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Mutationen im Erbmaterial? Mit speziellen Medikamenten lassen sich Krebs-Gene ausschalten.

© pa/Angelika Warmuth/dpa

Erbgutanalysen: Die Zukunft steht in den Genen

Im menschlichen Erbgut sind Leiden und Tod angelegt. Hilft es, davon zu wissen? Unser Autor ließ seine DNA analysieren – und bangte.

Ich will wissen, woran ich sterben werde. Dachte ich zumindest.

Jetzt sitze ich mit schweißnassen Händen im Flur des Robert-Bosch-Krankenhauses in Stuttgart und starre auf den blau-gesprenkelten PVC-Boden. Mein Blick wandert zur Holztür vor mir. Dahinter wird Dr. Mark Dominik Alscher gleich mein Schicksal verkünden. Eine Untersuchung sollte mir Gewissheit darüber verschaffen, welche Todesursachen in meinem Gencode angelegt sind. Das Ärzteteam hat mein Erbgut auf entsprechende Mutationen gescannt.

Ich starre wieder auf das PVC. Alle haben mir abgeraten. Ob ich wisse, worauf ich mich einlasse, fragte meine Mutter. Ich dachte, ich wüsste es. Ob ich damit umgehen könnte, wenn der Test ein erhöhtes Krebsrisiko zeigen würde, wollte meine Freundin wissen. Ich antwortete, dass ich lieber der Realität ins Auge blicke, als vom Schicksal überrascht zu werden. Das ist Wochen her.

Nun habe ich Schiss. Was, wenn Dr. Alscher mir gleich sagt, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit an Lungenkrebs sterben werde? Schon bereue ich die Zigarette, die ich vorhin – aus Nervosität – in Rekordzeit weggedampft habe. Wie wird meine Freundin reagieren, wenn ich ihr mitteile, dass ich irgendwann erblinde oder wie aus dem Nichts von einem Hirnschlag dahingerafft werde? Und was dann noch anstellen mit meinem Leben?

Die Holztür öffnet sich, und Dr. Alschers Sekretärin streckt den Kopf aus dem Vorzimmer: „So, Sie dürfen dann“, sagt sie viel zu freundlich.

Gentests sind umstritten

In Deutschland boomt das Geschäft mit Gentests. Zwar wissen weder der Bund noch die Kassenärztliche Bundesvereinigung genau, wie viele Untersuchungen in den vergangenen Jahren stattgefunden haben. Private Anbieter berichten aber von einer deutlich steigenden Nachfrage. Ein Schweizer Unternehmen, dessen Kunden zu einem Drittel Deutsche sind, gab an, die Verkäufe hätten sich innerhalb des Jahres 2016 verdoppelt. Das gilt nicht nur für Lifestyle-Tests, bei denen anhand der DNA etwa ermittelt wird, woher die Urahnen des Probanden stammen oder welche die perfekte Sportart für ihn ist. Auch bei krankheitsrelevanten Tests auf Brustkrebs, Morbus Crohn oder Osteoporose ist die Tendenz laut dem Anbieter Progenom „stark steigend“. Für Erbgutuntersuchungen zu medizinischen Zwecken gilt ein Arztvorbehalt: Die Studien dürfen nur von Ärzten vorgenommen werden. Das Gendiagnostikgesetz garantiert so, dass der Befund den Patienten erklärt wird und die Krankheitsrisiken eingeordnet werden.

Gleichwohl sind Gentests umstritten. Erhält ein Patient die Gewissheit, dass er die Voraussetzungen für eine Erbkrankheit in sich trägt, kann ihn dies psychisch stark belasten – auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass er erkrankt, oft nur leicht erhöht ist. Neuere Studien zeigen, dass dieses Wissen bei den Patienten kaum dazu führt, dass sie ihre Einstellung zu Rauchen, Ernährung oder Alkoholkonsum änderten. Das deutsche Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften fragte deshalb, ob der Nutzen der Tests dem psychischen Risiko angemessen ist.

