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Simone Moro ist der Einzige, der vier Achttausender erstmals in der kältesten Jahreszeit bezwungen hat.

© Cory Richards/The North Face

Extrembergsteiger Simone Moro im Interview: „Dann bin ich eben der blöde Ausländer“

Simone Moro besteigt die höchsten Gipfel der Welt im Winter. Denn er will ein Pionier sein. Über Romantiker, harte Osteuropäer und wen er am Everest einen Hurensohn nannte.

Herr Moro, Sie sind als Bergsteiger weniger durch ein Gipfelfoto berühmt geworden als dadurch, dass eine Gruppe aufgebrachter Sherpas Sie 2013 am Mount Everest fast erschlagen hätte. Man sieht Sie auf einem Video von Männern umringt kniend um Verzeihung bitten.

Und alles nur, weil ich einen Sherpa-Führer tags zuvor auf 7300 Metern angeschrien hatte. Mein Klettergefährte Ueli Steck und ich waren sehr früh in der Saison am Everest unterwegs gewesen, gleichzeitig mit den Sherpas, die begannen, Fixseile für ihre Kunden einzurichten. Wir hielten uns 50 Meter abseits von dem Arbeitstrupp, um ihn nicht zu behindern.

Es heißt, Sie hätten die Anweisungen der Sherpas ignoriert, den Aufstieg abzubrechen.

Wir sagten ihnen, dass wir sie nicht stören würden. Trotzdem müssen wir die Ehre ihres Anführers verletzt haben, als wir in drei Stunden eine Strecke bewältigten, für die sie eine Woche Plackerei benötigt hatten. Als wir auf dem Weg zu unserem Zelt ihren Weg kreuzten, lamentierten sie, dass niemand außer ihnen selbst zu der Zeit am Berg sein dürfe und dass wir verschwinden sollten. Der Anführer versuchte sogar, Ueli aus der Wand zu schubsen, so dass der sich an dem Mann festhalten musste, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Der Mann rief: „Warum fasst du mich an? Fass mich nicht an!“ „Aber ich will ja gar nicht“, erwiderte Ueli. „Ich will nur vorbei.“ Da schrie ich den Sherpa auf Nepalesisch an, was zum Teufel er da mache! Ich benutzte ein Schimpfwort, das so viel heißt wie Hurensohn. Sie hörten mit der Arbeit auf und stiegen sofort ab. Und im Basislager erzählten sie dann, dass Simone Moro gesagt habe, alle Sherpas seien Motherfucker.

Der Vorfall gilt als bizarres Beispiel für das Konfliktpotenzial an dem „manischen Berg“.

Die Sherpas trommelten mehr als 100 Träger und Bergführer zusammen, die uns auflauerten. Als wir ins Lager kamen, gingen sie auf uns los. Wie sich später herausstellte, waren die Sherpas von einem einzigen, beleidigten 22-jährigen Kerl aufgewiegelt worden, der angeblich in seinem Dorf bereits Probleme bekommen und wiederholt im Gefängnis gesessen hatte. Aber statt die Sherpas weiter gegen mich aufzubringen, akzeptierte ich, der blöde Ausländer zu sein. Wenn es zu einer Schlägerei kommt, haben sowieso alle Beteiligten Schuld.

Ein Vorwurf lautete, dass Sie den Everest als Lebensgrundlage ebenso sehr benötigen wie die Sherpas. Nur würden Sie sich über sie erheben. Sind Sie ein konfrontativer Typ?

In meinem ganzen Leben habe ich nur einmal Streit gesucht. Mit sechs Jahren, in der Grundschule, als ich mich mit einem Jungen namens Diego prügelte. Das war so schockierend, dass ich noch am selben Nachmittag mehrere Kilometer zu ihm nach Hause lief, um mich zu entschuldigen.

Anders gefragt: Brauchen Sie Konkurrenz?

