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Dunkle Wolken. Im Dorf Insel erinnert heute nichts mehr an die Demonstrationen.

© Erol Gurian

Entlassene Sexualstraftäter: Unerwünschte Nachbarn

2011 zogen zwei entlassene Vergewaltiger nach Insel, Sachsen-Anhalt. Das Dorf war wütend – und ängstlich. Wie leben die Männer heute?

Von Andreas Austilat

Insel sieht an diesem Morgen wie eine Postkartenidylle aus. Die Sonne taucht die Gassen in warmes Licht, die verlassene Dorfstraße schlängelt sich vorbei an alten Höfen und neu angelegten Vorgärten. Eine Frau in Warnweste bläst Laub von der Einfahrt. Als ein Auto um die Kurve biegt, schaut sie kurz auf, blickt mit zusammengekniffenen Augen auf das Kennzeichen. Hinter verschlossenen Toren kläffen Hunde. Sonst herrscht Stille.

Nichts erinnert mehr an die Proteste, die Insel vor fünf Jahren in die Schlagzeilen brachten. Der Ort in der Altmark wurde in der Öffentlichkeit zum „Nazi-Dorf“, seine 450 Bewohner zum „tobenden Mob“. Über ein Jahr lang protestierten Demonstranten vor einem grauen Bauernhaus im Ortskern. Mit Tröten und klapperndem Kochgeschirr belagerten sie die Straße zum Hof.

Neonazis mischten sich unter die Menge, versuchten das Grundstück zu stürmen. Später kamen Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) und ein Bus mit 70 Landtagsabgeordneten. Einige von ihnen hielten als Gegendemonstration ein Banner in die Luft: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Was passiert war: Hans-Peter W. und Günter G. waren in das Dorf in Sachsen-Anhalt gezogen. In den 70er und 80er Jahren hatten sie mehrere Frauen vergewaltigt, waren zu Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Zu diesem Zeitpunkt war die Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre beschränkt. Diese Obergrenze hob die Bundesregierung unter öffentlichem Druck 1998 auf.

Die Verwahrung von G. und W. wurde immer wieder verlängert, auch nach Verbüßung der Haftstrafe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärte 2009 diese Praxis für rechtswidrig. Etwa 70 Straftäter, darunter auch die beiden Männer, kamen daraufhin frei.

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"Wir lauern nicht hinter den Büschen"

Monatelang bemühten sich die Männer um eine eigene Wohnung – erfolglos. Edgar von Cramm, ein Tierarzt, der die Wellensittiche von G. in der JVA behandelt hatte, vermietete ihnen schließlich sein Bauernhaus in Insel. Nach vier Wochen erfuhren die Einwohner davon, Horrorgeschichten gingen um, manche Anwohner trauten sich nachts nicht mehr aus dem Haus.

Die Proteste begannen. Der Alltag schluckte sie: die Stimmen der Ablehnung, des offenen Hasses. Doch wie leben die Menschen fünf Jahre nach den Anfeindungen? Was wurde aus all der Wut in Insel?

Auf seiner Veranda hat Günter G. den besten Ausblick. In Filzsocken geht er über das feuchte Holz. Die Hand mit tiefgestochenen Knasttattoos in der Hosentasche, die andere bewegt er durch die Luft wie ein Dirigent. Sein Finger zeigt auf den neu gepflanzten Rosenbusch, auf die Scheune, in der er 20 Hühner hält, schließlich auf den Nachbarzaun.

Spanplatten und Plastikplanen versperren die Sicht in den Hof. „Die haben sie wegen uns an den Zaun genagelt“, murmelt G. in seine Barthaare, dunkelgelb vom Nikotin. „Sie wollen nicht, dass wir den Kindern beim Baden zusehen.“

Er wollte sie besitzen

Günter G. sackt in einen Rattan-Sessel. Den Zigarettenrauch zieht er durch eine Spitze tief ein, bevor er weiterredet. „Ich weiß nicht, warum die Leute Angst vor uns haben“, sagt er, „wir lauern ja nicht hinter den Büschen“.

G. ist 70 Jahre alt. Seine Hände zittern, als er die Hosenträger zurechtrückt. Sie klemmen am Bund seiner ausgewaschenen Sporthose. G. ist krank, er hat taube Hände, Probleme mit dem Gleichgewicht. Dunkle Schatten liegen unter den Augen, mit denen er nur noch schlecht sieht.

Sein letztes Opfer war erst 15. Das Mädchen saß auf seiner Couch und löste Kreuzworträtsel, als er plötzlich die Haustüre verschloss. Er zog ein Klappmesser, drängte die Jugendliche aufs Bett. Viermal vergewaltigte G. sie in dieser Nacht. Immer wenn sie sich wehrte, schlug er auf sie ein, drohte, sie abzustechen.

