zum Hauptinhalt
Naser Kassem zupft bei einem Kunden die Augenbrauen raus.

© Amac Garbe

Erfolgreiche Flüchtlingsgeschichte: Der Barbier von Hoyerswerda

Er hat Sachen drauf, die sonst keiner kann: Naser Kassem bearbeitet seine Kunden mit Faden, Feuerzeug und scharfer Klinge. Wie ein Flüchtling in Sachsen auftrumpft.

Minister saßen bei Naser Kassem im Stuhl, ein Dutzend Lehrlinge hat er ausgebildet, in seinem Salon in Sour, Südlibanon. Und dann, in seinen ersten Arbeitswochen in Hoyerswerda, kehrte der 40-Jährige wieder den ganzen Tag lang Haare zu Häufchen, blies mit dem Fön die Lehnen der Frisierstühle sauber und servierte Kunden den falschen Kaffee, weil er zwar „Milch“ verstanden hatte, nicht aber das „ohne“ davor.

Wie ein übereifriger Schülerpraktikant hatte er gewirkt – bis sich in der Stadt herumsprach, was er kann.

Eine Frau betritt nun den Salon „Haar Schneider“. Dass es hier einen Barbier gibt, hat sie in der Lokalzeitung gelesen. „Fand ich schon im Ägyptenurlaub faszinierend“, sagt sie und meint: Gesichtshaar entfernen auf orientalisch, mit Faden, Wachs, Feuer. Sie hat den Termin für ihre Söhne arrangiert, Stefan heiratet morgen, Sebastian ist Trauzeuge. „Das geht auf mich“, verkündet sie feierlich.

Mit der Spiegelreflexkamera knipst sie drauf los, als Kassem mit Feuerzeugtippsern die Ohrläppchen vom Flaum befreit und die fiese Note versengten Haars sich im Wohlgeruch der Waschlotionen auflöst.

Als seine Finger den Nähfaden zur Schlinge drehen, mit der er ruckartig die Härchen von der Stirn zupft. Als er die scharfe Rasiermesserklinge im 30-Grad- Winkel über die eingepinselte Wange zieht – einmal mit, einmal gegen den Strich. „Wie ein Kinderpopo!“, sagt die Mutter, als sie Stefans Haut streichelt.

„Der ungepflegte Vollbart ist ziemlich abgemeldet“, erklärt eine Kollegin von Naser Kassem. Dank ihm lebt das Handwerk klassischer Herrenfriseure nun auch in Hoyerswerda wieder auf. Er ist der einzige Barbier der Stadt, vermutlich sogar im gesamten Landkreis, wo der Ausländeranteil ein Prozent beträgt.

20 Euro Bakschisch

„Mein Rasierer hat fünf Klingen und schafft das nie so glatt“, sagt ein Kunde. „Mit dem Feuerzeug auf Kunden losgehen, traut sich keine von uns“, sagt Stylistin Sina. „Die Konturen der Augenbrauen mit dem Faden herauszuarbeiten, kriegt er übelst gut hin.“ Gestern hat Kassem 20 Euro Trinkgeld bekommen. „Bakschisch“, erzählt er stolz.

Bärte hat er gebändigt, da spross ihm noch kein Haar am Kinn. Zwölf war er, da wurde die Schule im Bürgerkrieg ausgebombt, der kranke Vater konnte die Familie nicht mehr ernähren, und nebenan im Salon suchte der Besitzer Friseure.

Schwarz und dicht waren die Haare der Kunden im Libanon, hell, dünn und spärlich sind sie in Hoyerswerda.

Demnächst wird über den Antrag entschieden

Am Silvestertag 2013, nach einer zwei Wochen und 3600 Kilometern langen Flucht, erreichten die Kassems Deutschland. Nasers Frau ist Palästinenserin, im Libanon wird sie diskriminiert und findet keine Arbeit. Die Tochter hat eine Sprachbehinderung und braucht medizinische Hilfe.

In Sachsen entscheidet demnächst ein Gericht über ihren Antrag auf Asyl. Das Land brachte die Familie im Februar 2014 in Hoyerswerda unter.

