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Erinnerungen an die Gegenwart: Hymne auf den letzten Dandy von Berlin

Gerade hat mein Professor seine umwerfenden Memoiren veröffentlicht – Andrzej Wirth, „Flucht nach vorn“, Pflichtlektüre für jeden Theatermenschen! Aber für mich gibt es ohnehin keinen Tag, an dem ich nicht an Professor Wirth, den Brecht-Schüler, denke.

Jedes Mal, wenn ich die Tür zu meiner Wohnung aufschließe, schaue ich auf ein Messingschild: DAMEN. Früher hat Wirth meine Wohnung gehört. Vieles habe ich verändert, aber DAMEN habe ich gelassen. Manchmal klopfe ich selbst bei mir an und stelle mir vor, ich sei eine Frau, die den Professor besucht. Er öffnet die Tür und ergreift sofort elegant meine Hand zum Kuss, das kann keiner so gut wie Professor Wirth, er ist nicht nur der Wegbereiter des postdramatischen Theaters, sondern auch der letzte wahre Dandy von Berlin.

Vielleicht hat man so noch Anfang des 20. Jahrhunderts in Wlodawa, östlich von Warschau, die Hand geküsst, wo Andrzej Wirth als Kind auf dem Anwesen seines Großvaters den Landadel beobachtet haben muss. Ich stelle mir vor, dass mein Professor in einem Tschechow-Stück großgeworden ist mit sehnsüchtigen Frauen und unruhigen Männern, die große Reden auf Polen hielten und noble Handküsse verteilten.

Professor Wirth schließt also die Tür, nimmt mir meinen Mantel ab und zeigt mir Bilder im Flur: persönlich zugeeignete Zeichnungen von Günter Grass, Skizzen von Robert Wilson, dann führt er mich in den Salon, bittet mich auf seiner Chaiselongue Platz zu nehmen mit Blick auf das Charlottenburger Schloss. Er weist auf die vergoldete Fortuna über der Turmkuppel hin, die Schicksalsgöttin, die auf einem Kugellager steht, sich je nach Wind kaum bemerkbar dreht und deren erhobene Hand ihn bei Nordwind an den Führergruß Adolf Hitlers erinnert.

„Bei Nordwind und dieser Stellung der Fortuna geht der polnische Emigrant nie aus dem Haus“, erklärt er. „Sehen Sie! Heute ist Nordwind und sie grüßt, wir müssen auf der Chaiselongue bleiben …“ Professor Wirth hat immer seine polnische Biografie zu Hilfe genommen, wenn es darum ging, die Frauen zu zelebrieren.

Einmal habe ich ihn in seiner neuen Wohnung überrascht, er ließ gerade Zwillingsschwestern mit den Namen Ariane und Nadja in der maßgeschneiderten polnischen Uniform seines Vaters in Öl malen. Sein Vater hatte 1944 an der berühmten Schlacht um Monte Cassino teilgenommen, wo er aus dem Exil aufseiten der Alliierten gegen die Deutschen kämpfte. Ich werde diesen Anblick nie vergessen: Ariane in der Monte-Cassino-Uniform im Visier des Malers, mein Professor im weißen Leinenanzug mit Nadja auf der Chaiselongue, dabei erzählte er, dass sein Förderer Walter Höllerer, Gründer des Literarischen Colloquiums Berlin, berichtet habe, er sei auch in der Schlacht von Monte Cassino gewesen und hätte die Funksprüche des Feindes abgehört. „Einer von ihnen war mein Vater!“, habe dann Wirth zu Höllerer gesagt.

Was für irre verwickelte Geschichten!

Natürlich erzähle ich heute meinem DAMEN-Besuch, wer schon alles in dieser Wohnung war: zuerst, klar, Andrzej Wirth, dann Walter Höllerer, Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki, Robert Wilson, Karol Wojtyla, also der Papst Johannes Paul II.

„Der auch?! Wie ist denn der in den 4. Stock gekommen ohne Fahrstuhl?“, wird dann aufgeregt gefragt. „Weiß ich nicht, mit dem Heiligen Geist?“, antworte ich selbstverständlich. „Mein Professor und der Papst waren Jugendfreunde, der Papst wollte auch Theaterstücke schreiben.“

Man kann sagen, dass ich mit jeder Frau, die in meine Wohnung gekommen war, über den Papst sprach. Und dass dies jede irgendwie überzeugt hat, habe ich meinem Professor zu verdanken!

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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