Das wäre doch idiotisch. Wenn es so wäre, hätte ich bei meinen Touren mehr riskiert. Aber wofür? Denken Sie an Ueli Steck. Er war ein vollkommener Bergsteiger, der beste seiner Generation. Aber er war doch stets sehr auf seine Performance bedacht. Nachdem er so viele Rekorde gebrochen hatte, erwarteten die Menschen immer neue Höchstleistungen von ihm, und er ging immer an die Grenze. Durch so etwas kann man Geld verdienen, allerdings ist es verflucht gefährlich. Wie konnte er sonst an einer Stelle abstürzen, die ihm technisch und mental überhaupt keine Mühe bereitet haben dürfte?

Sie meinen, die eigentliche Gefahr für einen Bergsteiger besteht darin, sich als Außenseiter betrachten zu müssen?

Ja. Ich bin oft als Verlierer heimgekehrt, wenn Sie so wollen, weil ich mein Ziel nicht erreichte. Meiner Familie zuliebe bin ich nicht weitergegangen. Von Riccardo Cassin, dem besten Kletterer der 30er und 40er Jahre, habe ich eine wichtige Lektion gelernt. Hochbetagt sagte er mir einmal, dass es nicht schwer sei, ein starker Bergsteiger zu sein. Schwer sei nur, ein starker alter Bergsteiger zu werden. Er starb mit 101 Jahren.

Ihnen eilt der Ruf des „Winter Maestro“ voraus.

Ich habe 56 Expeditionen unternommen, 15 davon in der Winterzeit ...

... die im Himalaja am 20. Dezember beginnt und bis zum 20. März anhält.

Da ich alle möglichen Techniken und Ansätze ausprobiert habe, mit und ohne Sauerstoff, gegen die Uhr, solo und im Team, weiß ich, dass der Winteralpinismus bei weitem am schwierigsten ist.

"Die Lawine riss mich 800 Meter mit in die Tiefe"

Im Februar 2016 gelang Moro die erste Winterbesteigung des Nanga Parbat im Westhimalaya.
Im Februar 2016 gelang Moro die erste Winterbesteigung des Nanga Parbat im Westhimalaya.

© Olivier Matthys/EPA/dpa

Als die ersten Achttausender vor 65 Jahren bestiegen wurden, war es undenkbar, sich der Todeszone im Winter auszusetzen. Was ist heute anders?

Zunächst einmal musste jemand den Winteralpinismus erfinden. In Polen gab es in den 80er Jahren ein paar Anhänger davon. Nachdem Krzysztof Wielicki 1988 im Winter allein auf den Lhotse gestiegen war, allein sogar, passierte 17 Jahre lang nichts mehr. Bis dieser verrückte Italiener aufkreuzte mit nichts, was ihn für die extreme Kälte prädestiniert hätte, denn Italien ist, wie Sie wissen, das Land der Sonne. Ich hauchte einer Idee neues Leben ein, die sich als machbar erwiesen hatte. Aber sie ist ein exklusives, auf wenige fähige Bergsteiger beschränktes Vergnügen geblieben.

Es muss furchteinflößend sein, in der kältesten Jahreszeit am Fuß eines Achttausenders zu stehen. Seine Hänge voller Schnee und über die Grate pfeift der Wind. Sagt Ihnen dieser Anblick nicht, dass Sie lieber verduften sollten?

Ich habe tatsächlich Leute vom Basislager abhauen sehen. Mich konnte das nicht schockieren. Ich erwartete Kälte, und es war extrem kalt. Ich erwartete Einsamkeit und fand sie. Auch Reinhold Messner hatte zwei Winterbesteigungen im Himalaja versucht. Ich wusste also, wenn selbst mein Idol, das auf beinahe jedem Gebiet neue Maßstäbe gesetzt hat, an dieser Aufgabe gescheitert war, musste sie wirklich hart sein. Sie können sich nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, im Winter 1997 am Annapurna zu begreifen, warum nur kompromisslose, starke Bergsteiger aus Osteuropa in der Lage gewesen waren, so sehr zu leiden.

Sie verloren aber mit Anatoli Bukrejew ihren Mentor. Er wurde 1997 von einer Lawine verschüttet.

Ja, das war absolut niederschmetternd. Die Lawine riss auch mich 800 Meter mit in die Tiefe. Ich brauchte all meine Kraft, um zu überleben. Ich stand erst am Anfang meines Traums. Einen Gipfelerfolg, der mir Bestätigung hätte geben können, hatte ich nicht. Zu Hause war ich sehr unsicher, ob ich weitermachen sollte.