Ein Heim. Trinken, Rauchen, Al-Jazeera gucken – das war nichts für Kassem, lieber hat er Fahrräder repariert oder die anderen Heimbewohner frisiert. Sein Freund Walid sagt: „Naser braucht immer was zu tun.“

Beim Schneiden im Waschraum des Heims tauschten sie sich über den Stand ihrer Asylverfahren aus. „Zweite Anhörung, Februar“, hat Naser ihm erzählt.

Die Kunden im Salon unterhält er, indem er das Rasiermesser zähneklappernd an seine Kehle hält oder es schwingt wie ein Butterfly – worüber Männer eben lachen. Worte verliert er kaum, Deutsch fällt ihm schwer. Aber er lernt. „Meine Kolleginnen reden viel“, sagt Naser Kassem. „Ist gut für mein Deutsch.“

Im Libanon wurden Männer von Männern frisiert. Nun arbeitet er mit Lisa, Jacqueline, Sindy: Tätowierte Oberarme und Ohrringe groß wie Armreifen, dazwischen Naser mit seinen schmalen Schultern.

Wie eine normale Bürgerin der Familie half

Glatt wie ein Baby-Popo, wenn der Libanese barbiert.
Glatt wie ein Baby-Popo, wenn der Libanese barbiert.

© Amac Garbe

Eine Siedlung in der ausrinnenden Altstadt. Karnickel im Vorgarten, Erdbeertorte auf dem Couchtisch. Carmen Beyer, das sagt sie offen, war skeptisch, als Anfang 2014 das Asylbewerberheim in Hoyerswerda öffnen sollte.

Nicht aus Angst vor Ausländern. Aus Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. September 1991, der Mob, die Brandsätze, das Jubelspalier für die Busse, die Flüchtlinge und Vertragsarbeiter aus der Stadt evakuierten.

Vor der Heimöffnung rief der Bürgermeister zum Infoabend. Ein Anwohner sah den Wert seines Hauses bedroht. Einer schlug vor, das Heim besser außerhalb der Stadt zu bauen. Die Flüchtlinge könnten in ihren Garten gucken, fürchtete eine Frau. „Ich habe so viel Schwachsinn gehört“, erzählt Carmen, „dass ich mir sagte: Hilft nüscht, du musst dich engagieren.“

Forellen grillen im Garten

Das Bürgerbündnis „Hoyerswerda hilft mit Herz“ gibt im Heim Deutschstunden, organisiert Spielgruppen für die Kinder. Dort lernte Carmen zwei kleine Mädchen der Kassems, einer Familie aus dem Libanon, kennen.

Der Vater, erfuhr sie, hatte seinen Haarsalon verkauft, um die Schleuser zu bezahlen. Sie lud die Familie in ihren Garten ein, grillte Forellen. Gemeinsam gingen sie auf das Stadtfest, dort starrten die Leute Yasmin mit ihrem Kopftuch wie eine Außerirdische an.

Als Yasmin Kassem wieder schwanger wurde, dachte Carmen Beyer: Jetzt muss eine Wohnung her! Die Frau mit der feuerroten Mähne war bald gut bekannt bei Ausländerbehörde, Wohnungsgenossenschaft und im Landratsamt. Im Januar zogen die Kassems um. Ins Wohnzimmerregal stellten sie ein gerahmtes Foto von Carmen. Sie musste fast heulen, als sie das Bild sah.

Frisches Handtuch auf jeder Toilette

Eine Gasse am Marktplatz von Hoyerswerda führt zum Salon von Herrn Schneider. Die Friseurinnen tragen Schwarz und im Ohr Knöpfe. „Peggy, haben wir noch Promos von S-Factor?“, funkt es aus der „colour lounge“ nach vorn. Im Herrensalon mannshohe Spiegel, in der Sofaecke „GQ“ und „Playboy“, auf der Toilette ein frisches Handtuch für jeden Gast. „Darf ich Ihnen die Jacke abnehmen?“, fragen die Frauen am Empfang. Heiko Schneider, der Chef, hat sie aus dem Gastgewerbe geholt. „Sie bringen mehr Serviceerfahrung mit“, findet er.

