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Sommer 2017. Das Wahrzeichen, die Kugelbake, im Nacken, den Regen im Gesicht. Regen? Den gab’s hier früher nicht.

© privat

Ferien der Kindheit: Warum Cuxhaven auch bei Regen glücklich macht

"Wattwandern" nannten es die Erwachsenen, „nervig“ wir Kinder. 30 Jahre nach dem letzten Besuch hier stehe ich im Starkregen. Es ist grau, es bläst ein Sturm, es ist kalt. Hallo? Cuxhaven? Na toll.

Im Grunde ist es eine Zumutung. Da fährt man ans Meer, doch ob es auch da sein wird, ist nicht sicher. Es ist wie ein Alpenurlaub ohne Garantie darauf, dass die Berge anwesend sind. Das würde doch niemand buchen! Aber wir buchten ja nicht.

Die Fahrt ans Meer war die Fahrt zur Oma. Und die wohnte nun mal da, wo Gezeiten herrschen: in Cuxhaven, wo man sich bei Ebbe die Füße platt latscht, bis man Wasser auch nur bis zum Knöchel spürt. „Wattwandern“ nannten das die Erwachsenen und „nervig“ wir Kinder.

Wie viele Sommerferien wir am Meer und trotzdem auf dem Trockenen verbracht haben? Viele. Fotos zeigen meine Schwester und mich als Kleinkinder, Grundschulkinder und Teenager, und das mehr oder weniger in denselben Posen: mit Schaufel und Sandburg, mit Eis, auf Handtüchern in der Sonne liegend. „Wieder herrliches Wetter“, hat unsere Mutter einmal ins Album notiert. Das war wahrscheinlich mitentscheidend für mein rundum positives Cuxhavenbild: Sommer, Sonne und warm. Ein Schirm in Cuxhaven? Wozu denn?

Und so stehe ich nahezu schutzlos im Starkregen, als ich Anfang Juli 2017, gut 30 Jahre nach dem letzten Besuch bei der Oma, den Strand von Cuxhaven wiedersehe. Es ist grau, es bläst ein Sturm, es ist kalt. Hallo? Cuxhaven? Na toll.

Das Einzige, was stimmt: Das Wasser ist weg

Nicht die erste Enttäuschung. Am Deich riecht es auch nicht wie erwartet nach Salzwasser, und es stehen dort hässliche Apartment-Hochhäuser, an die ich mich nicht erinnere, quasi Berlin-Gropiusstadt am Meer. Das Open-Air-Trampolincenter, in dem meine Schwester sich mal einen Arm gebrochen hat und das es tatsächlich noch gibt, ist geschlossen. Und in der kleinen Kurmuschel direkt hinterm Deich spielt eine Band aus Brandenburg Hits von Helene Fischer und von den Puhdys. Das Einzige, was stimmt: Das Wasser ist weg.

Sommer 1970. Unsere Autorin (mit Gießkanne) und ihre Schwester am Strand. Damals schien immer die Sonne.
Sommer 1970. Unsere Autorin (mit Gießkanne) und ihre Schwester am Strand. Damals schien immer die Sonne.

© privat

Auf der Gezeitentafel an der Strandpromenade stehen die Uhrzeiten für Ebbe und Flut. Das Niedrigwasser ist demnach gerade vorbei, die Nordsee wird nun langsam zurückkehren, Zeit genug, ich stapfe los. Rein ins Unesco-Weltnaturerbe, das ist das Watt inzwischen. Braun wellt es sich dahin, so weit man schauen kann, und das ist nicht weit. Land, See und Himmel haben sich in einem Schleier ineinander aufgelöst. Ein paar Krebskadaver liegen bleich herum, keine Quallenreste, die wir uns früher kreischend hinterher geschmissen haben, kaum Muscheln, an denen man sich die Füße aufgeschlitzt hat.

Aber Wattwürmer. Immerhin. Die kringeligen Hügel, die ihre Ausscheidungen sind, türmen sich überall. Wir haben sie früher mit den Zehen eingedrückt. Ich tippe einen Hügel an. Er gibt nach. Ansonsten ist der Wattboden knallhart.