Noch drei Monate vor dem Diagnosetermin in Stuttgart war ich zuversichtlich. Seit der Pubertät musste ich nur zum Arzt, wenn ich mich beim Sport verletzt hatte. Ich war praktisch nie krank. Dabei rauche ich schon mein halbes Leben lang – ganze 16 Jahre – und an Wochenenden lege ich einen guten Teil meines Einkommens auf irgendeinen Tresen. Als Ausgleich esse ich einigermaßen gesund und gehe zweimal die Woche boxen. 81 Kilogramm, verteilt auf 1,84 Meter Körpergröße, meine Eltern scheinen mir ein ordentliches Genset vermacht zu haben.

Woran werde ich sterben?

Dass mich der bevorstehende Test lange nicht beunruhigte, lag auch an der Humangenetikerin Saskia Biskup. Ihr Biotech-Unternehmen hat sich darauf spezialisiert, Erbmaterial zu entschlüsseln und zu interpretieren. Was ich herausfinden wolle, fragt Biskup mich, als wir uns in ihrem Tübinger Büro an einem großen Tisch mit verchromten Beinen gegenübersitzen. „Woran ich sterben werde“, sage ich und schäme mich für die theatralische Antwort. Biskups Gesicht bleibt ernst. „Ich schlage vor, wir machen erst mal eine Familienanamnese.“

Die Humangenetikerin nimmt ein DIN-A4-Papier, legt es quer vor sich auf den Tisch. Ob Verwandte an schweren Krankheiten gelitten hätten, fragt sie. Ich beginne die Leidensgeschichte meiner Familie rückwärts zu erzählen, soweit ich kann: Die Mutter meiner Mutter starb an Gebärmutterhalskrebs, Großvater ist Diabetiker, mein Onkel väterlicherseits starb mit Mitte 40 an akutem Herzversagen. Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals. Waren meine Vorfahren doch nicht so robust, wie ich sie immer empfand? Biskup malt einen Stammbaum aus Punkten und Linien auf das Blatt, kommentiert meine Aufzählung hin und wieder mit einem „Hmmh“. Als ich fertig bin, überfliegt sie das Ergebnis: „Die Anamnese deutet nicht auf schwerwiegende Erbkrankheiten hin.“ Der Kloß löst sich wieder.

Wenn ich genau wissen wolle, welche Risiken meine Gene für mich bereithalten, würde sie eine Panel-Sequenzierung empfehlen, sagt Biskup. Eine was, bitte? Bei einer Sequenzierung würden Humangenetiker meine 23 Chromosomenpaare auf ihre Bausteine Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin untersuchen, erklärt sie. Wenn die Abfolge dieser Basen vom normalen Muster eines DNA-Strangs abweicht, handelt es sich um eine Mutation. Im Gegensatz zur klassischen Gen-für-Gen-Analyse werden hierbei nur bestimmte Gengruppen, sogenannte Panels, ausgewählt. Jene, die ein konkretes Krankheitsbild wie etwa Tumore auslösen, wenn sie mutieren.

Eine Enzyklopädie des Todes

Der Autor, 32, wollte erfahren, woran er eines Tages mal sterben wird.
Der Autor, 32, wollte erfahren, woran er eines Tages mal sterben wird.

© Sophie Herwig

Für eine umfassende Panel-Sequenzierung müsse ich mit bis zu 2500 Euro rechnen, sagt Biskup. So viel wie ein dreiwöchiger Urlaub, ein neues Sofa, fast zwei Monate ohne Geldsorgen. Ich sage, dass ich es mir überlegen will. Als ich nach Hause fahre, ist nur eines haften geblieben: Meine Vorfahren scheinen mir nichts Bösartiges mitgegeben zu haben. 2500 Euro für noch mehr Gewissheit? Eher nicht.

