Kreisz und Björn Ney, Psychologiestudentin und Produktdesigner, damals noch ein Paar, öffnen einen Laden an der Ecke Brunnenstraße/Invalidenstraße. Kaputte Heizung, feuchte Wände, aber perfekt für einen Sommer. Sie nennen ihn „Picknick“. Wer den Sonnentag in Mauerpark und Friedrichshain verbringen will, kann hier Decken und Picknickörbe leihen, sich Bier und belegtes Baguette, Würstchen und Grillkohle liefern lassen.

Aus ein paar Wochen werden drei Jahre. Abends schauen sie gemeinsam Fußball in dem kleinen Laden, feiern mit Freunden Geburtstag und bestandene Diplomprüfungen, kochen dienstags für alle. Keiner hat Kinder, wenige einen festen Job. Irgendeiner legt immer Musik auf, die Nachbarn sind Studenten oder arbeitslos und tolerieren das Treiben. Sie steht an der Bar, er an der Tür, keine Ahnung von Gastronomie. Es dauert ein paar Jahre, bis Tanja Kreisz und Björn Ney verstehen, dass sie Clubbesitzer sind.

„Ich wollte das nie werden, ich wollte nur, dass Leute zusammenkommen“, sagt Kreisz.

2007 mieten sie eine richtige Location, mitten im Regierungsviertel, Dorotheenstraße. Eine ehemalige Poststation, wo früher Pferde in der Scheune getränkt wurden und sich zu DDR-Zeiten – da hieß die Straße noch nach der Frauenrechtlerin Clara Zetkin – Schriftsteller und Oppositionelle trafen. In Erinnerung an die Sommerzeiten nennen Kreisz und Ney ihren Club „Picknick“. Sie machen keine Werbung, geben keine Interviews, platzieren keine Marke. Sie feiern mit Freunden und Freunden von Freunden und hebeln die Gesetzmäßigkeiten des Berliner Nachtlebens aus.

In Berlin gilt: keine Party vor 1 Uhr. Im Picknick ist es häufig schon um 23 Uhr voll. Tanja Kreisz quetscht sich durch wankende Paare. „Ist die Stimmung gut?“, „Sind zu viele Frauen drin, grabschende Männer?“, fragt sie ihre Gäste. Wie in einem Familienrestaurant, wo die Wirtin an den Tisch kommt: Schmeckt’s?

In Berlin gilt: harte Türsteher, strenge Auswahl. Gruppen kommen prinzipiell nicht rein, man sollte sich aufteilen. „Wir denken nie: Ist der schön oder nicht schön, sondern nur: Kennen wir den, kennen wir jemanden, der den kennt?“, sagt Björn Ney. Wer als Freund eines Freundes kommt, ist schnell selbst ein Freund. Blöd natürlich, dass sich irgendwann alle kennen und der Raum nur ein paar Hunderte fasst. Dann müssen die Türsteher eben doch welche nach Hause schicken. Sie entschuldigen sich.

Wer in Berlin tanzt, erwartet elektronische Musik. Bei Engtanz zahlt man hingegen den vollen Eintrittspreis um Pophits zu hören. „Star-DJs passen nicht zu uns. Darauf sind andere spezialisiert“, sagt Ney. Gagen, wie sie das Berghain zahlt, könnten sie sich ohnehin nicht leisten. „Wir sind Gastgeber, wir verkaufen Familie und Beständigkeit im anonymen Berlin.“

Heike Makatsch war da, Markus Kavka, Tom Schilling, Nadja Auermann, Daniel Brühl. Z-Promis kassierten Körbe.

Was im Picknick passiert, so lautete die Regel, bleibt im Picknick. Wenn die Veranstalter Fotos und Videos veröffentlichten, sah man keine Gesichter in Nahaufnahme. Betrunken, nackt, untreu – wer das sein wollte, konnte es hier gut.

„I really need you tonight

Forever’s gonna start tonight“,

singt Bonnie Tyler. Weltweit wurden über fünf Millionen Platten von „Total Eclipse of the Heart“ verkauft, dem Lieblingslied der Berliner Engtänzer. Neben „Ohne Dich“ der Band Münchner Freiheit. Neben Rio Reiser, Grips Theater und Jay-Z, Pink Floyd, Madonna und Robbie Williams.