Ich werde ziemlich nass, und mir wird kalt, ich kehre um. Am Strand ist nichts los. Lauter verrammelte Strandkörbe. Zwei hartgesottene Senioren rasen, regenfest verpackt und über ihre E-Bikes gebeugt, auf dem Deich entlang.

Früher gab es das dauernde Etwas-zu-Essen-oder-Trinken-holen nicht

Ich gehe in das nächstgelegene Lokal, in dem es nach feuchtem Linoleum riecht. Die Kellnerin lehnt mit zwei Gästen am Zapfhahn, es gibt Haake Becks. „Ja, das ist Haake Becks, das ist unser Bier!“, klingt der alte Werbehit in meinen Ohren. Hinter den weiter entfernten Sitzen sind Klingelschilder an der Wand. „Bedienung“ steht darauf. Und darunter „Defekt“. Ich setze mich.

Man könnte mit Fug und Recht sagen, dass der Laden einer in bester Lage sei. Direkt hinterm Deich, ein Shop mit Strandlaken und Sonnencreme gleich nebenan, die zentrale Straße mit Parkmöglichkeiten dahinter – und da bieten sie einem dann so etwas? Ist das bekloppt oder fantastisch?

Die Kellnerin kommt trotz „Defekt“ und verzieht keine Miene, als ich heißen Kakao ohne Sahne und Milchreis mit Zimt bestelle. Bier und Fischsuppe wären die bessere Wahl gewesen. Das verrät sie aber nicht. Es ist ihr auch egal, dass ich meine Bestellungen kaum anrühre. „Kann ich Ihnen sonst was Gutes tun?“, fragt sie, bevor sie den vollen Teller wieder wegträgt. Och, danke, lieber nicht.

Früher gab es das ohnehin nicht, dieses dauernde Etwas-zu-Essen-oder-Trinken-holen. Da gab es ein Eis an der Strandpromenade und ansonsten, was in der geblümten Kühlbox mit an den Strand geschleppt wurde. Was nie zu wenig war.

Alte Liebe, was für ein Name

Cuxhaven hat alles, was ein Urlaub an der See braucht: Sand, Strandkörbe, Fischbrötchen. Und am Horizont ziehen die großen Pötte hin und her.
Cuxhaven hat alles, was ein Urlaub an der See braucht: Sand, Strandkörbe, Fischbrötchen. Und am Horizont ziehen die großen Pötte hin und her.

© picture alliance / Ingo Wagner

Die Oma wohnte im Cuxhavener Hinterland mit Opa in einem Häuschen mit einem Obst- und Gemüsegarten, der Grund zum ständigen Streit war, weil er so viel Arbeit machte. Statt dass dort Omas Blumen wuchsen, lagen dort Opas Beete für Essbares und darin Unkraut, das permanent gezupft werden musste. Dank akribischer Pflege gab der Garten immer wieder Erbsen, Salat, Kohlrabi und Möhren her, also aus Kindersicht völlig überflüssiges Zeug, aber auch Kirschen, Erd- , Stachel- und Johannisbeeren, die süß oder sauer, auf jeden Fall lecker waren und aus denen Grütze gekocht wurde, die wir mit an den Strand nahmen. Außerdem selbst gemachte Vanillesoße, Plastikschalen und -besteck und Kuchen, Brote, Wasser und Saft.

Als ich daran in der Kaschemme meinem vollen Teller hinterherschauend denke, bekomme ich Hunger. Ich würde ein Fischbrötchen essen, irgendeine Bude würde schon offen haben. Ich fahre Richtung Hafen. Zur Alten Liebe, einem ehemaligen Schiffsanlegeplatz. Alte Liebe. Was für ein Name. Wie überhaupt die ganzen Cuxhavener Namen in meinen Ohren einen besonderen Klang haben. Ich höre noch, wie meine Oma sie aussprach. Alte Liebe. Duhnen und Döse, das wurde immer im Doppel gesagt, Sahlenburg. Interessieren sich andere Kinder für Landkarten? Uns war es egal. Duhnen, Döse, Sahlenburg, das waren die Ziele für den Tag, die unsere Mutter der Oma zurief, wenn sie uns ins Auto setzte. Es sind die drei Strände der Stadt. Mehr oder weniger alles dasselbe. Deich, Radweg, Promenade, Strand, Meer (oder Watt), Fahrrinne. In der ziehen sie bis heute hin und her: die Pötte, wie die großen Schiffe von fast allen genannt wurden. Und sie zogen und ziehen die Blicke mit sich. Schiffen hinterher- oder entgegenzuschauen ist in Cuxhaven eine beliebte Sache.