Doch kurz darauf schreibt mir Biskup, dass die Bosch-Stiftung eine Studie in Auftrag gegeben hat, bei der die Probanden ihr Erbgut auf eine breite Palette von Panels untersuchen lassen können – kostenlos. Wenige Wochen später trete ich zum ersten Mal in Dr. Alschers Büro im Robert-Bosch-Krankenhaus: zur Vorbesprechung meines Gentests. Alscher, ein groß gewachsener, bereits leicht ergrauter Mann, lächelt freundlich, als er in seinem weißen Kittel auf mich zukommt. „Herr Niedermann“, sagt er, als hätte er mich seit Stunden erwartet, und weist auf einen von fünf Freischwingersesseln. Er geht um seinen Schreibtisch herum, holt einen Umschlag, setzt sich mir gegenüber und erklärt, was ich zur Studie wissen muss.

Sein Team versucht nachzuweisen, dass das Wissen um die genetischen Risiken bei den Studienteilnehmern eben doch dazu führt, dass sie ihren Lebensstil ändern. Und dass sich damit ihre Lebensqualität verbessert. Die Forscher untersuchen die Gene auf Krankheiten, die bei einem gesunden Lebenswandel früh bekämpft werden können, oder gar nicht erst ausbrechen. Deshalb beziehen sie in ihre Panels keine Leiden mit ein, gegen die Prävention nutzlos ist: die Nervenkrankheit Chorea Huntington oder Parkinson zum Beispiel. Diese Krankheiten werden meist von einem einzelnen mutierten Gen ausgelöst. Und sie müssten sich bei den Vorfahren der Probanden bemerkbar gemacht haben, was die Familienanamnese schon vor dem Gentest zeigen würde.

Dr. Alscher und sein Team sequenzieren deshalb nur 262 der über 20 000 Gene in meinen Zellen. Jene, die den Massenvernichtungswaffen des Körpers zugeordnet werden: den Tumor-, Leber-, Herz- und Gefäßerkrankungen, den Blutgerinnseln, den erhöhten Blutfettwerten und damit Herzinfarkten.

Der Gentest sei im Übrigen absolut anonym, sagt Alscher, nur er selbst habe Einsicht in die Personendaten. Sie würden 15 Jahre lang gespeichert, aber ausschließlich für wissenschaftliche Zwecke verwendet. Außerdem könne ich jederzeit aussteigen, falls ich die Diagnose nicht erhalten wolle. Die Rückmeldungen der meisten Probanden seien allerdings positiv gewesen. „Sie waren froh, um ihre gesundheitlichen Risiken zu wissen und reagieren zu können.“

Ich mache, was alle Hypochonder machen: googeln

Später erfahre ich: Bei 66 der 241 Getesteten entdeckten Alscher und sein Team genetische Veränderungen mit medizinischen Auswirkungen. Am häufigsten waren Thrombophilie-Mutationen, die die Blutgerinnung stören.

Ich nicke, überfliege das Informationsblatt und unterschreibe den Untersuchungsauftrag. Eine nette Arzthelferin zapft mir zwei Phiolen Blut ab und führt mich zurück ins Büro. Kurzer Händedruck, Alscher begleitet mich zur Tür. Die Analyse der Gen-Panels dauere vier bis acht Wochen, falls in der Zwischenzeit Fragen auftauchten, könne ich anrufen.

Als ich zu Hause bin, beginne ich die Studienunterlagen zu lesen. Darunter ist auch eine detaillierte Liste mit allen Genen, die sequenziert werden. Ich mache, was alle Hypochonder machen: googeln. Nach kurzer Zeit stoße ich auf einen Online-Katalog der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, der Gene in Zusammenhang mit möglichen Krankheitsbildern stellt. Eine Enzyklopädie des Todes.

Bereits bei AKT1, dem ersten Gen aus dem Panel, spüre ich wieder den Kloß im Hals. In der Beschreibung steht, dass eine der Mutationen auf diesem Gen mit dem Proteus-Syndrom in Verbindung gebracht wird. Ich schaue bei Wikipedia nach. Vom Bildschirm starrt ein Mann mit tumorverbeultem Schädel, die rechte Hand zum Klumpen angeschwollen, die Haut hängt ihm von den Knochen. Joseph Merrick, der „Elephant Man“, litt am Proteus-Syndrom. Er erstickte 1890 im Schlaf, als seine Halswirbelsäule durch das Gewicht des Kopfes einknickte. Mir schaudert.