Ihre größten Leistungen haben Sie erst mit mehr als 40 erreicht, wenn der Körper schon eifrig abbaut.

Es überrascht mich selbst, dass ich so fit bin. Ich könnte eigentlich entspannter sein, hier eine Salami mehr, da ein Glas Wein. Doch jeden Tag überprüfe ich mein Gewicht, mache Übungen an meiner Kletterwand. Heute habe ich zwei Mal 1500 Höhenmeter absolviert, auf Ski. Ich weiß, dass ich mich maximal noch vier bis fünf Jahre auf diesem Niveau halten kann.

Sie genießen das Leiden?

Mein erster Achttausender-Gipfel im Winter vor 14 Jahren war für mich die Erfüllung eines Lebenstraums. Ich hätte eigentlich aufhören können. Doch ich fragte mich, ob ich einen zweiten schaffen würde. Als ich den dritten bestiegen hatte, war ich meinem Vorbild, dem polnischen Winterspezialisten Krzysztof Wielicki, ebenbürtig. Was hätte ich da tun sollen? Zufrieden sein? Oder doch lieber alles aufs Spiel setzen?

Ihre Antwort kann man sich denken.

Ich nahm es mit einem Giganten auf. Was seine Ausmaße betrifft, ist der Nanga Parbat ein Everest mit einem Everest obendrauf. Der Höhenunterschied von 4500 Metern vom Basislager bis zum Gipfel entspricht etwa dem Doppelten der Everest-Distanz. Seit 30 Jahren versuchten Bergsteiger, den Gipfel im Winter zu erreichen. Ich musste mich beeilen. Nanga Parbat und K2 waren zu der Zeit die beiden letzten im Winter noch unbewältigten Achttausender. Man kann schwierige Gipfel machen oder historische.

Kommt es wirklich auf den Unterschied an?

Auf einen Berg zu klettern, ist doch blödsinnig. Es ändert an der Art, wie wir auf diesem Planeten leben, gar nichts. Wenn ein Aufstieg aber die Geschichte einer Pioniertat bekommt, fühlen sich Leute davon inspiriert, die niemals in ihrem Leben auf Berge klettern werden. Ich könnte also einen Medizinstudenten motivieren, ein besserer Arzt zu werden.

Bergsteiger sammeln heute Achttausender als wäre das nichts.

Das meine ich doch. Es gibt etwa 50 Menschen auf der Welt, die alle 14 bestiegen haben. Soll ich mich da auch noch in die Schlange am Everest einreihen und neben 100 anderen in den Schnee pinkeln? Ich will Neues entdecken.

"Du bist in Gefahr, bevor du sie siehst"

Die Südtirolerin Tamara Lunger ist Moros neue Seilpartnerin.
Die Südtirolerin Tamara Lunger ist Moros neue Seilpartnerin.

© imago/Italy Photo Press

Sie nennen Ihren Stil „Explorativer Alpinismus“. Klingt hochtrabend.

Mein Großvater kam aus einer Familie mit zehn Kindern, meine Großmutter entstammte ebenfalls armen, kinderreichen Verhältnissen. Das hat beide hart und unerschütterlich gemacht. Wir bringen diese Härte heute nicht mehr auf. In der Zeitung lesen wir von „arktischen Temperaturen“, wenn das Thermometer auf minus fünf Grad fällt, so sehr sind uns die Maßstäbe verrutscht. Wir werden immer schwächer in unserer Abwehr äußerer Gefahren. Dagegen wehre ich mich. Nennen Sie es Trotz.

Sie können die Uhr nicht zurückstellen.

Ich weiß, dass ich ein Bergsteiger des dritten Jahrtausends bin. Meine Welt ist eigentlich ausgeleuchtet, da gibt es keine Geheimnisse mehr. Dennoch kann ich Wege auf die Berge finden, die sehr hart und schwierig sind und dieselbe Ausdauer und mentale Strenge erfordern, wie sie die klassischen Pioniere aufbrachten. Das ist, ich gebe es zu, ein romantischer Blick auf das Abenteurertum. Ich kehre in die Vorzeit zurück, während ich in der Gegenwart bleibe.