Der Sand ist glatt, das war damals anders

Eine Fischbrötchenbude am Hafen hat geöffnet. Neben ihr steht eine Möwe. Ich bestelle ein Matjesbrötchen. Die Möwe humpelt auf mich zu. Die Mitleidsnummer?, frage ich den Fischmann. Die habe einen schlimmen Fuß, sagt er. Wir schauen auf den Vogel, der schaut zu uns. Es gebe auch eine andere Möwe, die hier Station mache. Die warte nicht groß darauf, dass man ihr etwas abgebe, „die hackt Ihnen ins Bein.“ Hähä, er lacht. „Wir nennen sie die Trump-Möwe.“

Beliebter Snack. Fischbrötchen gehört zu einem Seeurlaub dazu.
Beliebter Snack. Fischbrötchen gehört zu einem Seeurlaub dazu.

© mauritius images/Thomas Hellmann

Der Regen hat nachgelassen, ich starte einen Spaziergang. Auf dem Deich, Richtung Kugelbake. Noch so ein Wort. Die Kugelbake ist das Wahrzeichen von Cuxhaven, ein Holzbau, der Seeleuten das Land anzeigte. Sie steht immer noch am selben Fleck, in der neuen GPS-Welt funktionslos, aber gut in Schuss. Eine Überlebende vergangener Zeiten. So kommt mir irgendwie die ganze Stadt vor, was natürlich Unsinn ist, was hätte sie schon überlebt? Aber es geht so etwas Wackeres von ihr aus, etwas Sympathisch-Bescheidenes. Vielleicht, weil Salzwasser und Wind alles Falsche und Übertriebene weggeschmirgelt haben.

Von der Kugelbake blicke ich den Strand entlang, der vielen Strandkörben Platz bietet, um die ganz offenbar nicht mehr reflexhaft Sandburgen aufgehäuft werden. Der Sand ist glatt. Das war damals anders: Kaum hatte man seinen Strandkorb für die nächsten Wochen gemietet, wurde zur Schaufel gegriffen und eine Burg drumherum aufgehäuft. Und weil das fast alle so machten, wirkten Strandkorbmieter ohne Burg irgendwie seltsam, so unbehaust.

Omas Häuschen steht noch

Wahrzeichen. Der Hamburger Leuchtturm in Cuxhaven.
Wahrzeichen. Der Hamburger Leuchtturm in Cuxhaven.

© Alamy Stock Photo

Ich marschiere eine Weile, atme tief, das wurde uns immer angeraten: Kinder, atmet mal tief ein, diese gute Luft! Dann drehe ich um. Ich habe den Strand gesehen, an dem ich so viele Urlaube verbracht habe, und es hat sich angefühlt wie immer. Vertraut, wie einem alte Schulkameraden vertraut sind, wenn man sie 30 Jahre später wieder trifft.

Cuxhaven bot für meine Schwester und mich nicht nur den Strand als Attraktion. Es gab noch einen Bauernhof am Ende der Straße, in der die Oma wohnte. Oft wurden wir abends mit einer Blechkanne losgeschickt, damit wir frisch gemolkene Milch von dort holten. Und iiih, fanden wir die scheußlich, so fettig. Aber wir mochten ja auch den mit einem lärmenden Entsafter aus den Gartenmöhren gequetschten Saft nicht. Was würde man für all das heute geben? Heute existiert das nicht mehr. Und nicht nur das! Der ganze Bauernhof ist weg. Sogar das Ende von Omas Straße.