Trifft alles auf mich zu

Ich muss mir ja nicht unbedingt die Tumorliste geben. Lieber Herz- und Gefäßerkrankungen. Jährlich erleiden 300 000 Deutsche einen Herzinfarkt, 80 000 einen Schlaganfall. Gefäßerkrankungen sind die häufigste Todesursache in unseren Breitengraden, Bluthochdruck gilt als Hauptursache. Der hämische Fingerzeig der Natur auf die lebenssüchtige Menschheit. Doch mit gesundem Lebenswandel und Bewegung kann man dem zumindest entgegenwirken.

Ich schließe die Augen und lege meinen Zeigefinger auf eine Stelle der Genliste: COL3A1. Im Katalog der Hopkins-Uni steht, dass COL3A1 die Information trägt, die die Zellen zur Herstellung des Proteins Kollagen anregt. Mutiert es, kann es Ursache für das Ehlers-Danlos-Syndrom sein. Wieder Wikipedia. Überdehnbarkeit der Haut, die Hände können hinterm Rücken gegeneinander gedrückt werden, häufiges Ausrenken etwa der Schulter.

Trifft alles auf mich zu. Ich kann meinen Daumen weit zurückbiegen, an den Wangen ist meine Haut auffällig dehnbar, und als ich früher Handball gespielt habe, ist mir die Schulter bei einem gegnerischen Schlag öfter aus der Pfanne gesprungen.

Die Forscher machen COL3A1 auch verantwortlich für eine Form des Ehlers-Danlos-Syndroms, bei der die inneren Gefäße betroffen sind. Dabei könnten sich meine Arterien erweitern und instabil werden, eine Hauptschlagader könnte sich spontan aufspalten und sogar platzen, was lebensbedrohlich wäre. Mir ist schlecht.

Auch Pech spielt eine große Rolle

Getestet. Die Aussagekraft unserer Gene ist begrenzt. Viele Mutationen hängen von Umweltfaktoren ab.
Getestet. Die Aussagekraft unserer Gene ist begrenzt. Viele Mutationen hängen von Umweltfaktoren ab.

© pa/Sven Hoppe/dpa

Ich lege die Genliste weg. Meine Zuversicht ist verflogen. Ich sage mir erneut, dass ich nie ernste gesundheitliche Probleme hatte, dass ich doch gesund bin. Trotzdem fühle ich mich krank. Ich bin mir jetzt sicher, dass bei der Gensequenzierung eine mittlere Katastrophe ans Licht kommt. Ich muss raus. Wenig später sitze ich mit Freunden im Freien und trinke Wein. Schließlich weht der Alkohol Nebel über die düsteren Vorahnungen.

Bis zum nächsten Tag. In den folgenden Wochen lese ich alles, was ich zur genetischen Diagnostik finde. Einträge in Selbsthilfeforen für genetisch Erkrankte, Fachliteratur. Irgendwann stoße ich auf den Sozialwissenschaftler Thomas Lemke. Der hellt meine Stimmung wieder auf.

Lemke beschreibt die Gengläubigkeit der Gesellschaft: Die Annahme, unser Erbgut würde alles medizinische Übel vorausbestimmen, ist heute weit verbreitet. Doch steht die Aussagekraft unserer Gene hinter diesen Erwartungen weit zurück. Als Beispiel dafür nennt Lemke Brustkrebs und die tumorunterdrückenden Gene BRCA1 und 2. Ihre Aufgabe ist es, die Zelle vor ungebremster Vermehrung zu schützen.