Er wollte sie besitzen, sagt Günter G. später. 37 Jahre war Günter G. damals. Starker Alkoholiker, keine Ausbildung. Mit Gelegenheitsjobs finanzierte er seine Sucht. Als er festgenommen wurde, hatte er 2,5 Promille. Fünf Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung lautete das Urteil. Gutachter hielten ihn für so gefährlich, dass sein Aufenthalt ständig verlängert wurde – 26 Jahre saß er insgesamt.

Die Anwohner haben resigniert

Alle paar Tage holpern in Insel Verkaufswagen über das Kopfsteinpflaster. Erst der Fischverkäufer, dann der Metzger, zuletzt der Bäcker. Das nächste Geschäft ist in Stendal, zwölf Autominuten entfernt. Schon vor Jahren hat die letzte Kneipe ihre Türen geschlossen.

In Insel sieht es aus wie in vielen anderen Dörfern Sachsen-Anhalts: verfallene Häuser, wenig Arbeit, wenig Leben. Die Altmark ist eine der strukturschwächsten Gegenden Deutschlands.

Die Bäckereiverkäuferin lächelt hinter dem Tresen. Zwei Frauen kaufen Nussecken und Schrippen. „Die Vergewaltiger? Ach Gott, die grüße ich nicht“, sagt die eine, Birkenstock und Dauerwelle. „Lebt der Alte überhaupt noch? Ich dachte, der ist schon tot“, sagt die andere. „Ja, besser wär’s, wenn die bald sterben“, antworte die eine.

Viele Anwohner, die damals Plakate malten und in Tröten bliesen, haben resigniert. „Am Anfang war ich gegen die“, sagt ein Mann in weißem Unterhemd, der gerade Einkäufe auslädt. „Klar bin ich bei den Demos mitgelaufen. Aber sie verhalten sich ruhig. Also passt das.“

Die lautstarken Proteste sind verklungen. Und doch liegt Wut in den Stimmen der Dörfler. „Wir hatten ja keine Wahl“, sagt eine Frau im Blumenkleid. Die Politiker verließen Insel wieder. Die beiden Männer blieben.

Fühlt er Reue?

Eskalation. Als Protest gegen die beiden Männer haben Einwohner eine Strohpuppe an einen Baum gehängt.
Eskalation. Als Protest gegen die beiden Männer haben Einwohner eine Strohpuppe an einen Baum gehängt.

© picture alliance/ZB

Wenn Günter G. über seine Vergangenheit spricht, schweift er ab. Sein Blick wandert zum Himmel. „Den Roten Milan haben wir hier viel“, sagt er. Oder: „Da flog letztens ein weißer Spatz.“ Die Zeit im Gefängnis hat Spuren hinterlassen. Über seine Arme laufen Initialen von Menschen, über die er ungern spricht. Entstanden während einer Zeit, die er lieber vergessen würde.

Die Sicherungsverwahrung sei schlimm gewesen, sagt G.. Ein Fehler der Justiz. Er habe die Taten begangen, sie seien „nicht anständig“ gewesen. Fühlt er Reue? „Im Gegenteil. Man hat mir wehgetan“, sagt er und streicht über die Härchen, die sich über sein Unterhemd kräuseln. Er redet von dem Gefühl, kein Mensch mehr zu sein, sondern lediglich eine Nummer. Davon, wie er in der Zelle aus Obst, Zucker und Brot Most herstellte, um seine Sucht zu stillen. Davon, wie noch heute bei bestimmten Namen Bilder im Kopf auftauchen, von gehässigen Wärtern und Mithäftlingen. Über das vergewaltigte Mädchen redet er nicht.

Eine unsichtbare Mauer trennt den Hof der beiden Männer vom Rest des Dorfes. Die Einheimischen machen einen Bogen um das Haus. Keiner will Eier von G. kaufen. „Die holt die Tafel in Stendal“, sagt G. Er redet langsam, sein Bart schluckt die letzten Silben. „Da passen die anderen schon auf, dass keiner zu uns kommt.“

Günter G. meidet das Dorf. Er verlässt den Hof nur, um mit dem Mofa in die Stadt zu fahren. Dort kauft er ein oder geht zum Arzt. Hans-Peter W., der nicht über seine Vergangenheit sprechen will, arbeitet tagsüber bei einer archäologischen Grabung. Wenn die beiden Männer mit Mischlingshündin Ebbi eine Runde drehen, fahren sie raus in die Natur, raus aus dem Ort. Mit den Leuten hier wollen sie nichts zu tun haben.

Es ist ein Dilemma, bei dem beide Seiten Recht haben

In Insel wurde der Hass schwächer, verschwunden ist er nie. Auf der Bundesstraße 188 von Stendal Richtung Insel fährt ein tiefergelegter Golf GTI, in der getönten Heckscheibe steht in altdeutscher Schrift: „Keine Gnade für Kinderschänder“. Vereinzelt sieht man noch rot-blaue Kreuze, die die Bewohner damals an ihre Fassaden nagelten, als Zeichen der Ablehnung.