Wo die früher endete, ist heute eine breite neue Zufahrt zu einem Industriegebiet und Einkaufscenterareal. Elektrofachfirmen, Kfz-Betriebe, Supermarkt mit Shoppingmeile. Verwirrt kurve ich herum und hoffe, irgendwo noch einen Weg zum Bauernhof zu finden. Erfolglos. Wie schade! Aber immerhin: Omas Häuschen steht noch.

Das etwas vorstehende Dach erkenne ich sofort. Es hängen auch Gazevorhänge an den Fenstern und sogar die steinerne Blumenschale im Vorgarten ist noch dieselbe wie die auf den Schwarz-Weiß-Fotos meiner Kindheit.

Wo einst der Gemüsegarten war, ist heute eine Spielwiese

An der Haustürklingel steht ein Doppelname. Ich drücke drauf und höre nichts. Ich drücke noch mal. Die Tür geht einen Spalt breit auf. Eine junge Frau schaut mich von der Treppe an, die gleich hinter der Tür nach oben führt, wo die Schlafzimmer waren. Schlafzimmer mit schrägen Wänden, an denen wir eine Million Mücken plattgehauen haben. Mit Betten, deren Decken so dick waren, dass man manchmal meinte, darunter zu ersticken.

„Meine Oma hat hier früher gewohnt“, sage ich. Die junge Frau schaut fragend. Damals sei hinten ein Gemüsegarten gewesen. Ob ich den mal anschauen dürfte? Gemüsegarten? Nein, den gebe es nicht, sagt die Frau, habe es nie gegeben, und sie wohne hier jetzt schon seit sechs Jahren. Ich schaue am Haus vorbei. Ein Rasen ist da und darauf ein Plastikgerüst für Kinder mit Schaukel und Rutsche, sonst nichts. Ob denn hinten am Garten immer noch der kleine Kanal sei, frage ich. Aus dem seien früher an lauen Abenden die Kröten hochgekommen. Kanal? Die junge Frau zuckt mit den Achseln. Das wisse sie nicht, ob da ein Kanal sei. Ich danke und verabschiede mich.

In dem Hotel in Cuxhaven-Altenwalde, in dem ich bei meinem Besuch übernachte, erzählen die Wirtsleute, dass sie seit 15 Jahren hier seien und nie einen Bauernhof dort gesehen hätten, wo ich ihn früher gekannt habe. Sie erzählen von dem Cuxliner, einer Hop-on-hop-off-Buslinie, die durch Cuxhaven fahre, aber leider nicht zu ihnen, von den vielen E-Bike-Senioren, die eine neue Touristengruppe in der Stadt seien, und davon, dass auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz in der Nähe heute Wisente zu besichtigen seien.

Wisente, die fast schon ausgestorbene Wildrinderart. Die leben heute also in Cuxhaven. Das finde ich auch schön.

Tipps für Cuxhaven

HINKOMMEN

Mit der Bahn dauert die Reise vier Stunden und 30 Minuten, Normalpreis 95 €. Mit dem Flixbus ist man in knapp sieben Stunden dort (ab ca. 25 €).

UNTERKOMMEN

Cuxhaven hat viele Hotels, die meisten in Strandnähe, etwa das Hotel Strandperle (strandperle-hotels.de) oder das Moin Hotel Cuxhaven (moin.info). Fünf Kilometer landeinwärts gibt es unter anderem das Hotel Neuses, in dem man dann näher an den Wisenten ist (hotel-neuses.de).

HERUMKOMMEN

Wattwandern ist Pflicht – hier geht es sogar ohne Wandern: im Pferdewagen. Über die organisierten Angebote informiert die Stadt (tourismus.cuxhaven.de). Informationen bietet das Wattenmeer-Besucherzentrum, Nordheimstraße 200, 24746 Cuxhaven. Außerdem (nicht nur) für Regentage vor Ort: das Wellenbad im Thalassozentrum Ahoi.

ESSEN

Fischbrötchen. Gibt es an zahllosen Buden (Obacht vor der Trump-Möwe).

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