2013 wurden sie weltweit bekannt, weil Hollywood-Star Angelina Jolie sich die Brüste amputieren ließ. Sie trägt eine Mutation auf dem BRCA1-Gen, und ihre Mutter war mit 56 an Brustkrebs gestorben. In der Folge ließen sich auch in Deutschland viele Frauen auf ihr Risiko testen. Heute weiß man, dass nur fünf bis maximal zehn Prozent aller Brustkrebs-Patientinnen ein mutiertes BRCA-Gen haben. Die Mehrheit von solchen Tumoren entsteht wegen Umweltfaktoren wie Hormonen im Trinkwasser, Schadstoffen in Lebensmitteln oder schädlichen Bedingungen am Arbeitsplatz. Krebsgenetiker konnten zudem nachweisen, dass auch Pech eine große Rolle spielt. Viele Mutationen ergeben sich durch zufällige Fehler bei der Vervielfältigung von Stammzellen.

Und selbst wenn jemand ein mutiertes BRCA-Gen vererbt bekommen hat, sind am Ausbruch der Krankheit meist Umweltbedingungen beteiligt. Ererbt liegt in den Zellen nur eine veränderte Kopie des Gens vor. An sich reicht die zweite vom anderen Elternteil als eine Art Sicherheitskopie aus. Erst wenn dieses Back-Up mutiert, kommt das Gen seiner Aufgabe nicht mehr nach: Die Körperzelle kann zu einer Tumorzelle wuchern.

Frauen (oder Männer), die ein defektes BRCA-Gen tragen, müssen also nicht zwingend an Brustkrebs erkranken. Umgekehrt kann ein Test auch negativ ausfallen und jemand dennoch erkranken.

Er könnte die Genfehler an seine Tochter weitergegeben haben

War die Besorgnis der vergangenen Wochen umsonst? Meine Vorstellung, dass im Erbgut unser ganzes Leben bis zu seinem Ende codiert ist, dass wir Sklaven unserer Gene sind, hat Lemke jedenfalls pulverisiert. Glaubt man ihm, so kann Dr. Alscher diagnostizieren, was er will – im Endeffekt entscheiden weniger meine Chromosomen über Leiden und Tod, als viel mehr Schadstoffe in meiner Umwelt, die ich nur zum Teil vermeiden kann.

Trotzdem will ich wissen, was mich beim Diagnosegespräch erwartet. Ich frage einen Probanden, der seinen Befund schon erhalten hat. Anton Wellbar, der eigentlich anders heißt, hat wegen eines Verdachts bei der Studie mitgemacht. Seine Cousine, erklärt er mir am Telefon, erkrankte vor einem Jahr an Brustkrebs. Seither fragte er sich, ob er seiner fünfjährigen Tochter eine Genmutation vererbt hat, die sie anfällig macht. Mit der Diagnose erhielt er im August die Bestätigung: Er hat eine Mutation auf dem PALB2-Gen, also ein erhöhtes Risiko für Brust- und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Genfehler könnte Wellbar an seine Tochter weitergegeben haben, die Chancen stehen 50:50. Er erschrak. Dr. Alscher erklärte ihm, es gebe in Deutschland rund 10 000 Menschen mit seinem Genbild, davon erkrankten drei bis zehn pro Jahr an Brustkrebs. „Die Wahrscheinlichkeit ist gering. Man hofft, dass die Tochter gesund durchs Leben geht“, sagt Wellbar. Die Angst um sie kommt immer wieder hoch.

Beim Bauchspeicheldrüsenkrebs ist das Risiko noch geringer. Drei bis fünf Fälle pro Jahr. Doch wenn der Krebs einmal ausgebrochen ist, stehen die Chancen schlecht. Die Lebenserwartung bei nicht operablen Geschwüren beträgt nach der Diagnose höchstens fünf Monate. „Dann wird es kurz und knackig“, sagt Wellbar. Macht ihm das Angst? Nein. Ursprünglich hatte er damit gerechnet, dass die Diagnose ihn noch einholen würde in den Monaten nach dem Befund. Doch es geschah nichts. „Ich bin keiner, der wegen sowas sein Leben umstülpt und nur noch an seine Restlaufzeit denkt.“

Kurz vor der Diagnose zweifle ich

Nach dem Telefonat komme ich ins Grübeln. Klar, die Wahrscheinlichkeiten sind gering. Aber immerhin. Mich würde Wellbars Diagnose nicht kalt lassen.