So kennt man ihn in der Region: als einen Macher. Er hält Workshops ab – „Die richtigen Mitarbeiter finden. Neue Wege, neue Ideen“.

Statt mit seinem Salonkonzept einer von vielen in Berlin oder Dresden zu werden, blieb er in der Heimat und lockt Talente her: mit Weiterbildungen in Wien oder London und 2500 Euro brutto, stattlich in dieser Branche.

„Ich sage meinen Mitarbeitern immer: Wir wollen in der Bundesliga mitspielen.“ Kürzlich gewann er den Top-Salon- Award, eine begehrte Trophäe im Friseurhandwerk, Kategorie „Arbeitgeber des Jahres“.

Dramatisch im Heim

Als Carmen Beyer nach einem Praktikum für Naser Kassem fragte, sagte Schneider direkt zu. Kurz darauf besuchte er die Kassems, die damals noch im Heim lebten. „War dramatisch“, sagt er. Das enge Zimmer, der Lärm in den Gängen, die Sirene an der Wand, die in mancher Nacht alle aus den Träumen holt.

„Gruselig“, fand er den ARD-Bericht im November, in dem sich Hoyerswerdaer zum Heim äußerten. Ein junger Typ, Zahnlücke, Schädel rasiert, sagte: „Die ganzen asozialen Hunde nehmen uns die Arbeit weg.“ Schneider, der soziale Kerl, stellte Kassem im Februar fest an.

Naser weiß nun wieder, was das ist: Feierabend. 15 Uhr, Jacke schnappen, die Mädchen warten in der Kita. Sein Weg führt von der herausgeputzten Altstadt in Hoyerswerdas realsozialistische Vergangenheit. Die Neustadt.

Ab den 1950er Jahren wuchsen hier Wohntürme für die Kumpel des Kohlekombinats „Schwarze Pumpe“ in den verrußten Himmel. Seit der Wende sind die Öfen aus, Menschen und Wohnzeilen verschwinden, Utopia wird zurückgebaut. Hoyerswerda hat nur noch die Hälfte der 70 000 Einwohner und ist Deutschlands am schnellsten schrumpfende Stadt.

Vom Hof der Kita stürmen Acil und Saly auf ihren Vater zu, fünf und sieben Jahre alt, dunkle Locken und Hello-Kitty- Taschen. „Baba!“, rufen sie aus einer Kehle. Und: „Warte auf mich, Alter!“ – „Was soll das, Mann?“ Sie haben schnell Deutsch gelernt. Alle gehen zur Mama und dem Baby. Noch eine Tochter. Ihr Name: Sjoud. Geburtsort: Hoyerswerda.

Halal Fleisch aus Berlin

Halt der Buslinie 3, ein Wohnblock am grünen Rand der Stadt. Die Nachbarn heißen Herrmann, Schöne, Westphal – und Kassem. Im Ofen schmort Lamm mit Blumenkohl. Das Fleisch brachte der Familienvater neulich aus Berlin mit, halal gibt es nicht in Hoyerswerda.

Yasmin sagt, Naser sei ein zufriedener Mann, seit er wieder arbeiten kann. Ob sie selbst glücklich ist? Sie blickt auf den Teppich herunter. „Manche Leute haben schlecht geschaut, weil ich ein Kopftuch trage.“ Naser sagt: „Im Libanon haben wir vier Millionen Einwohner und eine Million syrische Flüchtlinge. Hier regen sich die Leute wegen viel weniger auf.“

Er erzählt von den Männern, die aus einem fahrenden Auto heraus eine Bierflasche nach Yasmin und den Kindern warfen. Acil stürzte vor Schreck und musste ins Krankenhaus.

Von den zwei Betrunkenen, die Yasmin und ihn vor dem Discounter bedrängten. Von den „Nassis“ vergangene Woche, die ihn fast vom Fahrrad gezerrt hätten.

Seine Familie habe sich eingelebt in der Stadt, sagt er. „Wir sind nicht mal anderthalb Jahre hier, ich arbeite, wir haben eine Wohnung, die Mädchen sind im Kindergarten.“ Aber, fährt er fort, ohne seine neuen Freunde, ohne Carmen oder seinen Chef „würden wir wegziehen“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false