Engtanz-Ambiente.
Engtanz-Ambiente.

© Björn Ney

Jemand stolpert in der Enge, Bier und Gin Tonic verteilen sich auf Cocktailkleidern und Smokingjacken, kleben die Konfetti fester auf Seidenstoffe. „Macht gar nichts“, strahlt man dem Ungeschickten entgegen, „Kein Problem“, wenn jemand einem mit der Zigarette den Arm verbrennt. In manch anderem Club laufen die Gäste zugekokst aneinander vorbei. Im Picknick muss man aufpassen, nicht von Weinseligen zu Tode geküsst zu werden.

Auf der Damentoilette liegt das Waschbecken mal wieder am Boden, bei den Männern waten die Gäste durch knöchelhohes Abwasser, irgendjemand hat Plastikbecher im Urinal versenkt. Der Strom fällt aus. Singen eh alle mit. Die Bierbänke krachen unter dem Gewicht der Tanzenden zusammen. Keiner schimpft. „Wir wollten, dass sich die Leute zu Hause fühlen, da darf das passieren“, sagt Tanja Kreisz.

Ihre Gäste lieben das Gewohnte. Sie bestehen auf dem immer gleichen Barpersonal, eine als Clown verkleidet, einer trägt den Unterkiefer einer Ziege um den Hals. Sie bestehen auf dem zehn-Kilo-Konfettisack, damit sie sich auch Tage später an die Nacht erinnern. Konfetti im Bauchnabel, manchmal hustet man es Tage später aus. Konfetti im Geldbeutel, am Arbeitsplatz.

Die Gäste bestehen darauf, dass die Besitzer morgens mittanzen, im Sommer bis Mittags im Innenhof.

Lange haben Tanja Kreisz und Björn Ney keinen Urlaub gemacht, weil sie ihre eigenen Partys nicht verpassen wollten. Sonntags, wenn die Gäste auskaterten, bereiteten sie das Gebäude wieder auf die Bürowoche im Regierungsviertel vor, fegten Konfetti von der Straße, lasen Strohhalme und geplatzte Herzballons auf.

Januar 2014, weit mehr als in den kleinen Laden passen sind zur Beerdigung des Picknick erschienen. Die Schlange reicht die ganze Dorotheenstraße hinunter. Auf der Facebook-Seite bedanken sich Paare fürs Verkuppeln. Manche haben sich für heute einen Babysitter genommen. „Hier“, sagt der Barmann und zeigt hinter eine der Türen zum Hof, „habe ich geknutscht.“ Er deutet auf die Toiletten, die Podeste, die Björn Ney aus Paletten gebaut hat, das Treppenhaus. Dann legt er sich auf den roten Teppichboden, mitten auf die Tanzfläche. „Hier auch.“

Noch einmal wünscht sich Tanja Kreisz einen morgendlichen Grönemeyer vom DJ. Noch einmal kracht das Waschbecken im Frauenklo aus den Kacheln. Ein letztes Mal regnet es Konfetti in roten Nebel. Erst weint der eine DJ, dann sein Publikum, dann der andere DJ, schließlich weinen auch die beiden Besitzer.

„Once upon a time there was light in my life

But now there’s only love in the dark

Nothing I can say

A total eclipse of the heart“.

Die Beerdigung ist vorüber, in wenigen Wochen zieht hier die Bundestagsverwaltung ein. Wo einst beim Aufräumen Slips und Kondome auftauchten, wird künftig Politik gemacht. „Ich hoffe“, sagt Tanja Kreisz, „dass etwas von der Liebe aus diesen Gemäuern auf die Verhandlungen der Bürokraten überspringt.“

Die Tradition des Engtanz wird auferstehen, vielleicht in Moskau, Shanghai oder New York. Zunächst aber in Berlin, dafür haben Tanja Kreisz und Björn Ney gesorgt. Am 15. Februar, dem Tag nach Valentin, im Kreuzberger Prince Charles Club, Prinzenstraße 85B.

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