Ich ging einfach davon aus, dass mir nie was richtig Hartes zustoßen würde. Da sagt es sich leicht, dass man lieber wissen als überrascht werden will. Doch jetzt, wo meine Diagnose bevorsteht, zweifle ich. „Kurz und knackig“? Verdammt! Ich sehe schon das Krankenzimmerweiß, mit einem aschfahlen Ich im Bett und Abschiedstränen und Rotz und dem letzten biep-biep-biiiiiiiiiep. Ich will nicht in Angst leben. Andererseits kann ich jetzt keinen Rückzieher mehr machen: Wenn die Blackbox meines Gencodes geschlossen bleibt, lässt mich das nie wieder los.

Die Panik kommt per Mail. Acht Wochen sind vergangen seit meinem Gespräch mit Dr. Alscher und der Blutabnahme. Seine Sekretärin schreibt mir, dass die Ergebnisse eingetroffen seien. Noch während ich lese, spüre ich, wie mein Herz schwer zu pumpen beginnt.

Schließlich sitze ich wieder vor Alschers Büro. Unter mir der blaue PVC, in mir dunkelschwarze Vorahnungen. Die Tür geht auf. „So, Sie dürfen dann.“ Dein Moment ist gekommen, heimtückischer Körper. Dr. Alscher steht von seinem Schreibtisch auf, als ich eintrete. Er nimmt einen Stapel Blätter vom Tisch und setzt sich mir gegenüber auf einen der Freischwinger.

Ich starre in sein Gesicht, versuche seine Mimik zu lesen. Chancenlos. Ernst guckt er mich an, bevor er die Blätter überfliegt. „Herr Niedermann, zunächst habe ich eine sehr gute Nachricht für Sie.“ Pause. „Im Bereich Tumorerkrankungen haben Sie kein erhöhtes genetisches Risiko.“ Kurze Freude. Doch dann: „Zunächst“, hat er gesagt.

Jetzt eine Zigarette!

Alscher geht die Liste mit den Genpanels durch. Herz- und Gefäßkrankheiten – „kein erhöhtes genetisches Risiko“, Panel Thrombose – „auch kein erhöhtes Risiko“. Das waren die drei harten Brocken. Was noch kommt, ist zwar unangenehm, aber weniger furchteinflößend.

Lebererkrankungen – „kein erhöhtes Risiko“, Gene, die den Cholesterinspiegel hoch treiben, die Gefäße schädigen können – „auch unverändert“. Selbst die Chromosomenbereiche, die Grünen Star auslösen, seien nicht mutiert, sagt Alscher. Die einzige Auffälligkeit sei eine Genvariante, die den Körper hemme, gewisse cholesterinspiegelsenkende Arzneimittel abzubauen. „Ansonsten sind Sie genetisch gesehen ein gesunder Mensch.“ Dann redet er was von Lebenswandel und Wahrscheinlichkeitsräumen.

Ich höre gar nicht mehr richtig hin. „Ein genetisch gesunder Mensch“ hat er gesagt. Ich schlendere durch die Gänge des Krankenhauses zum Ausgang. Weg ist die Angst. Die Sorgen, die ich mir gemacht habe, wirken plötzlich lächerlich. Meine Linke wandert zur Hosentasche. Jetzt eine Zigarette! Als ich sie schon zu meinen Lippen führe, muss ich daran denken, was Lemke geschrieben hat.

Was soll ich mit der Information, dass ich genetisch gesund bin? Die einzige Schlussfolgerung, die ich daraus ziehen kann, ist, dass ich höchstens selbst Schuld habe, wenn ich mir eine dieser üblen Krankheiten einhandle. Da wär’s mir lieber, ich könnte die Verantwortung meinen Vorfahren zuschieben. Ich lasse die Funken meines Feuerzeugs sprühen, halte die Flamme an die Zigarette und sauge die Glut so tief in den trockenen Tabak hinein, dass es knistert.

Florian Niedermann

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