Was genau macht es im Winter so schwierig?

Die Verhältnisse sind einfach unmenschlich. Auf den Berg treffen Winde von bis zu 200 Stundenkilometern. In einem Zelt ausharren zu wollen, würde einen schlicht über den Grat blasen. Das Einzige, was Schutz böte, wäre eine Schneehöhle, die ich graben müsste. Aber dafür ist der Untergrund zu stark vereist. Schon im Basislager zu überleben, ist heikel, weil man wochenlang auf eine Besserung des Wetters wartet und die Muskeln ganz lahm werden.

Dann ist der Gipfelerfolg eine Frage des Glücks?

Naja, alles in allem habe ich 45 Monate bei Temperaturen zwischen minus 20 und minus 50 Grad verbracht. Das ist viel Zeit, wenn man bedenkt, wie schnell man sich Erfrierungen an Zehen und Fingern holen kann. Ich hab’s vermeiden können. Meine Strategie ist, mir selbst genug Zeit zu geben, um mein Ego mit meinen Träume zu verbinden und mehr und mehr von ihnen zu verwirklichen. Viele Bergsteiger kommen nur um, weil sie den Rückzug von einem Berg zu spät beschließen.

Aber das weiß man doch vorher nicht.

Es gibt eine Dokumentation von „National Geographic“, die ich sehr mag. Darin ist zu sehen, wie sich ein hungriger Löwe an Gazellen heranpirscht. Für mich ist der Löwe eine Metapher für Gefahr. Wir sind die Gazellen. Es ist schön zu sehen, wie manche Gazellen zu grasen aufhören. Sie können den Löwen nicht sehen, vermutlich nicht mal riechen. Aber sie heben den Kopf, weil irgendetwas nicht stimmt, schnuppern, horchen – und flüchten. Andere fahren fort zu grasen. Und als sie den Löwen auf sich zukommen sehen, ist es zu spät. Dasselbe passiert in den Bergen. Du bist in Gefahr, bevor du sie siehst.

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Können Sie diesen Überlebensinstinkt ebenso trainieren wie Ihre Muskeln?

Aus diesem Grund habe ich Tamara Lunger zu meiner Seilpartnerin gemacht. Ihr „Motor“ war stark, aber sie brauchte einen Lehrer, der ihr die Regeln der Wildnis nahe brachte. Mein früherer Seilpartner Anatoli Bukrejewhat mir beigebracht: Du bist ein guter Bergsteiger, wenn du „ein Tier der Höhe“ wirst.

Vor zwei Jahren am Nanga Parbat sah es erst nicht gut für Sie beide aus. Sie gaben Ihre ursprüngliche Route auf, dann kam es zum Konflikt mit Teilen eines anderen Teams.

In dem Jahr wollten drei Teams auf den Nanga Parbat. Eins brach schon früh ab. Als wir unsere Pläne änderten und beschlossen, den Aufstieg über die Normalroute zu wagen, war nur einer aus der anderen Seilschaft nicht dafür. Er veranstaltete ein ziemlich unwürdiges Psychospielchen, als wollte er die Vereinigung von zwei so starken Seilschaften boykottieren. Vielleicht befürchtete er, konditionell nicht mithalten zu können.

Sie erreichten den Gipfel, Ihre Seilpartnerin nicht.

Tamara war einem historischen Rekord so nah, hätte die erste Frau sein können, die einen Achttausender im Winter bestieg. Aber sie machte 70 Meter unterhalb des Gipfels kehrt. Diese Leistung erfüllt mich mit mehr Stolz als alles, was sie sonst vollbracht hat.

Sie können nur noch ein paar Jahre auf Spitzenniveau arbeiten – was kommt danach?

Ich bin vorbereitet. Schon 2009 habe ich begonnen, meine Ausbildung als Hubschrauberpilot voranzutreiben. Ich habe mir eine Maschine gekauft, um Rettungseinsätze in großer Höhe zu fliegen. Das ist ein Riesenspaß für mich. Ich will später eine ebenso spannende Aufgabe haben, bei der ich von meinem Wissen um das Gelände und meinem Mut profitieren kann.

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