Eine kleine Gruppe von Dorfbewohnern trifft sich nach wie vor freitags zum stillen Protest. Ohne Plakate und Geschrei, aber mit einer klaren Botschaft: Wir wollen euch hier nicht haben.

Bernd Maelicke hat Erfahrung mit Fällen wie Insel. Das Ganze sei ein Dilemma, bei dem im Grunde jeder Recht habe: die ehemaligen Verbrecher genauso wie die Anwohner. Maelicke ist Jurist und Sozialwissenschaftler, ein Experte für Resozialisierung.

„Trotz der Ängste können wir als Gesellschaft nicht anders“, erklärt er. „Wir müssen von den Leuten bei der Resozialisierung dieses Opfer einfordern, auch wenn es weh tut.“ Keiner finde es schön, wenn Entlassene zu Nachbarn werden.

Keiner will Verräter sein

Renate Brunner (Name von der Redaktion geändert) hat keine Angst. Gegenüber von Günter G. sitzt sie am Küchentisch. Oma, wie die Männer sie nennen, war damals eine der wenigen, die sich gegen die Dorfgemeinschaft stellte. Einige andere dachten so wie Brunner, haben sich aber nie getraut, sagt die Rentnerin. „Sie hatten Angst, als Verräter zu gelten, wie ich.“

Nur einmal stellte jemand nachts einen Blumentopf vor das Gartentor der Männer. Brunner besucht die Männer, hört ihnen zu, sitzt regelmäßig an dem kleinen Holztisch mit geblümter Wachstuchdecke. Ein Abfallkalender liegt darauf, Werthers Original und zerbissenes Hundespielzeug. In den Regalen, an den Wänden, auf der Küchenablage: überall ticken Uhren. So viele, als wären sie Impulse für ein Leben, das oft stillzustehen scheint.

Zehn Kilometer entfernt sitzt Oberbürgermeister Klaus Schmotz, ein ehemaliger Oberstleutnant der DDR-Grenztruppen, im frisch renovierten Stendaler Rathaus. Seit 2012 ist der 64-jährige Christdemokrat für Insel zuständig.

Nach dem Rücktritt des Ortsbürgermeisters hatte sich in Insel kein neuer Ortsrat mehr gebildet. Ein Bürger habe damals zu Schmotz gesagt: „Wenn ich mich aufstellen lasse, habe ich das Thema gleich wieder an der Backe. Dann heißt es: Kümmere dich drum, die müssen weg.“ Bei den letzten drei Worten haut der Bürgermeister mit der Faust auf den Tisch.

„Das Ganze haben die Dorfbewohner uns, der Politik, übel genommen“, sagt Schmotz, „die Menschen haben nur aufgegeben, weil sie merkten, sie rennen gegen eine Wand“. Dass alles so aus dem Ruder gelaufen sei, kreidet Schmotz dem Freiburger Tierarzt Edgar von Cramm an: „Er hat unsensibel gehandelt. Sowas bleibt nicht geheim in einem Dorf.“

Es hätte alles so schön sein können

Wenn es nach Schmotz gegangen wäre, hätte man die Leute gleich informieren müssen, anstatt sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Genau das wollten Hans-Peter W. und Günter G. beim Umzug nicht, dass alle wissen, wer sie sind.

Schuld an der Eskalation in Insel seien die Amtsträger, die Profis, wie Sozialwissenschaftler Maelicke sagt. Zwar hätten die Bürger kein Recht auf Information, nur hinter dem Rücken der Gesellschaft bekomme man das nicht hin. „Bürgermeister, Lehrer und Pfarrer müssen Bescheid wissen. Sie sollen mit Anwohnern sprechen, inwieweit ihre Ängste berechtigt sind.“

Dem Vermieter macht er keinen Vorwurf: „Er hat mit gutem Willen gehandelt. Solche Leute brauchen wir für die Resozialisierung.“ Cramm würde es wieder so machen. Obwohl er die Dynamiken unterschätzt hat. Als er während der Demos sein Auto bei einem Mechaniker in Insel reparieren ließ, hing danach ein Zettel an der Werkstatt: „Wenn Du noch einmal den Trabi vom Cramm flickst, brennt Dein Haus!“

Günter G. verabschiedet Brunner am Gartentor. Während er zurück zur Veranda schlurft, verfangen sich seine Gummischuhe im hohen Gras. Er schwankt, als würde der Rasen unter ihm beben.

Manchmal, wenn G. auf der Veranda sitzt, überlegt er, wie das Leben verlaufen wäre, wenn die Vergangenheit nicht ans Licht gekommen wäre. Dann hätte Hans-Peter Kollegen einladen können, zum Grillabend auf der Veranda. Vielleicht wären ein paar Nachbarn vorbeigekommen. „Das wär doch gut gewesen“, sagt G., „aber jetzt ist es zu spät.“

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